Müssen wir uns vom wirtschaftlichen Wachstum verabschieden, Frau Kemfert?
Kemfert: Nein. Wir brauchen Wachstum, aber es muss nachhaltig sein. Wir stehen vor zwei großen Herausforderungen: der Knappheit von fossilen Energieträgern wie Öl und Gas und dem Klimawandel. Um ihnen zu begegnen, müssen wir unser Energie- und unser Mobilitätssystem nachhaltiger gestalten. Dafür brauchen wir neue Technologien und für die nötigen Investitionen brauchen wir Wachstum. Zugleich müssen wir eine energieeffiziente Wirtschaft entwickeln und den Energieverbrauch vom Wirtschaftswachstum entkoppeln. Wir müssen neue Technologien auf den Markt bringen. Der Markt könnte das Problem lösen, wenn wir geeignete Politiken und Regelungen hätten.
Jackson: Ich denke auch, dass wir Investitionen in den technologischen Übergang brauchen. Der Anteil der erneuerbaren Energien und die Energieeffizienz müssen steigen. Wir müssen den Energieverbrauch vom Wirtschaftswachstum abkoppeln. Aber die Geschichte zeigt, dass wir nicht einfach mit unseren bestehenden wirtschaftlichen Institutionen weitermachen und die Entkopplung mit Hilfe von Technologie schaffen können. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Energieeffizienz weltweit um 15 bis 30 Prozent zugenommen, aber im selben Zeitraum sind die Kohlendioxid-Emissionen um 40 Prozent gestiegen. Während unsere Wirtschaft wuchs und unser Wirtschaftssystem die Nachfrage nach Konsumgütern anheizte, wurden Einsparungen infolge des technischen Fortschritts immer von Mengenzuwächsen aufgezehrt. So lange wir die auf Wachstum beruhende Wirtschaft nicht auf den Prüfstand stellen, werden wir die nötige Transformation nicht erreichen.
Kemfert: Global gesehen sind die Emissionen gestiegen, da Länder wie China und Indien einen enormen wirtschaftlichen Nachholbedarf haben, das wird man ihnen kaum verbieten dürfen. Sie verwenden unsere alten fossilen Energietechniken, da die neuen nachhaltigen Technologien nicht marktreif sind. Leider haben wir es versäumt, rechtzeitig in sie zu investieren. Das müssen wir nun dringend nachholen. Nicht Wachstum ist das Problem, sondern Gier, Verschwendung und der Einsatz nicht nachhaltiger Technologien.
Geht es Ihnen nur um Wachstum in reichen Ländern, Herr Jackson?
Jackson: Mir geht es vor allem um den Weg, den die entwickelten Länder einschlagen müssen. Sind wir noch nicht reich genug? Wie erhöht sich das menschliche Wohlbefinden, wenn wir unsere Einkommen steigern? In den ärmsten Ländern kann man menschliche Entwicklung - eine höhere Lebenserwartung, eine geringe Kindersterblichkeit, Beteiligung und Bildung - stark voranbringen, wenn man die Einkommen erhöht.
Kemfert: Entwicklungsländer könnten enorm profitieren, wenn man ihnen die Möglichkeit gäbe, innovative und nachhaltige Technologien einzusetzen. Sie könnten mit Solarenergie die Energie- und Wasserversorgung sichern. Sie würden nicht nur finanziellen Wohlstand gewinnen, sondern auch Gesundheit und möglicherweise gesellschaftliche und politische Stabilität. Aber sie können das nicht allein schaffen, da die finanziellen Mittel fehlen. Die Industrienationen müssten gezielt in diese Techniken investieren.
Jackson: In den reichen Volkswirtschaften haben wir ein größeres Problem, eines des Systems. Sie beruhen auf Wachstum, das bedeutet einer Steigerung der Nachfrage nach Konsumgütern und Rohstoffen. Wir stehen vor einem Dilemma: Auf dem Niveau der westlichen Gesellschaften ist jede Form von Wachstum, das auf Ressourcenverbrauch beruht, nicht nachhaltig. Aber Wachstumsrücknahme führt zu Instabilität. Volkswirtschaften, die nicht wachsen, sind eine erschreckende Idee und wir wissen nicht, wie wir sie zum Funktionieren bringen. Aber wenn man möchte, dass 9 Milliarden Menschen Einkommen haben wie wir und die noch um zwei Prozent jährlich wachsen, dann braucht man außerordentliche technische Umwälzungen. Meine Frage ist aber nicht so sehr, ob das technisch möglich ist. Sie lautet, ob die erforderliche umfassende Transformation in unserer Gesellschaft und angesichts der Wachstumsdynamik möglich ist.
