Vor vier Jahren ist das Ehepaar aus der südchinesischen Provinz Anhui nach Peking gekommen, ein Weltensprung von ihrem kleinen Bauerndorf direkt in die Metropole.„Aus unserem Ort sind schon viele Leute zur Arbeit in die Stadt gegangen, um in Fabriken oder als Kindermädchen zu arbeiten“,erzählt Zhu. Doch das gefiel dem Paar nicht. Sie wollten lieber selbstständig sein. So kamen sie auf die Idee mit dem Essensstand. Ihr Wettbewerbsvorteil: Zhu ist eine gute Köchin – und beide haben keine Angst vor mühsamer Arbeit. An guten Tagen machen sie bis zu hundert Yuan (12 Euro) Gewinn, und alle zwei Monate schicken sie einen Teil des Ersparten zurück in ihre Heimat, wo ihr Kind mit den Großeltern lebt. „Wir brauchen das Geld, um unseren Sohn einmal zur Schule schicken zu können“, erzählt Zhu. „Er soll einmal zu denen gehören, die bei Straßenhändlern wie uns einkaufen und dann in einem Büro arbeiten gehen.“
Autor
Bernhard Bartsch
ist Korrespondent in Peking und schreibt für mehrere deutschsprachige Zeitungen.Ihren Traum vom sozialen Aufstieg teilen sie mit Millionen anderen Chinesen – und für viele ist er bereits wahr geworden, weil sie gewagt haben, ihr Glück fernab ihrer vertrauten Heimat zu suchen. Zhu Xiaoyan und ihr Mann sind Teil einer Massenbewegung, die China von Grund auf verändert und die Volksrepublik innerhalb von drei Jahrzehnten von einem verarmten Drittweltland zur zweitgrößten Volkswirtschaft gemacht hat. Rund 200 Millionen Landbewohner haben ihr Leben im Dorf aufgegeben und sind in die urbanen Ballungszentren gezogen, um dort ihr Teil des modernen Wirtschaftslebens zu werden: als Bauarbeiter oder Fabrikangestellte, aber zunehmend auch als selbstständige Kleinunternehmer.
„Die Wanderarbeiter sind für das chinesische Wirtschaftsmodell zentral“, sagt Chen Xin, Direktor des Zentrums für Jugend- und Gesellschaftsstudien an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften.„Sie verbinden den reicheren mit dem ärmeren Teil unserer Bevölkerung und sorgen dafür, dass der Wohlstand allmählich auch ins Hinterland vordringt.“Es ist die Arbeitskraft der sogenannten „mobilen Bevölkerung“,die China zur Werkbank der Welt gemacht und dafür gesorgt hat, dass die Exportindustrie heute rund ein Drittel der chinesischen Volkswirtschaft antreibt. Ihr Einkommen ist die Lebensgrundlage für einen Großteil der chinesischen Landbewohner, die noch immer mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, aber von ihrer traditionellen Agrarwirtschaft nicht mehr leben können. „Chinas Zukunft wird maßgeblich davon abhängen, dass die Wanderarbeiter genug Geld verdienen, um die Kaufkraft ihrer Familien zu steigern und ihren Kindern eine gute Ausbildungen zu ermöglichen“,sagt Soziologe Chen.
Zhao Huaiwei ist aus der nordchinesischen Provinz Liaoning nach Peking gekommen. „Meine Eltern sind einfache Bauern“, sagt der 30-Jährige. Zhao besuchte die Mittelschule und ging danach zum Militär – eine Wahl, die viele junge Männer treffen. Doch dann merkte er, dass die wahren Möglichkeiten der chinesischen Entwicklung an ihm vorbeigingen.„Ich wollte mein eigener Chef sein“,erzählt er. So gab er seine sichere Existenz auf und zog nach Peking.„Ich habe mir überlegt, dass die Chinesen immer wohlhabender werden und jeder gut essen will“,erzählt er. „Deswegen bin ich Fleischhändler geworden.“
Der Traum vom Milliardär
Heute sitzt Zhao in seinem eigenen Geschäft, einer umgebauten Erdgeschosswohnung in einer Pekinger Mittelklassesiedlung. Durch die Fenster blickt er auf eine Zeile chinesischer Feuertopf-Lokale und koreanischer Grill-Restaurants.„Fast alles meine Kunden“,erklärt er. Auf seinem Schreibtisch stehen zwei Computer und in der Ecke Buddhafiguren, denen er Räucherstäbchen und Geldscheine geopfert hat. Über vier Tiefkühltruhen hängen eine Metzgerkarte mit Rindfleischschnitten und ein Fernseher, der Aufnahmen von verspielten Kälbern, kräftigen Bullen und weißhaarigen Wissenschaftlern zeigt – ein Werbefilm seines Lieferanten, einer bekannten chinesischen Fleischmarke. „Für Restaurants und Privatleute ist es ein guter Service, wenn sie für Fleisch nicht auf den Markt gehen müssen, sondern es geliefert bekommen“,erklärt Zhao sein Geschäftskonzept. Zwei Mitarbeiter tragen inzwischen für ihn Ware aus.
