Indonesie ns islamische Friedensd iplomatie

Ajeng Dinar Ulfiana/REUTERS
Gebet zum Opferfest in der Großen Moschee der indonesischen Hauptstadt Jakarta Mitte 2022. Indonesien ist das bevölkerungsreichste mehrheitlich muslimische Land der Welt.
Friedensorientierter Islam
Indonesische Regierungsstellen und muslimische Organisationen setzen sich für eine islamische Friedensdiplomatie ein. Mit einem moderaten Ver­ständnis des Islam wollen sie der Vorherrschaft arabischer Länder in der Ausdeutung dieser Religion etwas entgegensetzen.

Die größte islamische Zivilorganisation der Welt hat im Februar 2023 ihr hundertjähriges Bestehen gefeiert: die indonesische Nahdlatul Ulama (Erwachen der islamischen Gelehrten, NU) mit etwa 90 Millionen Mitgliedern. Aus diesem Anlass hat NU eine internationale Konferenz in Surabaya auf der Insel Java ausgerichtet zum Thema „Islamische Jurisprudenz für eine globale Zivilisation: eine Bewertung der Legitimität der UN-Charta aus der Perspektive islamischen Rechts“. Die Konferenz, die von bedeutenden islamischen Autoritäten aus der gesamten islamischen Welt besucht wurde, diente auch dem öffentlichen Bekenntnis von NU zu den Werten der UN-Charta: internationaler Friede und Kooperation, Souveränität des Nationalstaats sowie Menschenrechte. 

Die Konferenz sollte eine globale Allianz moderater Muslime schmieden, die für diese universellen Werte eintreten. NU machte ihre Haltung deutlich, dass alternative islamistische politische Ordnungen wie etwa das Kalifat keine legitime Rechtsgrundlage im Islam haben. Grundsätzlich, so NU, hätten sich in der islamischen Rechtsauslegung problematische Tendenzen entwickelt, die Intoleranz, Konflikte und Gewalt fördern. Das islamische Recht müsse reformiert, an die Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts angepasst und in Einklang gebracht werden mit den Menschenrechten, Demokratie und gesellschaftlicher Diversität. Islamische Theologie und islamisches Recht müssten humanistisch geprägt sein und zum Wohlergehen aller Menschen, egal welchen Glaubens, beitragen. 

Bereits im November 2022 hat sich NU für eine größere Sichtbarkeit von Religion und ihrem Friedenspotenzial auf dem weltpolitischen Parkett eingesetzt. Im Rahmen des G20-Gipfels, der auf der indonesischen Insel Bali stattfand, initiierte sie mit Unterstützung der indonesischen Regierung das sogenannte R20-Treffen (Religion of Twenty). Als offizielle Beteiligungsgruppe („Engagement Group“) des G20-Gipfels kamen hohe Vertreter verschiedener Religionen zusammen, um über gemeinsame Werte zu diskutieren, auf deren Basis Gläubige sich konfessionsübergreifend gegen Armut, den Klimawandel, Extremismus und Terrorismus stark machen können. Die Initiative wird bei den nächsten G20-Gipfeln in Indien (2023), Brasilien (2024) und Südafrika (2025) von den jeweiligen Gastgebern aufgegriffen werden.

Pionier eines friedlichen und progressiven Islam 

In Indonesien selbst, dem bevölkerungsreichsten mehrheitlich muslimischen Land der Welt – 88 Prozent der 270 Millionen Einwohner sind Muslime –, ist NU bereits als Pionier eines friedlichen und progressiven Islam hervorgetreten. Im Jahr 2019 hat die Organisation das islamische Konzept „kafir“ als nichtig verworfen, das alle als Ungläubige deklariert, die sich nicht zum Islam bekennen. Die Begründung: In Indonesien gelte das Konzept der Staatsbürger, die alle dieselben bürgerlichen Rechte und Pflichten genießen. Damit bekräftigte NU ihr Bekenntnis zur nicht islamischen Verfassung Indonesiens. Darüber hinaus treten einige Flügel der Organisation für die Rechte von Menschen mit nicht binärer Geschlechtsidentität ein, und die Jugendabteilung Ansor wirbt seit 2017, an ein internationales muslimisches Publikum gewandt, für einen „Humanistischen Islam“. 

