Mehr ist nicht gleich besser

Volkswirtschaftler Diefenbacher übt Kritik an Wachstums-Kommission
Volkswirtschaftler Diefenbacher übt Kritik an Wachstums-Kommission

(20.1.2013) Vielleicht sollte die Enquête-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ einmal ausnahmsweise in Peking tagen. Dann hätten die Wachstumsbefürworter unter den Abgeordneten und Sachverständigen einen unmittelbaren Eindruck davon, dass die drei Begriffe, die den Namen ihrer Kommission bilden, nicht zwangsläufig eine Einheit bilden. Denn während die chinesische Wirtschaft wächst, raubt der Smog den Menschen die Luft zu atmen.

In Deutschland ist die Luft zumindest vergleichsweise rein. Und dennoch stellt sich die Frage: Wie lässt sich wirtschaftliches Wachstum in Einklang bringen mit Wohlstand und Lebensqualität? Welche Wirtschaftspolitik ist dafür sinnvoll? Darüber sind sich Regierungskoalition und Opposition uneinig, wie die jüngste Sitzung der Kommission zeigte – auf dem Weg zu einem nachhaltigen Wohlstand streben sie in unterschiedliche Richtungen. Während die Union auf die „Anpassungsfähigkeit der sozialen Marktwirtschaft“ vertraut, fordert die SPD angesichts der Umweltzerstörung, der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich und der Finanzkrise einen neuen „sozialökologischen Regulierungsrahmen“ für die Wirtschaft. Kurz gesagt: Der gemeinsame Weg endet schon bei der Frage nach mehr oder weniger Staat. Das lässt sich im Jahr 2013 wohl vor allem mit Wahlkampf erklären.

Immerhin besteht ein parteiübergreifender Konsens, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) allein als quantitativer Gradmesser für Wohlstand und Lebensqualität nicht mehr taugt – hier sind Alternativen beziehungsweise ergänzende Faktoren gefragt. Zum Beispiel der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI), entwickelt von Roland Zieschank (Freie Universität Berlin) sowie von Hans Diefenbacher und Dorothee Rodenhäuser (Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft FEST). Dieser Index berücksichtigt – anders als das BIP – das Wohlergehen der Gesellschaft.

„Der Markt wird es schon richten - das halte ich für komplett falsch“

FEST-Wissenschaftler Diefenbacher erklärt dies im Gespräch mit „welt-sichten“ an einem Beispiel: „Es geht nicht um Verzicht und Einschränkung, etwa beim Besitz von Gütern. Es geht auch darum, dass wir die negativen Effekte für die Menschen und die Natur mit berücksichtigen müssen, die bei der Produktion und beim Konsum dieser Güter entstehen. Das kommt zum Teil im BIP nicht vor, hat aber viel mit Lebensqualität zu tun.“

Diefenbacher zeigte sich von der bisherigen Bilanz der Enquête-Kommission „enttäuscht“: Er habe sich von ihr „einen deutlichen Impuls für eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft mit langfristiger Perspektive erhofft“. Aber „es zeichnet sich ab, dass man sich teilweise auf überholte Positionen zurückzieht, wie zum Beispiel: Der Markt wird es schon richten. Das halte ich für komplett falsch.“ Trotzdem habe die Kommission auch einen „positiven Schub in der Breitenwirkung“ bewirkt, erklärt Diefenbacher: „Es befassen sich viel mehr Leute mit dem Thema als noch vor ein paar Jahren.“ Das Problem ist nur: Wenn alle das gleiche sagen, meinen sie noch lange nicht dasselbe.

„Wir müssen den Wachstumsdruck endlich aus der Ökonomie herausnehmen“, fordert Diefenbacher. Ob die Enquête-Kommission ihm doch noch folgt, ist offen. Im Mai soll sie ihren Endbericht vorlegen – deutlich vor der Bundestagswahl. (Tanja Kokoska)

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