Kemfert: Wachstum muss nicht notwendigerweise nicht nachhaltig sein, im Gegenteil: Man muss durch gezielte Regulierung, Einbeziehung von Knappheiten und Umweltwirkungen ein nachhaltiges Wachstum erreichen. Das ist auch in unserem heutigen System möglich - gerade in Industrienationen mit einer ausgeprägten Information und Demokratie. Allerdings sind Politiker und oft auch die Gesellschaft extrem kurzsichtig und beachten zu wenig die Folgen für kommende Generationen. Einfach das Wachstum abzustellen, löst das Problem aber nicht. Man benötigt Bewegung, also Investitionen in nachhaltige Märkte. Sonst wird das System zusammenbrechen - wie ein Vogel abstürzt, der aufhört zu fliegen.
Jackson: Die Geschichte von Volkswirtschaften, deren Wachstum aufhörte, bietet ein gemischtes Bild. Manche sind zusammengebrochen, andere verzeichnen trotz stotternden Wachstums Fortschritte bei der menschlichen Entwicklung. Eine hat sogar die Indikatoren der menschlichen Entwicklung verbessert: Kuba.
Kemfert: Es gibt genug Beispiele von Ländern des ehemaligen Sozialismus, in denen es ohne Wachstum überhaupt nicht funktioniert hat.
Brauchen wir Wachstum, um Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern?
Jackson: Das ist der Kern des Dilemmas. Doch dass Wachstum mit Arbeitsplätzen gleichgesetzt wird, liegt an der speziellen Rolle der Produktivität in unseren Ökonomien. Wenn man die erhöht, tut man jedes Jahr mehr mit immer weniger Leuten. Das bringt technischen Fortschritt, verdrängt aber Menschen vom Arbeitsmarkt, wenn die Wirtschaft nicht wächst. Aus dieser Falle gibt es nur zwei Auswege. Der eine ist, zu akzeptieren, dass wir in einem neuen Wirtschaftssystem alle kürzer arbeiten - wir erhalten Produktivitätsgewinne in Form von Freizeit. Die andere Lösung ist, zu fragen, ob Produktivität immer gut ist. Es ist zum Beispiel bei Dienstleistungen schwierig, mehr Produktivität zu erreichen, denn die hängen von menschlicher Arbeit ab. Es ist nicht sinnvoll, Ärzte zu zwingen, mehr Patienten zu versorgen oder Lehrer, größere Klassen zu unterrichten.
Kemfert: Ich denke auch, dass Vollbeschäftigung langfristig kaum möglich sein wird. Aber technologischer Fortschritt und die Verbesserung der Arbeitsproduktivität haben ihre Grenzen. In den Industriestaaten arbeiten mehr und mehr Menschen in Dienstleistungsberufen, die neuen Medien haben viele neue Jobs geschaffen. Und Wohlstand ist deutlich mehr als nur Einkommen, Arbeitsplätze oder das Bruttoinlandsprodukt. Es geht um Umweltschutz, um wachsendes Glück und Gesundheit. Es gibt viele Indikatoren, wie man Wohlstand messen kann.
Der Schweizer Ökonom Hans Christoph Binswanger sagt, Marktwirtschaften müssen wachsen, weil Unternehmen Zinsen bezahlen müssen und diese in einer stagnierenden Ökonomie nicht erwirtschaften könnten. Ist das denn richtig?