Einen friedensorientierten Islam mit Konferenzen und interreligiösem Dialog zu verbreiten, ist für die Diplomatie Indonesiens eine zentrale Leitlinie. Das Land soll als friedvolles, progressives, demokratisches und modernes Vorbild für die islamische Welt positioniert werden und einen Gegenpol zu den etablierten Zentren der islamischen Gemeinschaft – Saudi-Arabien, Ägypten, Iran – darstellen. An dieser Strategie der „weichen Machtausübung“ ist ein breites Spektrum an staatlichen Institutionen, führenden Politikern und zivilen Akteuren beteiligt. Trotz unterschiedlicher Schwerpunkte im Verständnis, was einen moderaten Islam ausmacht, kollaborieren sie patriotisch, um den Status Indonesiens in der islamischen Welt zu erhöhen. 

Indonesien gilt als islamische Peripherie – bedingt durch seine Lage fernab der arabischen Region und weil der indonesische Islam teilweise mit lokalen kulturellen Praktiken durchsetzt ist. Obwohl das Land eine Vielzahl progressiver islamischer Gelehrter besitzt, haben die bisher nicht islamische Diskurse auf globaler Ebene prägen können. Das liegt auch daran, dass sie die indonesische Sprache benutzen, während Arabisch die Lingua franca des Islam ist. Dass die NU-Konferenz in Surabaya größtenteils auf Arabisch gehalten wurde, verdeutlicht die Strategie, die Beziehungen Indonesiens zur islamischen Welt neu zu gestalten. 

Vorzeigebeispiel für die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie

Autorin

Amanda tho Seeth

ist promovierte Politikwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg. Sie hat auch Islamwissenschaft und Indonesienstudien studiert und forscht unter anderem zu islamischer Bildung und Wissenschaftsdiplomatie.
Der Versuch, Indonesien als Heimat eines friedvollen Islam zu bewerben, geht zurück auf die zeitliche Überschneidung des indonesischen Demokratisierungsprozesses (1998–2004) mit den islamistischen Terroranschlägen auf die USA im September 2001. Im davon ausgelösten „Krieg gegen den Terrorismus“ der USA wurde Indonesien wegen seiner Verurteilung von Islamismus und seinem Eintreten für den Islam als Religion des Friedens zu einem geschätzten Partner Washingtons. Dass die Demokratisierung Indonesiens stark von islamischen Akteuren unterstützt wurde, machte das Land aus Sicht der USA zu einem Vorzeigebeispiel für die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie.

Zum Selbstverständnis Indonesiens als moderat und friedlich haben auch das nationale Motto „Einheit in Vielfalt“, das auf dem Staatsemblem erwähnt wird, und die Staatsideologie Pancasila beigetragen, die auf ein konstruktives gesellschaftliches Miteinander im religiös, ethnisch und kulturell äußerst diversen Land zielen. Die Pancasila ist seit 1945 Teil der Verfassung und erwähnt „Allah“ nicht, sondern einen bewusst abstrakt gehaltenen „einzigen Gott“. Die Verfassung erkennt sechs Religionen an: Islam, Protestantismus, Katholizismus, Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus. 

Anfang der frühen 2000er Jahre begannen verschiedene staatliche und nichtstaatliche Stellen in Indonesien das Image ihrer Nation als spezifisch friedlich und moderat islamisch zu pflegen. Dies versprach nicht nur ein größeres internationales Gewicht des Landes – inklusive Anerkennung aus dem Westen –, sondern auch eine stärkere Durchsetzungskraft in Debatten über äußerst konservative und islamistische Bewegungen in Indonesien selbst. Islamistische Gruppen waren unter Präsident Suharto (1967–1998) verboten, traten nach seinem Sturz jedoch mit Organisationen und politischen Parteien in die Öffentlichkeit und bedrohen bis heute die Stabilität des demokratischen Systems. 