Natürlich träumt Zhao von mehr als einem kleinen Laden– und er hat berühmte Vorbilder, die es vom Wanderarbeiter zum Milliardär gebracht haben. Einer, dessen Namen in China jeder kennt, ist Zhang Ruimin, der Gründer von Chinas größtem Elektrogerätehersteller, Haier. Zhang wurde als Sohn von Fabrikarbeitern in der ostchinesischen Provinz Shandong geboren. Im Alter von 19 Jahren zog er in die Stadt Qingdao, wo er am Fließband eines Staatsbetriebes arbeitete und nach Feierabend Bücher verschlang. Mit seinem Wissen arbeitete er sich in der Hierarchie nach oben und wurde in den 1980er Jahren schließlich selbst Manager einer Kühlschrankfirma. Aufgrund seiner Herkunft hatte er ein gutes Gespür für die Konsumbedürfnisse der Massen und baute mit Haier schließlich einen Milliardenkonzern auf, der neben herkömmlichen Haushaltsgeräten auch Eigenentwicklungen vertreibt, etwa Waschmaschinen für Bauern, in denen sich neben Kleidung auch Gemüse oder Kartoffeln reinigen lassen.
Doch trotz solcher Erfolgsgeschichten sind die Wanderarbeiter nicht das liebste Aufschwungssymbol der Chinesen. Offiziell präsentiert sich das Land lieber mit der Großen Mauer und Shanghais schicker Skyline, mit den Olympischen Spielen oder der Weltausstellung. Vor allem bei den städtischen Eliten, die in Politik, Wirtschaft und Medien den Ton angeben, haben die Wanderarbeiter keinen guten Ruf. Sie gelten als billige Arbeitskräfte, die für nicht mehr zu gebrauchen sind als für anspruchslose Jobs in Fabriken oder auf Baustellen. Häufig werden sie als „Bauern“verspottet und für Probleme wie Kriminalität oder schlechte Hygienestandards verantwortlich gemacht. Tatsächlich leben viele von ihnen ohne offizielle Aufenthaltsgenehmigung, Arbeitserlaubnis, Anstellungsverträge oder soziale Absicherung. Doch das ist kaum ihre eigene Schuld. Von den städtischen Regierungen erhalten sie wenig Unterstützung. Eine effektive Interessenvertretung, sei es in Form von Gewerkschaften oder politischer Repräsentanten, gibt es nicht.
Nur 120 Euro Lohn im Monat
„Ich bin zweimal festgenommen und in meine Heimat zurückgeschickt worden, weil ich in Peking keine Aufenthaltsgenehmigung habe“, sagt Herr Ren, ein Bauarbeiter aus der Provinz Shaanxi. „Aber ich bin jedes Mal zurückgekommen.“Ren arbeitet auf einer Baustelle im Herzen der Hauptstadt. Seine Kollegen und er bauen die Holzverschalungen für den Stahlbeton eines neuen Pekinger Hochhauses. Der ehemalige Bauer kann nicht lesen und schreiben, doch er findet sich auch so zurecht. „Wir sind als Trupp aus meinem Heimatort gekommen und haben in unserer Gruppe Leute, die für uns das Organisatorische übernehmen“,erklärt er. „Wir haben sogar unseren eigenen Koch dabei.“
Umgerechnet 120 Euro verdienen die Bauarbeiter im Monat. Das ist etwa ein Viertel dessen, was durchschnittliche Stadtbewohner verdienen. Trotzdem ist auch dieser karge Lohn für sie noch Anreiz genug, um fernab der Heimat zu leben. Weil er für sich selbst fast kein Geld ausgibt, hat Ren in den vergangenen neun Jahren genug sparen können, um seiner Familie zuhause ein Haus bauen zu können, mit Ventilator, Fernseher und Kühlschrank.
