Seit Beginn des Reform- und Öffnungsprozesses in China 1978 betrachtet die Regierung Wirtschaftswachstum als ihre vorrangige Aufgabe. Die Kommunistische Partei hat in den vergangenen 30 Jahren die rasante Zunahme des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und den steigenden Lebensstandard der Bevölkerung benutzt, um ihre Einparteienherrschaft zu legitimieren. Seit 1992 hat sich Wachstum zu einem Kriterium entwickelt, nach dem die Leistungen lokaler Funktionäre beurteilt werden und sogar über ihre Beförderungen entschieden wird. Die Wirtschaft wuchs von 1978 bis 2010 mit durchschnittlich 9,5 Prozent pro Jahr erstaunlich schnell. 2005 übertraf Chinas BIP das von Frankreich und Großbritannien, 2007 das von Deutschland und 2010 das von Japan. Man rechnet damit, dass China, der Exportweltmeister und die zweitgrößte Volkswirtschaft weltweit, die Vereinigten Staaten in zehn bis zwanzig Jahren beim BIP überholen wird.
Autor
Chen Gang
ist Politologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ostasien-Institut der National University of Singapore.Seit Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) im Dezember 2001 ist sein Export in andere Teile der Welt gewaltig gestiegen und hat das Land zur „Werkbank der Welt" für die verschiedensten arbeitsintensiven Produkte gemacht. Die wirtschaftliche Überhitzung hat die Umwelt stark belastet und dazu geführt, dass Strom und Rohstoffe knapp sind. Seit 2004 wird versucht, gegenzusteuern. Doch das konnte die Überhitzung nicht bremsen.
Der ökonomische Aufstieg Chinas in Verbindung mit dem beschleunigten Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozess des Landes bedeutet für seine eigenen und für die globalen ökologischen Systeme eine enorme Belastung. China hat heute von allen Ländern den größten Verbrauch an Energie, Stahl, Eisenerz, Aluminiumoxid, Kupfer, Kohle und Zement und die höchste Emission von Treibhausgasen. Seit langem ist man in China geteilter Meinung über die Umweltfolgen der WTO-Mitgliedschaft und der Handelsliberalisierung. Die einen betrachten freien Handel in erster Linie als Katalysator für Umweltverbesserungen. Die anderen sind der Meinung, dass Handelsliberalisierung und Umweltschutz einander ausschließen: Wenn die Industriestruktur und die Ressourcen eines Landes umweltbelastende Indu-strien begünstigten, könne es schädliche Folgen für die Umwelt haben, sich auf Produkte zu spezialisieren, bei denen man auf dem Weltmarkt einen Vorteil hat. Zudem fördere die Handelsliberalisierung die Absenkung von Umweltstandards, wenn Länder um ausländische Investitionen konkurrieren.
Chinas Beitritt zur WTO bedeutete, dass seine Importzölle wie die Zölle anderer WTO-Mitglieder auf Exporte aus China gesenkt sowie Ausfuhrsubventionen und Einfuhrquoten abgeschafft wurden. Außerdem wurden bestimmte Industriezweige für ausländische Investitionen geöffnet. Dies hat China ein unerwartet hohes Wirtschaftswachstum, einen beschleunigten Zuwachs an Spitzentechnologie und eine Verbesserung seines Rechtssystems beschert. Das alles hat dazu beigetragen, dass das Entwicklungsland Umweltprobleme besser angehen kann.
Entscheidend für die Umwelt sind jedoch die Größe der Wirtschaft und der Kurs, den sie einschlägt. Zwar hat China seit dem Beitritt zur WTO infolge strengerer Umweltstandards Fortschritte bei der Energie- und Rohstoffeffizienz erzielt. Aber die rasche Ausweitung der Produktion hat diese Verbesserungen zunichte gemacht. Von 1990 bis 2001 wuchs das Pro-Kopf-BIP um mehr als das Dreifache, während die Industrieabwässer um 19 Prozent zurückgingen und die Industrieabgase (ausgenommen CO2) um 33 Prozent sanken. Damals gelang es China mit dem breiten Einsatz von moderner Technik und dank der Konzentration auf die Leicht- und die Dienstleistungsindustrie, seine Umweltverschmutzung auf einem kontrollierbaren Niveau zu halten. Nach 2001 war das anders. Von 2001 bis 2005 wuchs Chinas Pro-Kopf-BIP um 63 Prozent; nun aber nahmen die Industrieabwässer, die Industrieabgase und der Industriemüll um 20, 68 beziehungsweise 51 Prozent zu.