Imagepflege im Ausland

Seit 2002 kooperiert das indonesische Außenministerium über seine Abteilung für Information und öffentliche Diplomatie mit dem Ministerium für religiöse Angelegenheiten sowie mit NU bei der Imagepflege im Ausland. Indonesiens zweitgrößte islamische Organisation, die modernistische Muhammadiyah (Anhänger Muhammads) mit rund 50 Millionen Anhängern, ist genauso in die staatlich-zivile Kooperation eingebunden. Gemeinsam werden im In- und Ausland interreligiöse Dialoge, Mediationen, Konferenzen und Workshops abgehalten – besonders intensiv unter Präsident Susilo Bambang Yudhoyono (2004–2014). So war NU bis zur erneuten Macht­ergreifung der Taliban in Afghanistan im Jahr 2021 äußerst aktiv in der Verbreitung einer friedlichen Islaminterpretation unter afghanischen Islamgelehrten. Muhammadiyah war an den Friedensgesprächen zwischen philippinischen und thailändischen islamistischen Guerillabewegungen und den jeweiligen Landesregierungen beteiligt. Außerdem haben NU und Muhammadiyah an internationalen Friedensmissionen im Israel-Palästina-Konflikt teilgenommen und sich dort für Gewaltlosigkeit und Dialog eingesetzt. 

Indonesiens Präsident Joko Widodo (links) begrüßt den Präsidenten der Palästinenserbehörde, Mahmoud Abbas, auf dem Sondergipfel der Organisation für Islamische Zusammenarbeit im März 2016. Beide große Organisationen des Islam in Indonesien haben sich gegen Gewalt und für Dialog im Palästinakonflikt eingesetzt.

Ein neuer Trend ist, dass Indonesien sich als internationaler islamischer Bildungsanbieter etabliert. In der islamischen Welt stellt islamische Wissensproduktion einen entscheidenden Faktor für die Anziehungskraft und Autorität eines Landes dar. Traditionelle Zentren islamischer Wissensproduktion sind etwa al-Azhar-Universität in Ägypten, al-Zaytuna Universität in Tunesien, al-Quarawiyyin-Universität in Marokko sowie die zahlreichen islamischen Universitäten in Saudi-Arabien und im Iran. Obwohl Indonesien über das weltweit größte islamische Hochschulsystem verfügt, hat das noch keinen internationalen Ruf erlangt. 

Um dies zu ändern, hat die Regierung im Jahr 2021 Indonesiens erste internationale islamische Universität in Depok eröffnet. Der Campus will einen explizit friedlichen Islam lehren und steht nicht nur Muslimen offen. NU und Muhammadiyah haben ein eigenes Netzwerk von Schulen und Universitäten, die zurzeit ebenfalls auf ein internationales Publikum neu ausgerichtet werden. Es gibt verstärkt Stipendienprogramme für ausländische Studierende; Muhammadiyah hat begonnen, Zweigstellen seiner Campi im Ausland zu eröffnen, beispielsweise in Malaysia, Südkorea und Australien.

Geehrt für den Friedenseinsatz: Der Kanzler der Universität Yogyakarta, Al Makin (links), verleiht im Februar 2023 die Ehrendoktorwürde an Sudibyo Markus von der Muhammadiyah (rechts), Yahya Cholil Staquf von Nahdatul Ulama (daneben) und Papst Franziskus – vertreten durch den Präsidenten des päpstlichen Rates für interreligiösen Dialog, Kardinal Miguel Angel Ayuso Guichot.

Bei all dem spielt die Verbreitung eines moderaten Islamdiskurses eine zentrale Rolle. Insbesondere nachdem 2014 in Syrien und im Irak der Islamische Staat erstarkt ist, hat sich in Indonesien eine diskursive Gegenbewegung etabliert, die sich auch gegen die anhaltende Bedrohung von islamistischen Gruppen im eigenen Land richtet. Dabei gibt es unterschiedliche Konzepte, was einen moderaten Islam ausmacht: NU vertritt den „Islam des Archipels“ (Islam Nusantara), der lokale, nicht islamische Praktiken zulässt und in der ländlichen Bevölkerung verbreitet ist. Muhammadiyah vertritt „Progressiver Islam“ (Islam Berkemajuan), der eher im urbanen Milieu beheimatet ist und sich als demokratisch und im Dialog mit moderner Sozial- und Entwicklungspolitik versteht. Beide sind aber darin einig, dass der im Koran erwähnte, moderat ausgerichtete „Islam des Mittelwegs“ (Islam Wasathiyah) die Basis ihres Islamverständnisses ist. Es wird daher explizit in den Vordergrund gestellt. 