Jackson: Das ist eine offene Frage. Ich habe kürzlich versucht, herauszufinden, ob eine stagnierende Wirtschaft bei Zinsraten über Null möglich ist. Es scheint, als sei das fast möglich, aber nicht ganz. Es bleibt ein Restwachstum von einem Bruchteil eines Prozentes. Je höher die Zinsrate ist, desto mehr Wachstum braucht man allerdings. Wenn manche Sektoren der Finanzwirtschaft Renditen von 15 bis 25 Prozent verlangen, kann man das in einer Wirtschaft, die zwischen zwei und drei Prozent wächst, nur erreichen, wenn man Reichtum bei einem bestimmten Teil der Bevölkerung anhäuft. Folgt man den Forderungen des Finanzsektors, dann erhält man entweder nicht nachhaltiges Wachstum oder mehr Ungleichheit. Eine schwierige Frage ist, wie hoch eine akzeptable Rendite ist. Wie bekommt man Finanzmärkte dazu, mit längerfristigen Investitionen und eher geringen Kapitalerträgen zu arbeiten?
Kemfert: Hohe Kapitalerträge fördern Maßlosigkeit und Gier und sind zumindest teilweise für die Wirtschaftskrise mitverantwortlich. Niedrige Zinsen haben den Vorteil, dass die Kredite insbesondere für nachhaltige Investitionen verbilligt würden, die man für den Umbau des Energiesystems benötigt. Allerdings reicht das allein nicht aus, denn private Firmen werden nur investieren, wenn Kapitalerträge vorhanden sind. Daher muss auch die öffentliche Hand mit entsprechenden Maßnahmen unterstützen.
Jackson: Laut einem neuen Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen ist „grünes Wachstum" schneller als „braunes". Ich denke, das ist ein Irrtum.
Kemfert: Wir sollten hier nicht zwischen „grün" und „braun" unterscheiden. Wenn man Windräder produzieren will, braucht man industrielle Komponenten. Der UNEP-Report schaut auf ganze Bereiche - nachhaltige Mobilität, grüne Städte, Energieeffizienz, Materialeffizienz, er hat zum Ziel, die gesamte Wirtschaft zu transformieren. Andernfalls unterscheidet man nur zwischen „gutem" und „schlechtem" Wachstum. Aber wir brauchen eine Wirtschaft, die die verschiedenen Güter bereitstellt.
Wie könnte eine nachhaltige Gesellschaft aussehen? Brauchen wir eine neue Form von Unternehmen?
Jackson: Die Basis für den Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft bilden zwei Dinge: Ökologische Investitionen und unterschiedliche Unternehmensformen. Wenn das Problem der Verbrauch von Rohstoffen ist - warum dann keine Transformation zu einer Gesellschaft mit Dienstleistungen als Wachstumsmotor? Für Dienste, die lokal angeboten werden, können Unternehmen so organisiert werden, dass die Erträge den Gemeinschaften zugute kommen. Sie verlangen nicht dieselbe Rendite wie die produzierende Wirtschaft der Vergangenheit. Aber sie bieten vielfältige Vorteile. Sie sorgen für lokale Beschäftigung. Sie verbrauchen weniger Rohstoffe und haben einen geringeren Kohlendioxid-Ausstoß. Sie tragen zum Wohlbefinden der Menschen bei, zu Gesundheit, Bildung, Sozialbetreuung.
Kemfert: Ich halte es für aussichtslos, dass wenig profitorientierte Unternehmen eine Gesellschaft und Wirtschaft wirklich tragfähig erhalten können. In der Vergangenheit hat man gesehen, dass es nicht funktioniert. Es geht darum, dass Unternehmen nachhaltig produzieren.
Ein Transformationsprozess wird auch Verlierer produzieren. Brauchen wir Mechanismen der Umverteilung, um soziale Ungleichheit abzubauen?
Jackson: Sobald man akzeptiert, dass der Ressourcenverbrauch Grenzen hat, muss man über Verteilung nachdenken. Die gewünschten Veränderungen kann man nur erreichen, wenn mehr soziale Gleichheit geschaffen wird. Die Nachfrage nach materiellen Gütern wird ja davon angetrieben, dass sie einen Status verleihen, und der beruht auf Ungleichheit. Keine Regierung kann die Menschen überzeugen, materiellen Konsum aufzugeben, so lange der einen so wichtigen Anteil daran hat, welchen Platz wir in der Gesellschaft einnehmen.