Der Boom in Chinas Industrie, dem größten Nutznießer der Zollsenkungen, hat wesentlich zur Zunahme der Luft- und Wasserverschmutzung und der Verschlechterung der Bodenqualität beigetragen. Das rasante Exportwachstum hat die inländische Rohstoff- und Energieversorgung überstrapaziert und viele umweltschädigende Firmen gerettet, die nach den strengen Umweltbestimmungen eigentlich hätten geschlossen werden müssen.
Chinas Textilindustrie, die viel Wasser verbraucht und Chemikalien in die Umwelt entlässt, erlebte nach 2001 eine rapide Zunahme ihrer Ausfuhren. Wie in der Kohleindustrie florieren in der Textilindustrie kleine Unternehmen - sie stellen ungefähr 85 Prozent aller Produzenten von Baumwolltextilien. Die Regierung hat Schwierigkeiten, diese kleinen Unternehmen, deren technische Ausstattung häufig mangelhaft ist, zu reglementieren und zu überwachen. Es fehlt an Personal für den Umweltschutz in ländlichen Gebieten und der wirtschaftliche Druck ist groß, Projekte schnell zu genehmigen und Umweltfragen zu ignorieren. Um international wettbewerbsfähig zu sein und die Produktionskosten zu senken, suchen chinesische Textilhersteller ständig die Kosten für Löhne und Umweltschutz zu drücken. In Chinas Textilsektor ist die Abwassermenge pro Produkteinheit fast doppelt so hoch wie in entwickelten Ländern.
Die WTO-Mitgliedschaft erleichtert China auch die Suche nach billigen Rohstoffen im Ausland; auch das hat ökologische Folgen. Die Senkung der Zölle auf Holz und die Abschaffung der Kontingente haben es chinesischen Händlern ermöglicht, in Ländern mit mangelhaftem Waldmanagement wie Myanmar, Kambodscha, Indonesien und Russland zu sehr niedrigen Preisen riesige Mengen an Holz zu fällen und zu kaufen. So konnte China einen schnell steigenden Bedarf an Holzprodukten decken und hat sich zu einem wichtigen Standort der Möbelherstellung und Holzverarbeitung entwickelt. Chinesische Firmen sind auch auf der Suche nach anderen Rohstoffen und fossilen Brennstoffen in Afrika, Westasien, Südostasien, Australien und Südamerika. Im Zuge von Investitionen in Bergbau- und Ölförderfirmen dort können sich manche Umweltbedingungen in China verbessern, während die Wirtschaft weiter wächst. Aber die Unersättlichkeit der chinesischen Industrie und ihrer Kunden in den reichen Ländern verschlimmert die Umweltprobleme anderswo.
China ist nicht nur einer der größten Nutznießer der Globalisierung und Handelsliberalisierung, sondern dürfte auch ein Opfer ihrer Folgewirkungen sein. Eine der besorgniserregendsten ist der Klimawandel. Chinas Anteil am gesamten weltweiten CO2-Ausstoß aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe und der Zementherstellung lag 2009 bei 24 Prozent, 7 Prozentpunkte über dem Anteil der USA. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts haben sich Chinas CO2-Emissionen mehr als verdoppelt. Wenn dieser Trend anhält, könnte die Verringerung der Emissionen, zu denen die Industrieländer sich verpflichtet haben, allein vom Anstieg des Treibhausgasausstoßes in China wieder aufgehoben werden.
