Beschützer werden zur Gefahr
Die 30-jährige Jeanne wurde im Mai 2023 in Bangui, der Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik, von einem ruandischen UN-Blauhelmsoldaten vergewaltigt. Er gehörte zur MINUSCA, die 2014 eingesetzt wurde, um in den Kämpfen zwischen Milizen und Rebellengruppen in der Zentralafrikanischen Republik die Zivilbevölkerung zu schützen und das Land zu stabilisieren. Jeanne (alle Namen sind geändert) hatte dem Soldaten Obst und Gemüse verkauft und sollte mit zu seinem Stützpunkt kommen, damit er ihr das Geld geben könnte. „Während wir über die Bezahlung sprachen, hat er meine Brüste und meinen Po betatscht“, berichtet sie voller Scham. „Dann sagte er: ‚Du gehst nicht weg, du kommst mit mir.‘ Er legte eine Handgranate auf den Tisch und fügte noch hinzu: ‚Das heißt: Sex oder Tod.‘“
Noch unter dem Schock der Vergewaltigung wandte sich Jeanne an zwei ebenfalls ruandische Blauhelme am Eingang des Stützpunkts. Sie schilderte ihnen, was sie gerade erlebt hatte, und bat um Hilfe. Dafür erntete sie Gleichgültigkeit vom einen und ein Grinsen vom anderen. Diese Reaktionen machten sie fassungslos und entmutigten sie so sehr, dass sie keine offizielle Aussage machte. „Zum einen wusste ich nicht, an wen ich mich wenden sollte, zum anderen hatte ich auch einfach Angst“, berichtet Jeanne.
Autorin
Barbara Debout
ist Journalistin, unter anderem für The Economist, BBC und den Spiegel, und auf Zentralafrika spezialisiert. Im Oktober 2024 veröffentlichte sie für The New Humanitarian und Le Monde eine Untersuchung über sexuelle Gewalt von Blauhelmen in der Zentralafrikanischen Republik.Über ihre Vergewaltigung berichtete Jeanne schließlich gegenüber dem Genfer „The New Humanitarian“. Eine Recherche der journalistischen Plattform ergab im Oktober 2024, dass die von den Blauhelmen ausgehende sexualisierte Gewalt, zu der es seit 2014 in der Zentralafrikanischen Republik immer wieder gekommen war, nach wie vor an der Tagesordnung war. „The New Humanitarian“ hat die Aussagen von 19 Frauen, die angeben, von Soldaten der MINUSCA sexuell missbraucht worden zu sein; ihre Berichte werden von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern örtlicher NGOs und von Krankenakten bestätigt.
Die „Nulltoleranzpolitik“ zeigt wenig Wirkung
Die Frauen berichten von Gruppenvergewaltigung und von Vorfällen, bei denen UN-Soldaten sie mit dem Tod bedrohten, falls sie sich nicht fügten. Die meisten der geschilderten Übergriffe wurden in Provinzstädten begangen, aber mehrere auch in Bangui, wo die UN-Friedensmission ihren Sitz hat. Nach Auskunft der Frauen stammten die Angreifer aus Ruanda, Burundi, Kamerun und Mauretanien – aus Kontingenten, die schon mehrfach des sexuellen Missbrauchs in Zentralafrika beschuldigt worden waren und dennoch weiterhin an MINUSCA teilnahmen. Insgesamt wurden 36 Blauhelmsoldaten beschuldigt.
Sexueller Missbrauch seitens Blauhelmen ist nicht neu. Schon 2003 hat der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan deshalb eine „Nulltoleranzpolitik“ angekündigt. Nicht nur in der Zentralafrikanischen Republik, auch bei etlichen weiteren UN-Friedensmissionen ist es zu sexueller Ausbeutung und zu Vergewaltigungen gekommen, darunter in Haiti, in der Demokratischen Republik Kongo und im Südsudan.
Um solchen Übergriffen vorzubeugen und die Bevölkerung aufzuklären, wie man sie meldet, verfügt die MINUSCA nach eigenen Angaben über eine globale Strategie. Dazu gehört, dass die Blauhelme regelmäßig an Präventionslehrgängen teilnehmen, ergänzt um unangekündigte Kontrollbesuche ihrer Kommandeure. Zudem sollen die UN-Camps so angelegt sein, dass sich die Truppen so wenig wie möglich außerhalb versorgen müssen und somit die Risiken, mit der Bevölkerung in Kontakt zu kommen, begrenzt sind. Schließlich wurden in den letzten Jahren mehrere vorläufige Stützpunkte an abgelegenen Orten geschlossen.
