Oft sind die Kirchenführer Syriens in den letzten Jahren für ihre Haltung gegenüber dem Regime von Baschar al-Assad kritisiert worden. Einige, wie der syrisch-orthodoxe Patriarch, sprachen sich deutlich für ihn aus, andere versuchten sich in neutraler Zurückhaltung. Keiner aber kritisierte Assad öffentlich für die Menschenrechtsverletzungen, für die Ausbeutung und die Bombardierung des eigenen Volks. Die Angst war groß, selbst in die Schusslinie zu geraten. „Lieber leben wir in einer säkularen Diktatur als in einer religiösen“, begründeten viele ihre Haltung. Nur wenige, vor allem junge Christen schlossen sich der Revolution an und landeten zum Teil in den Folterkerkern des Regimes.
Seit dem 8. Dezember ist Assad Vergangenheit, und Syrien hat eine Chance auf einen Neuanfang. Der geschieht allerdings unter der Kontrolle derer, vor denen sich Christen und andere Minderheiten all die Jahre gefürchtet haben. Mit der Hayat Tahrir ash-Sham (HTS) sind Menschen an die Macht gekommen, die zuvor in einer islamistischen Miliz nicht nur gegen Assad gekämpft, sondern auch wenig Rücksicht auf religiöse Minderheiten wie die Christen genommen hatten. Aus Idlib, das seit 2017 vollständig von der HTS kontrolliert wurde, sind so gut wie alle der vormals 10.000 Christen geflohen.
Schaffen es die neuen Machthaber nicht, Syriens multikulturelle und multireligiöse Identität zu stärken und die Kontrolle über alle Gebiete zu erlangen und zu halten, dann könnte es für religiöse Minderheiten noch enger werden als bisher. Viele sitzen auf gepackten Koffern, um denen aus ihren Familien zu folgen, die ihre syrische Heimat längst aufgegeben haben.
Jede Kirche hat ihre eigene Identität
Doch auch gegenseitig machen es sich die Kirchen nicht einfach. Denn so klein die Minderheit der Christen in Syrien heute noch ist – sie ist von vormals zehn Prozent der Bevölkerung (2011) auf schätzungsweise ein Prozent gesunken –, so vielfältig ist sie. Die wenigen Verbliebenen sind syrisch-orthodox, assyrisch, chaldäisch, maronitisch, melkitisch, armenisch, lateinisch oder evangelisch. Und jede Kirche hat ihre eigene Geschichte und Identität.
Wenn eine derart heterogene Minderheit unter Druck gerät, stellt sich schnell die Frage, wer für alle sprechen darf. Im kurdischen Nordosten Syriens, der einst auch christliches Siedlungsgebiet war, beansprucht das für sich jetzt offenbar der Assyrische Militärrat, eine Militärorganisation, dessen Mitglieder vor allem aus der syrisch-orthodoxen Kirche stammen. Ursprünglich war der Militärrat eine christliche Miliz, die sich im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) mit den kurdischen Kräften zusammenschloss und Teil der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) wurde. Dass Christen zur Waffe greifen, ist in den Kirchenleitungen und unter den Christen in Syrien hochumstritten.
Nun aber gehen Vertreter des Militärrats in die katholischen und protestantischen Schulen in der Stadt al-Hasaka und Umgebung und wollen sich in deren Verwaltung einmischen und den Lehrplänen ihren Stempel aufdrücken. Sie fordern, dass ihre Sprache – Syro-Aramäisch – zum Pflichtfach an allen christlichen Schulen wird. Das stößt bei den anderen Konfessionen auf Unmut und könnte zu Schwierigkeiten mit staatlichen Behörden führen . „Ich habe kein Problem damit, die alte und überlieferte Sprache zu unterrichten, solange dies unsere Schulgenehmigung des syrischen Bildungsministeriums nicht gefährdet“, sagt Mathilde Sabbagh von der evangelischen Kirche in al-Hasaka, die dort seit 1936 eine Schule unterhält. Heute besuchen 900 Kinder und Jugendliche die Schule, mehr als 80 Prozent von ihnen sind Muslime.
Streitpunkt Schulbildung
Schulbildung ist das zentrale Fundament, auf dem die evangelische und die katholische Präsenz in Syrien aufbaut. Sie schafft attraktive Arbeitsplätze für Lehrer und in der Verwaltung für Christen. Und über die Schulgelder generiert sie Einkommen, mit dem sich die Gemeindearbeit finanzieren lässt. In ganz Syrien sind christliche Schulen dafür bekannt, dass sie guten Unterricht ohne Indoktrination anbieten. Das macht sie auch für offene muslimische Familien attraktiv. „Wenn der Militärrat weiter seine Methoden und Lehrpläne durchdrücken will, werden Christen anderer Konfession wie die Katholiken und Protestanten ganz aus Syrien verschwinden, befürchtet Sabbagh.
Seit dem Krieg sind 80 Prozent ihrer Gemeindeglieder emigriert. Keine zehn evangelischen Familien gibt es noch in al-Hasaka und kaum eine besteht noch aus mehr als vier Personen, weil die anderen längst im Ausland leben. Trotzdem ist der evangelische Gottesdienst in der kleinen Kirche in al-Hasaka sehr gut besucht. Unter den Christen anderer Konfessionen hat sich offenbar herumgesprochen, dass es bei den Evangelischen ein bisschen lockerer und bunter zugeht. Rund hundert Kinder gehen regelmäßig in die evangelische Sonntagsschule, 80 Teenager besuchen die Jugendgruppen und 100 Frauen nehmen an den Frauentreffen teil.
Die Pfarrerin Mathilde Sabbagh ist die einzige Frau in Syrien in einem geistlichen Amt. 2022 wurde sie ordiniert, doch unter ihren Kollegen in den anderen Kirchen hat sie es schwer. Sie könnten nicht damit umgehen, dass eine Frau ein geistliches Amt bekleidet, sagt sie und spricht von bewusster Ausgrenzung. „Sie behaupten, ich würde ihre Kinder und all die anderen Leute bezahlen, dass sie zu uns kommen. Das ist lächerlich. Ich wäre froh, wenn ich so viel Geld hätte!“ Sabbagh befürchtet, dass es bald gar keine Christen mehr im Nordosten Syriens geben könnte. Unter den neuen Machthabern fühlten sie sich nicht sicher: „Ich habe den Eindruck, für uns Christen fängt der Krieg erst richtig an.“
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