Aber China ist auch eins der ersten Opfer des Klimawandels. Seine durchschnittliche Jahres-Lufttemperatur ist in den vergangenen hundert Jahren um 0,5° bis 0,8°C gestiegen. Längere Dürreperioden im Norden und Überschwemmungen im Süden werden zu einem Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion führen, und wahrscheinlich wird das beschleunigte Abschmelzen der Gletscher im Hochland von Qinghai und Tibet den Wasserzufluss des Yangtse und des Gelben Flusses, der beiden längsten Flüsse Chinas, verringern. Der Anstieg des Meeresspiegels infolge der Erderwärmung ist in China höher als im globalen Durchschnitt. Das bedroht die Küstenstädte, die Wirtschaftsmotoren des Landes.
Die Luftverschmutzung gefährdet inzwischen die Gesundheit von 1,3 Milliarden Chinesen, vor allem in Stadtgebieten. In der Volksrepublik liegen 16 der 20 Städte mit der weltweit höchsten Luftverschmutzung; nur 1 Prozent der 600 Millionen Stadtbewohner des Landes atmen Luft, die in der Europäischen Union als unbedenklich eingestuft wird. Der Energieverbrauch, insbesondere der Kohleverbrauch, ist in den meisten chinesischen Großstädten die Hauptquelle von Schwefeldioxid und Stickoxiden in der Luft. Das schnelle Wachstum von Chinas Automobilsektor trägt ebenfalls zur Luftverschmutzung bei. 2010 wurden in China 18 Millionen Autos verkauft, mehr als die Summe der in den USA und Japan verkauften Autos zusammen.
Die Verschmutzung der Süßwasservorkommen hat sich zu einem der entscheidenden ökologischen Probleme entwickelt. Im ländlichen China haben ungefähr 300 Millionen Menschen keinen Zugang zu sicherem Trinkwasser. In einigen Teilen des Landes haben in den vergangenen Jahren häufig Wasserkrisen infolge der Verschmutzung Panik ausgelöst. Die Wasserverschmutzung reicht vom Oberflächen- bis zum Grundwasser. Laut einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua ist das Grundwasser in 90 Prozent der chinesischen Großstädte verschmutzt. Zwei Drittel der Landbevölkerung sind ohne Leitungswasser, was zu Durchfall und Krebserkrankungen des Verdauungssystems beiträgt. China gehört auch zu den Ländern mit den größten Wüsten: 110 Millionen Menschen sind dort unmittelbar von der Wüstenbildung betroffen, 2400 Quadratkilometer werden jedes Jahr zu Wüste.
Das wachsende Umweltbewusstsein im Land und mehr internationale Aufmerksamkeit sind der politische Preis, den die chinesische Regierung für das zweistellige Wirtschaftswachstum zu zahlen hat. Die Zahl der Proteste gegen Umweltverschmutzungen wächst. Von Mitte der 1980er Jahre bis 1997 gab es etwa 100.000 lokale Umweltkonflikte pro Jahr in China, aber nach 1997 begann diese Zahl dramatisch zu steigen bis auf ungefähr 600.000 im Jahr 2005.
Peking hat jetzt erkannt: Wenn das Umweltproblem nicht angemessen angegangen wird, können die Folgen so verheerend sein, dass sie jeglichen ökonomischen Gewinn zunichte machen. Chinas exportorientiertes Entwicklungsmodell ist ökologisch nicht nachhaltig. Drohende Wasserkrisen in Nordchina, der Anstieg der internationalen Preise für Öl, Kohle und andere Bodenschätze und auch eine mögliche CO2-Steuer gehören zu den wichtigen Faktoren, die in den nächsten Jahrzehnten das Wirtschaftswachstum hemmen können.
Zunehmende Umweltprobleme und die Gefährdung ihres internationalen Ansehens haben die Kommunistische Partei Chinas veranlasst, in ihrem politischen Bericht 2007 den Begriff „Bewahrungskultur" als einen neuen Aspekt des „umfassenden Aufbaus einer Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand" einzuführen. Seitdem wurde eine Reihe von neuen Richtlinien, wirtschaftlichen Anreizen und Hürden sowie institutionellen Änderungen lanciert, um die zu bestrafen, die gegen Umweltvorschriften verstoßen, und umweltfreundlichere Verfahren zu fördern. Als eine der wirksamsten Maßnahmen gilt, dass ökologische Kennzahlen in die Beurteilung von lokalen Beamten einfließen: Seit November 2007 wird die Arbeit von Provinzbehörden auch nach dem Energieverbrauch pro BIP-Einheit und der Reduzierung der wichtigsten Schadstoffe beurteilt.