Der Beleg dafür, dass diese Maßnahmen wirken, steht noch aus. Die 20-jährige Louna, die 2022 auf den Straßen der Stadt Kaga Bandoro im Norden des Landes Maniokbrei verkaufte, wurde eines Nachts Opfer einer Gruppenvergewaltigung. Ihre Peiniger, sechs Blauhelme aus Burundi, behaupteten, sich auf der Suche nach einem Rebellen in ihrem Viertel aufzuhalten. „Sie drangen in unser Haus ein, als meine ältere Schwester und ich schliefen“, schildert die junge Frau. „Ich habe so laut geschrien, dass sie mir den Hals zudrückten, damit ich aufhörte.“ Nach dem Übergriff, sagt Louna, sei sie von ihren Nachbarn stigmatisiert worden und deshalb nach Bangui gezogen, obwohl es dort für sie schwieriger ist, sich und ihr Kind zu ernähren.
„The New Humanitarian“ hat den Sprecher der Friedensmission um eine Stellungnahme zu diesen fortdauernden Übergriffen gebeten. Der hat die Vergewaltigungen mit der allgemeinen Sicherheitslage in der Zentralafrikanischen Republik begründet: „Innerhalb der MINUSCA ist das Risiko eines Fehlverhaltens nach wie vor hoch. Das liegt zum Teil an einer Umgebung, die von starker Verwundbarkeit geprägt ist, darunter Armut, Analphabetismus, ungleicher Zugang zu Informationen, eine Normalisierung von sexualisierter und sexistischer Gewalt sowie von einem Mangel an elementaren Infrastrukturen, Dienstleistungen und öffentlichen Einrichtungen.“
Die meisten Opfer melden sexuelle Übergriffe nicht
Neben den vorbeugenden Maßnahmen hat die MINUSCA nach eigenen Angaben örtliche Komitees von UN-Leuten aufgestellt. Die sollen die Bevölkerung für die Problematik sensibilisieren und über Berichtsverfahren informieren, die es den Opfern leichter machen sollen, Missbrauch zu melden. Außerdem, so die Verantwortlichen der Mission, hat sie über die lokalen Sender, über SMS und in den Schulen Sensibilisierungskampagnen gestartet.
Dennoch melden die meisten Opfer sexuelle Übergriffe nicht. Sie fürchten Repressalien, wissen nicht, wie sie bei einer offiziellen Meldung vorgehen sollen, oder haben Zweifel, dass die UN sie unterstützt. Dabei hat diese Unterstützung angeblich Priorität für die MINUSCA. Aus ihren eigenen Förderprogrammen und einem UN-Fonds zur Unterstützung von Opfern sexueller Ausbeutung und Gewalt sollen den Frauen eine Berufsausbildung finanziert und die Schulgebühren für Kinder von Blauhelmsoldaten übernommen werden. Die vom MINUSCA-Sprecher zur Verfügung gestellten Daten zeigen aber, dass die Mission aus ihrem Budget von 1,2 Milliarden US-Dollar für 2023–2024 dafür lediglich 384.100 US-Dollar (0,03 Prozent) verwendet hat, weitere 251.168 US-Dollar hat der UN-Fonds für die Unterstützung der Opfer ausgezahlt.
Für medizinischen, juristischen und psychologischen Beistand leitet die Mission die Fälle überwiegend an Drittorganisationen weiter, zu denen auch UN-Organisationen sowie lokale und internationale NGOs gehören, die im Land tätig sind. Ärzte, Juristen und Leiter von Hilfsorganisationen finden es nicht normal, dass die MINUSCA sich nicht selbst um ihre Opfer kümmert. Umso mehr in einem Bürgerkrieg, in dem Frauen in den Zangengriff von Rebellengruppen, staatlichen Streitkräften sowie deren Verbündeten von der russischen Söldnergruppe Wagner geraten und sowieso stark um Hilfe von NGOs bitten müssen.
„Sie haben mich mit dem Tod bedroht, falls ich etwas sage“
Im August 2023 arbeitete Anne als Reinigungskraft im MINUSCA-Stützpunkt von Bambari, als zwei mauretanische Blauhelmsoldaten sie vergewaltigten. „Seit gerade mal einer Woche hatte ich endlich Arbeit. Dann warteten die beiden Soldaten, bis ich duschte, und drangen ins Bad ein“, erinnert sich die 23-Jährige mit zitternder Stimme. „Ich habe sie gebeten, wieder zu gehen, aber der eine machte die Tür zu und der andere packte mich. Sie haben mich beide vergewaltigt und mit dem Tod bedroht, falls ich etwas sage“, berichtet sie.
