Den Feinden des Völkerrechts widerstehen

Zum Thema
Karikatur zum Internationalen Strafgerichtshof: Vor dem Richterkollegium steht ein leerer, von zwei Uniformierten bewachter Stuhl mit einem Schild "Auf Dienstreise".
Wolfgang Ammer
Völker(straf)recht
Die Streitbeilegung zwischen Staaten und der Schutz der Menschenrechte mit Hilfe internationaler Gerichte ist ein zivilisatorischer Fortschritt. Wer ihn erhalten will, darf bei der Anwendung des Rechts nicht mit zweierlei Maß messen.

Als 1998 in Rom das Statut für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) angenommen wurde, seien, so heißt es, die sonst so kühlen Diplomaten in Euphorie verfallen und hätten einander umarmt. Als Zeichen eines weltweiten Umdenkens apostrophiert, hielt die Zustimmung zum geplanten Weltstrafgerichtshof zunächst an und überraschte selbst kühne Optimisten. Bereits im Frühjahr 2002 war die erforderliche Zahl von 60 Ratifikationen überschritten, der IStGH konnte seine Arbeit aufnehmen. Auch die USA und Russland wollten nicht abseitsstehen. Beide hatten das Statut unterzeichnet, also ihren Beitrittswillen dokumentiert.

Daraus ist nichts geworden. Die USA wie Russland haben 2002 und 2016 ihre Unterschriften zurückgezogen. Die Zahl der Staaten, die den IStGH anerkennen, stagniert seit Jahren. Indien und China, wo große Teile der Weltbevölkerung leben, erwägen den Beitritt nicht einmal ernsthaft. Nehmen wir dann noch die jüngsten Sanktionsdrohungen des neuen US-Präsidenten Donald Trump gegen den Gerichtshof, die in Ländern wie Israel, Ruanda oder Russland auf offene oder klammheimliche Freude zu stoßen scheinen, dann kommen wir um die Folgerung nicht herum: Um den Gedanken des Völkerstrafrechts ist es derzeit nicht gut bestellt. Ein schöner Traum, der immer wieder jäh von machtpolitischen Realitäten unterbrochen wird. Das Gleiche widerfährt dem Internationalen Gerichtshof (IGH), wenn er sich mit Sachverhalten befasst oder Entscheidungen trifft, die sensible Bereiche einzelstaatlicher Souveränität betreffen. So akzeptierten die USA 1986 die Verurteilung ihrer Interventionen in Nicaragua nicht, weil der Gerichtshof damit angeblich seine Zuständigkeitsgrenzen überschritten habe. 

Wie lässt sich der Bedeutungsverlust des Völker(straf)rechts erklären? Und, wichtiger noch, was kann und soll dagegen unternommen werden?

Politischer Realismus und die Theorie des Idealismus

Wer nach Antworten auf die erste Frage sucht, stößt schnell auf die Theorie des politischen Realismus. Für sie ist der Gedanke universeller, verpflichtender Werte letztlich nichts als weltfremde Träumerei. Die Rechtsgleichheit zwischen den Staaten sei ein Trugbild; um des Friedens und der Sicherheit willen müssten rechtliche Grenzen bisweilen überschritten werden. Anders sei Macht nicht zu erhalten; Rechtstreue bedeute für Staaten die Schwächung der eigenen Position, wenn geopolitische Interessen auf dem Spiel stünden. Mit anderen Worten: Völkerrecht und Völkerstrafrecht besäßen so lange Gültigkeit, wie sie anderen Fesseln anlegten. Ad-hoc-Strafgerichte wie die für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien oder den Völkermord in Ruanda könnten eingesetzt werden, nicht aber eine Justiz mit universellem Anspruch.

Autor

Gerd Hankel

ist Völkerrechtler und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.

Dieser Theorie entgegengesetzt ist die Theorie des Idealismus. Schon Immanuel Kant sah es in seinem philosophischen Entwurf „Zum ewigen Frieden“ als Ausprägung eines Weltbürgerrechts an, dass in einem künftigen Idealzustand eine Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird. Ein erster Schritt dazu war die Charta der Vereinten Nationen von 1945 mit ihrem Schwerpunkt auf der Achtung elementarer Menschenrechte und wirtschaftlicher Entwicklung als Garanten für Stabilität und Frieden. Weitere größere Schritte folgten, etwa die Ausformulierung der Menschenrechte, die es einzelnen Menschen teilweise ermöglicht, unter dem Völkerrecht Rechte einzufordern, und die Herausbildung des humanitären Völkerrechts, das Menschen auch in Kriegen grundlegende Schutzrechte gibt. Universelle Werte erlangten zunehmend Bedeutung und es lag nahe, sie zu schützen – idealerweise durch eine permanente, für alle geltende internationale Strafjustiz sowie durch ein Gericht, das für Streit zwischen Staaten zuständig sein sollte, den 1945 gegründeten IGH. 