Damit hat sich das Leben für Rens Familie zwar deutlich verbessert– doch der Erwartungsdruck nimmt ebenfalls zu. Obwohl die Regierung schon seit langem die Devise ausgibt, dass die Kluft zwischen Arm und Reich kleiner werden müsse, hat das Einkommensgefälle in den vergangenen Jahren nicht ab-, sondern zugenommen. „Die Gehälter für die Wanderarbeiter sind zwar gestiegen, aber die Lebenshaltungskosten haben sich ebenfalls erhöht, so dass sich die reale Situation für viele nicht verbessert hat“, sagt der Soziologe Chen. Nach einer Studie des chinesischen Gewerkschaftsbundes hat fast ein Viertel der chinesischen Arbeiter in den vergangenen Jahren keine Lohnerhöhung erhalten. Zwar hat die Regierung die Mindestlöhne angehoben, doch die Gesetze werden nicht unbedingt befolgt. Viele Arbeiter haben keine andere Wahl, als die schlechte Behandlung zu akzeptieren.
Allerdings sind die heutigen Wanderarbeiter dem Druck längst nicht mehr so hilflos ausgeliefert wie noch vor zehn Jahren. Ein Zeichen dafür ist die große Zahl von Protesten, Demonstrationen und Streiks. „Vor allem junge Arbeiter sind gut informiert und kennen ihre Rechte“, sagt der Arbeiteraktivist Liu Kaiming. „Sie scheuen sich nicht, einen höheren Lohn zu verlangen.“Auch Lee Chang-hee von der Internationalen Arbeitsorganisation in Peking sieht China an einem Wendepunkt: „Chinas Arbeiter beginnen, gemeinsam für ihre Löhne und Arbeitsbedingungen zu kämpfen.” In der Vergangenheit hätten sie nur demonstriert, wenn ihre Rechte stark verletzt worden seien, nicht um eigene Forderungen zu stellen. Doch nun beginnen sie, eigene Arbeitskämpfe auszufechten.
Zwar wollen die Arbeiter keine Revolution anzetteln, aber mit einem Leben knapp oberhalb der Armutsgrenze geben sie sich immer weniger zufrieden. Das gilt vor allem für die Jungen: Waren ihre Eltern noch dankbar für ein Leben ohne Hunger, Krieg oder Klassenkampf, so sind ihre Kinder von Chinas großen Aufstiegsträumen sozialisiert worden – von einem Land, das Wolkenkratzer baut und Menschen ins All schickt. Zwar geht es den Jungen schon heute besser als jeder chinesischen Generation vor ihnen. Doch sie wollen sich nicht damit abfinden, dass die schönsten Früchte des Fortschritts das Privileg einer kleinen Elite bleiben.
Viele Wanderarbeiter ziehen dennoch die Lehre, lieber ihr eigenes Geschäft aufzumachen. Auch den Eltern von Zhang Haixun ist dies gelungen. Mit einem kleinen Obststand in Peking haben sie es geschafft, ihrem Sohn erst die Mittelschule und dann eine Kochausbildung zu finanzieren. „Mit einem Abschluss wird man besser angesehen“, sagt der 20-Jährige, der seinen Eltern vor einem Jahr aus der Provinz Anhui in die Hauptstadt gefolgt ist. Doch Zhang ist ehrgeizig und will mehr als einen Job in einem Restaurant. Einen Verkaufsstand in der Stadt haben bereits seine Eltern – der Sohn möchte lieber ein eigenes Lokal oder ein richtiges Geschäft. Deshalb bildet er sich weiter. „Ich mache gerade einen Computerkurs und lerne Englisch“, erzählt er. „Das ist eine Voraussetzung, um in der modernen Welt etwas zu werden.“
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