Unmittelbar nach dieser Vergewaltigung ging Anne mit ihren beiden Kindern nach Bangui. „Meine Schwester hatte mir gesagt, dort könnte ich zum Sitz der MINUSCA gehen, ihnen schildern, was ich erlebt habe, und Anzeige erstatten. Ich weiß aber immer noch nicht, wie ich das machen soll“, ergänzt Anne, die entmutigt ist und sich jetzt allein um ihre beiden Kinder kümmert.
Wie sie hätte auch Maryame gern Anzeige erstattet, nachdem sie 2023 zusammen mit anderen Frauen von burundischen Blauhelmen vergewaltigt worden war. Die Gemüsehändlerin aus Bria im Osten des Landes hatte dem „New Humanitarian“ erklärt, sie wisse nicht, wie sie es anstellen solle, „da man mir den Namen des Täters nicht genannt hat“. Maryames Leben ist durch diesen Angriff zutiefst erschüttert.
Gesellschaftliche Stigmatisierung statt Gerechtigkeit
Die Opfer werden fast systematisch gesellschaftlich stigmatisiert und sind meist gezwungen, ihren ursprünglichen Wohnort und ihre Arbeitsstelle aufzugeben. Dabei wollen sie, dass ihnen für den Schaden Gerechtigkeit widerfährt. Alle brauchen Geld, um die Schulgebühren ihrer Kinder zu bezahlen oder ihre Kleinunternehmen, die den erzwungenen Umzug nicht überstanden haben, wieder in Gang zu bringen.
Obwohl die MINUSCA versichert, Beschwerdesysteme eingerichtet zu haben, begehen ihre Blauhelme weiterhin sexuelle Übergriffe – und das oft ohne Konsequenzen. Gemäß der Datenbank der Vereinten Nationen zu Verfehlungen im Einsatz sind von den 239 Fällen, die der MINUSCA seit 2015 gemeldet wurden – die Anschuldigungen betreffen 734 Soldaten der Friedenstruppen und 709 Opfer –, über die Hälfte immer noch anhängig, viele nach mehreren Jahren.
Wie aus der UN-Datenbank hervorgeht, wurden seit 2015 nur 69 Blauhelmsoldaten von ihren Heimatländern inhaftiert. Über die Höhe der verhängten Gefängnisstrafen sind keine Angaben zugänglich; Christian Saunders, der Sonderkoordinator für die Verbesserung der Reaktion der Vereinten Nationen auf sexuelle Ausbeutung und Missbrauch, erklärte Anfang des Jahres, die UN erhebe diese Daten und werde dann beschließen, ob sie veröffentlichen werde.
Ein System, das die Soldaten und die Vergewaltiger schützt
Maître Djapou, ein zentralafrikanischer Anwalt, der versucht hat, Frauen zu helfen, die Opfer von Blauhelmsoldaten geworden waren, bezeichnet die Art der Verfolgung und Bestrafung der Blauhelme als „absurdes“ System, welches „die Soldaten und die Vergewaltiger schützt“. Die Straflosigkeit hängt teilweise mit der Gerichtsbarkeit zusammen, der die Blauhelme unterstehen. Denn für sie zuständig sind die nationalen Gerichte und Behörden ihrer Heimatländer. Und deren Wille, diese Anschuldigungen zu untersuchen und Disziplinarmaßnahmen zu ergreifen, variiert erheblich.
Malick Karomschi, der Vorsitzende der muslimischen NGO Organisation für die Erneuerung in der Zentralafrikanischen Republik, ist unter Überlebenden sexueller Gewalt bekannt und hat ein weitgespanntes Netzwerk im ganzen Land. Er hatte vor Jahren erwirkt, dass die Klagen von 43 Opfern sexualisierter Gewalt der Blauhelme wieder aufgenommen wurden. Daraufhin kamen einige Jahre später endlich burundische Ermittler, um einige der Frauen, die Karomschi der MINUSCA genannt hatte, zu befragen. Dabei zeigten die Ermittler so kleine Fotos von den Soldaten, dass es den Frauen schwerfiel, ihre Peiniger zu identifizieren – vor allem nach so langer Zeit. Die Ermittler sahen sich deshalb ermächtigt, die Verfahren einzustellen. Seitdem hat Malick Karomschi der MINUSCA keine Fälle sexualisierter Gewalt von Blauhelmsoldaten mehr gemeldet.
Aus dem Französischen von Juliane Gräbener-Müller.
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