Mit seiner Legitimierung durch den Koran birgt Islam Wasathiyah zudem den Vorteil, zumindest theoretisch über Ländergrenzen hinweg Autorität zu haben. Aus diesem Grund stellt sich Indonesien zunehmend als neues Zentrum eines Islams des Mittelwegs dar, seit 2018 auch verstärkt unter der Regierung von Joko Widodo mit ihrem Projekt „Religiöse Mäßigung“, das vom Ministerium für religiöse Angelegenheiten betrieben wird. 

Innovative Impulse, aber auch Islamisierungstendenzen

Auf der internationalen Konferenz 2023 in Surabaya hat NU ein neues Konzept vorgestellt: Fikih Peradaban (Islamische Jurisprudenz der Zivilisation). Es ist aus zwei Gründen eine Weiterentwicklung des moderaten Islamdiskurses: Erstens möchte es explizit dem Wohlergehen der gesamten Menschheit, nicht nur von Muslimen, dienen; zweitens vollzieht es durch seinen Anspruch, das islamische Recht reformieren zu wollen, den Schritt von bloßem Diskurs zur praktischen Durchsetzung eines moderaten Islam. 

Ohne Frage kommen derzeit innovative islamische Impulse aus Indonesien, die global Beachtung verdienen. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Land mit eigenen konservativen und islamistischen Bewegungen zu kämpfen hat. Auf lokaler Ebene wurde in den letzten Jahren vielerorts streng islamisches Recht eingeführt, das zum Beispiel Geschlechtertrennung und Verbot von Alkoholkonsum im öffentlichen Raum forciert. In der Provinz Aceh wird bereits seit 2004 die islamische Körperstrafe in Form des öffentlichen Auspeitschens praktiziert. 

In diesem Islamisierungstrend der indonesischen Gesellschaft und Politik sind die Rollen von NU und Muhammadiyah nicht immer eindeutig. In beiden Organisationen gibt es verschiedene ideologische Flügel, von denen einige intolerante und anti-pluralistische Positionen beziehen – zum Teil auch der halbstaatliche Rat der islamischen Gelehrten (Majelis Ulama Indonesia, MUI), der aus Vertretern von NU, Muhammadiyah und weiteren islamischen Organisationen besteht. Der Vizepräsident Indonesiens, Maruf Amin, war früher Vorsitzender von NU und MUI und hat anti-pluralistische Positionen und religiöse Intoleranz vertreten. Dennoch hat er 2023 die NU-Konferenz in Surabaya eröffnet und sich dort für das Konzept von Fikih Peradaban ausgesprochen. 

Indonesiens Bildungsinstitutionen internationalisieren ihre Friedensarbeit

Beobachter beklagen auch, die Qualität der indonesischen Demokratie sinke; ein im Dezember 2022 verabschiedetes Gesetz, das sexuelle Selbstbestimmung und öffentliche Kritik am Präsidenten einschränkt, bestätigt das. Im Vergleich mit anderen Ländern Südostasiens und der weiteren islamischen Welt steht die indonesische Demokratie laut Fachleuten aber noch gut da. Auch die Führungsriegen von NU und Muhammadiyah sind verglichen mit ihren Gegenparts in anderen mehrheitlich muslimischen Ländern toleranter und treten aktiver für die Rechte religiöser Minderheiten ein. 

Daher bietet sich Indonesien als Partner für internationale Entwicklungszusammenarbeit im Sinne der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung an. Insbesondere Friedensarbeit, die mit Bildungsarbeit verknüpft werden kann, hat Potenzial. Die Bildungsinstitutionen von NU und Muhammadiyah sowie die staatlichen islamischen Universitäten des Landes haben viel Erfahrung mit dem Lehren friedlicher Islam-Ansätze. Ihre Internationalisierungsstrategien eröffnen neue Wege für länderübergreifende Zusammenarbeit zu Friedenszwecken.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2023: Religion und Frieden
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