Verschiedene strenge Maßnahmen zeigen Wirkung. Von 2006 bis 2010 haben sich einige wesentliche Indikatoren für Umweltschutz und Energieeffizienz deutlich verbessert. Im Lauf dieser fünf Jahre ging zum Beispiel die Belastung mit Schwefeldioxid um gut 14 Prozent zurück und die Energieintensität nahm um rund 19 Prozent ab.
Um vor dem Klimagipfel in Kopenhagen sein Image in der globalen Klimapolitik zu verbessern, erklärte China 2009, es wolle die CO2-Intensität - also die Kohlendioxid-Emissionen pro Einheit des BIP - bis 2020 um 40 bis 45 Prozent senken. Dieses Versprechen hängt eng mit dem langfristigem Ziel zusammen, die Energieintensität zu verringern, Energie effizienter zu nutzen und seine Industrie umzustrukturieren. Peking plant, den Anteil der erneuerbaren Energien am Primärenergieverbrauch von 7 Prozent im Jahr 2005 auf 15 Prozent im Jahr 2020 zu erhöhen; das soll 400 Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten an fossiler Energie ersetzen und den CO2-Ausstoß um eine Milliarde Tonnen, die Schwefeldioxid-Emissionen um mehr als sieben Millionen Tonnen senken. Ein bahnbrechendes Erneuerbare-Energien-Gesetz ist verabschiedet und revidiert worden, das neue Maßnahmen einführt ähnlich denen, die in einigen europäischen Ländern und den USA erfolgreich erneuerbare Energien gefördert haben - etwa Netzeinspeisetarife. Ferner wurde im Juni 2010 ein Pilotprogramm angekündigt, das mit fossilen Brennstoffen betriebene Fahrzeuge unattraktiver machen soll. So sollen erhebliche Zuschüsse für den Kauf von Elektroautos geboten und in fünf Großstädten eine Infrastruktur von Ladestationen finanziert werden.
Obwohl ausreichend Finanzen und modernste Ökotechnik bereitstehen, ist die chinesische Regierung beim Kampf gegen Umweltschäden immer noch frustriert. Sie sollte sich nicht zu sehr auf kurzfristige behördliche Anordnungen verlassen wie die Schließung umweltschädlicher Firmen oder die Sperrung von Verschmutzungsquellen. Statt dessen sollte sie ökonomische Anreize und Abschreckungsmaßnahmen gesetzlich festlegen. Angemessene Emissionsabgaben, Steuern auf Rohstoffe und Brennstoffe sowie eine Umweltsteuer könnten mehr bewirken als behördliche Verfügungen. Wichtig für den Umweltschutz ist auch eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung. In Chinas staatszentrierter Gesellschaft stellen nichtstaatliche Umweltorganisationen noch keinen wesentlichen Faktor dar und die Kontrollfunktion der Medien ist recht schwach.
China könnte eine der wirksamsten Strukturen weltweit für eine aufblühende Öko-Industrie schaffen. Wenn aber damit zu rechnen ist, dass Umweltverträglichkeitsziele das Wirtschaftswachstum verlangsamen, wird die Regierung zögern, sie zu verfolgen. Die Strategie „Wachstum zuerst" bleibt unverändert. Es ist unwahrscheinlich, dass China in naher Zukunft rechtsverbindliche CO2-Emissionsgrenzwerte akzeptiert, die das Wirtschaftswachstum verlangsamen könnten. Die Regierung hat zwar den Ernst der ökologischen Probleme erkannt. Doch dass sie Signale für die Grenzen des gegenwärtigen Entwicklungsmodells sind, das dem Wirtschaftswachstum absolute Priorität einräumt - das ignorieren Behörden von der zentralen bis zur lokalen Ebene immer noch gerne.
Aus dem Englischen von Elisabeth Steinweg-Fleckner.
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