Der Völkerrechtler Gerd Hankel bekräftigt in seinem Buch "Fernes Unrecht, Fremdes Leid" die Notwendigkeit internationalen Rechts und insbesondere eines Völkerstrafrechts, fragt aber auch, ob es überhaupt internationale Gerechtigkeit geben kann – und wer bestimmt, was Unrecht ist.
In diesem Buch betrachtet Gerd Hankel Recht, Moral und Gerechtigkeit mal philosophisch, mal geschichts- und rechtswissenschaftlich oder realpolitisch. Die Entdeckung der Menschlichkeit, etwa im Zuge der Abschaffung der Sklaverei, und die Idee eines international geltenden Rechts ist dabei für ihn Ausdruck zivilisatorischen Fortschritts, und sein Buch ist von der Hoffnung durchzogen, dass das Völkerrecht weitere Fortschritte machen wird.
Allerdings äußert er auch Skepsis und Besorgnis angesichts der aktuellen Weltlage. Eine neue Weltordnung im Geiste des Optimismus der 1990er Jahre, getragen von den Prinzipien und Vertragswerken des Völkerrechts, sei nach dem Kalten Krieg nicht entstanden, schreibt er. Das heute vorherrschende Klima sei eines des „multipolaren Misstrauens und offener Aggression“.
Die Bedeutung von Sprache
Ein Kapitel widmet Hankel, der nicht nur Völkerrechtler, sondern auch Sprachwissenschaftler ist, der Bedeutung von Sprache bei der Erfassung von Unrecht. Kraft der Vorstellung, die Begriffe freisetzten, könnten sie in Strafverfolgung münden. So wurde 1994 das Internationale Straftribunal für Ruanda vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als Reaktion auf die in Ruanda verübten Verbrechen geschaffen, für die sich der Begriff „Genozid“ durchgesetzt hat. Dieser Begriff verlange allerdings, so Hankel, eine eindeutige Zuweisung von Täter- und Opferidentitäten. Die Täter waren demnach die Hutu. Dass bei der gewaltsamen Befriedung des Landes die neuen Machthaber von der Ruandischen Patriotischen Front (RPF), zu der viele Tutsi gehörten, auch Zehntausende Hutu umgebracht wurden, sei ebenso außen vor geblieben wie die Rolle der RPF in dem Bürgerkrieg, der dem Massenmord vorausging.
Den Begriff „Genozid“ sieht Hankel dementsprechend sehr skeptisch. Und er kritisiert, dass durch die komplexitätsreduzierende Verwendung dieses Begriffs das nahezu vierjährige Gewaltgeschehen auf seine extreme Periode, den Völkermord von April bis Juli 1994, reduziert worden sei.
Rechtlich-moralische Unbedingtheit verhindert Annäherung
Schließlich ruft er generell zur Skepsis gegenüber der Wucht von Begriffen auf. Sie errichteten oftmals „eine Mauer, auf deren beiden Seiten Wahrheiten behauptet werden“. Die rechtlich-moralische Unbedingtheit, mit der auf der einen Seite agiert wird, rufe auf der anderen Seite Widerstand hervor, der seine Stärke ebenfalls aus rechtlichen und vor allem moralischen Argumenten beziehe. Eine Annäherung sei dann nicht möglich.
Unrecht umfassend statt in nur scheinbar eindeutigen Schwarz-Weiß-Kategorien wahrzunehmen und differenziert zu benennen – das ist etwas, das sich aus Hankels Buch mitnehmen ließe, vor allem mit Blick auf die gegenwärtigen Kriege, ob in der Ukraine, in Gaza oder im Sudan.
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