Was bei Charles Taylor recht war, müsste bei Paul Kagame billig sein

Es liegt auf der Hand, dass es zwischen beiden Theorien allenfalls eine begrenzte Annäherung geben kann. Und das Gefährliche dabei ist: Politische Realisten können eine teilweise Nutzung des Völkerrechts als strategisches Kalkül verkaufen, während dort, wo Werte im Vordergrund stehen, das als Opportunismus oder Verrat empfunden wird. Wenn Deutschland, Frankreich oder Großbritannien, die sich allesamt als völkerrechtsfreundlich verstehen, den seit mehr als drei Jahren andauernden Krieg Ruandas im Ostkongo gar nicht oder nur sehr zurückhaltend kritisieren, beschädigt das ihren Ruf in der Region. Tausende Tote, Gefolterte, Vergewaltigte und über eine Million Vertriebene rufen nach einer unzweideutigen Reaktion. Was bei Charles Taylor recht war – er wurde 2012 von einem internationalen Tribunal zu einer hohen Freiheitsstrafe verurteilt, weil er als liberianischer Präsident den Krieg von Liberia nach Sierra Leone getragen hatte –, müsste beim ruandischen Staatspräsidenten Paul Kagame billig sein.

Wenn westliche Staaten ein Sondertribunal zur Aburteilung von Wladimir Putin und seiner Komplizen wegen des Aggressionskriegs gegen die Ukraine fordern, ist das an sich eine gute Idee, weil so eine Strafbarkeitslücke geschlossen werden kann. Dabei aber nicht den Angriff der USA und ihrer Koalition der Willigen 2003 auf den Irak zu thematisieren, bestätigt erneut die Vermutung einer selektiven Wahrnehmung von Unrecht. Im globalen Süden wird aus dieser Vermutung im Nu Gewissheit, und es ist jetzt schon absehbar, dass die Zustimmung zum Projekt Sondertribunal für den Aggressionskrieg bescheiden sein wird.

Zentral für eine internationale Justiz: ihre Legitimation

Damit ist angesprochen, was für eine möglichst weltumspannende internationale Justiz zentral ist: ihre Legitimation. Recht mit einem universellen Geltungsanspruch ist nicht teilbar. Es doch zu teilen, macht aus der internationalen Justiz eine Wohlfühleinrichtung für den globalen Norden und beschädigt erheblich die Idee, die im Herbst 1945 in Nürnberg ihren Anfang genommen hat. Schlimmstes Unrecht sollte geahndet werden, ungeachtet der Person, ihrer amtlichen Stellung, ihrer politischen Nähe oder Ferne zu anderen Staaten. 

Diesen Anspruch lösen der IGH und der IStGH ihren Statuten nach ein. Er verlangt von den Staaten, widerspruchsfrei zu handeln, besonders wenn Werte auf dem Spiel stehen, die alle betreffen. Handeln sie dann mit zweierlei Maß, diskreditieren sie das Recht und betreiben unwillkürlich das Geschäft der Gegenseite, der rechtliche Bindungen ein Gräuel sind. Das ist eigentlich unschwer zu erkennen, und angesichts des Rechtsfortschritts der letzten Jahrzehnte ist es beinahe ein Ärgernis, daran erinnern zu müssen. Niemand wäre wohl auf den Gedanken gekommen, den per Haftbefehl gesuchten Wladimir Putin oder afrikanische Politiker und Milizenführer, gegen die der IStGH ebenfalls Haftbefehle erlassen hat, zum offiziellen Besuch nach Deutschland einzuladen. Es hingegen beim israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ernsthaft zu erwägen, wie Friedrich Merz das tut, ist eine Steilvorlage für die Kritiker des IStGH. Es macht die den vermeintlichen Zwängen der Realpolitik gehorchende Seite nur noch stärker.

Eine Rezension des neuen Buches „Fernes Unrecht. Fremdes Leid“ von Gerd Hankel finden Sie hier.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2025: Der Gewalt entgegenwirken
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