Kemfert: Unser jetziges System hat neben Problemen auch viele Chancen und positive Entwicklungen hervorgebracht. Der Welthandel hat vielen Ländern zu Wohlstand verholfen. Das reicht aber bisher nicht aus, sondern muss deutlich verbessert werden. Afrika beispielsweise könnte profitieren, wenn dort in Solarenergie investiert würde, das würde zudem die sozialen Ungleichgewichte reduzieren.
Jackson: Aber Technologietransfer wurde oft zum Nutzen der Investoren organisiert. Wir brauchen einen Technologietransfer, der dem Westen Nachteile bringt. Das würde die Erträge der westlichen Länder aus dem Technologietransfer verringern und zu niedrigeren Wachstumsraten in der entwickelten Welt führen.
Welche Rolle spielen große Konzerne? Sie finden möglicherweise Investitionen in grüne Technologien attraktiv, aber ein Ende des Wachstums wohl kaum.
Jackson: Große Konzerne gehen strategisch vor. Sie beginnen zu verstehen, dass eine Transformation von Geschäftsmodellen, Wertschöpfungsketten und Energiesystemen überlebenswichtig für sie ist. Ihr Modell mit seinem hohen Ressourcenverbrauch und den schädlichen ökologischen und sozialen Folgen wird nicht sehr viel länger zum Erfolg führen.
Kemfert: Es geht ja nicht darum, dass Unternehmen keine Gewinne machen sollen, sie sollen nachhaltig produzieren. Und das tun auch immer mehr von ihnen. Sobald sich Chancen für neue Märkte ergeben, werden Unternehmen investieren.
Jackson: Wir sollten das Wachstum sich selbst überlassen. Schafft Unternehmen, die wenig Kohlendioxid verursachen. Wenn Wachstum zurückkommt, ist das fantastisch. Aber wir sollten uns auf die Dinge konzentrieren, die wir wollen.
Wie sehen Sie die Rolle der Verbraucher?
Kemfert: Konsumenten haben eine große Macht. Wenn man in Deutschland sieht, dass mehr und mehr Ökostrom kaufen, können die Unternehmen profitieren. Durch gezielte politische Steuerung kann man Konsum auch lenken.
Jackson: Wir können von den Menschen nicht verlangen, dass sie nicht konsumieren. Aber Regierungen sind heute auf Menschen mit einem großen materiellen Appetit angewiesen, weil die das System aufrechterhalten. Wenn wir ein Wirtschaftssystem hätten, in dem das nicht länger notwendig wäre, wären andere Formen des Verhaltens denkbar. Man könnte dann erstens die perversen Anreize zum Konsumieren abbauen, die Regierungen systematisch aufgebaut haben. Zweitens sollten die Regierungen in die soziale Infrastruktur investieren, die es Menschen erlaubt, in einer weniger materialistischen Weise zu gedeihen.
In öffentliche Güter?
Jackson: Ja, in Bibliotheken, Parks, den öffentlichen Nahverkehr.
Kemfert: Um das zu bezahlen, braucht man ein öffentliches Einkommen aus Steuern.
Und dafür braucht man Wachstum?
Kemfert: Ja.
Jackson: Nicht unbedingt. Das hängt von der Rolle des öffentlichen Sektors ab. In den vergangenen 30, 40 Jahren hat sich der Staat zurückgezogen, und einen großen Teil seiner Einnahmen muss er zudem aufwenden, um für Risiken von Unternehmen zu haften. Genau das ist während der Finanzkrise passiert: Die Bevölkerung zahlt für die Risiken, die Banker eingegangen waren. Dieses Verhältnis von privatem Gewinn und öffentlichen Kosten wird mit dem Wirtschaftswachstum gerechtfertigt. Das ist Teil des Modells, das überprüft werden muss.
Das Gespräch führten Gesine Kauffmann und Bernd Ludermann.
Literaturtipp:
Tim Jackson
Wohlstand ohne Wachstum. Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt
Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung, Oekom-Verlag,
München 2011, 240 Seiten, 19,95 Euro
Der Ökonom Tim Jackson
ist Professor für nachhaltige Entwicklung an der Universität Surrey. Er leitet den Lenkungsausschuss für Wirtschaftsfragen der britischen Kommission für nachhaltige Entwicklung.
Claudia Kemfert
leitet die Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Sie ist Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit an der Hertie School of Governance in Berlin.
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