Der britische Erfolgsautor Ian McEwan träumt von einer Welt ohne Religion. Das, so meint er, wäre dann „eine Welt voller Demut vor der Heiligkeit des Lebens“. Die Religionen hingegen stünden „im Zentrum der großen Konflikte unserer Zeit“.
Mit dieser Ansicht ist McEwan nicht allein. Rund 40 Prozent der Deutschen glauben, die Welt wäre friedlicher ohne Religionen. Das ist nicht verwunderlich, werden uns Berichte über das Gewalt- und Konfliktpotenzial der Religionen doch täglich von Presse, Funk und Fernsehen frei Haus geliefert: heiliger Krieg, fundamentalistischer Terror, blutige Machtkämpfe in religiöser Verkleidung rund um den Globus. In Afghanistan und Iran, Myanmar und Indien, Somalia und Mali, Russland und vielen anderen Regionen.
Ohne Frage: Religion kann eine gefährliche und zerstörerische Waffe im Konfliktaustrag sein. Der Rückgriff auf religiöse Motive und Argumente kann Konflikte anfachen, Gewalt verschärfen, Krisen eskalieren und verlängern. Hier schenken sich die großen Religionen nichts. Über die Jahrhunderte betrachtet haben sie alle gleichermaßen Blut an den Händen, keine kann sich in Unschuld waschen – auch heute nicht, wovon der Krieg in der Ukraine einmal mehr Zeugnis gibt.
Worüber kaum in den Medien berichtet wird, ist ein religiöses Friedenspotenzial. Religionen stehen nicht im Ruf, besonders geeignete Friedenstifter zu sein. Gibt es das Potenzial vielleicht gar nicht, obschon doch alle Religionen Frieden als zentralen Wert und Kernanliegen verkünden? Sind es bloße Lippenbekenntnisse, wenn Gläubige für Schalom, Salaam, Friede auf Erden beten? Wenn nicht, wie und wo zeigt sich das Friedenspotenzial von Religionen, wie wirkt es sich aus? In unverbindlicher Nachbarschaft von Menschen verschiedenen Glaubens oder indem man sich freundlich lächelnd aus dem Weg geht? Im gut gemeinten Dialog einzelner Religionsvertreter, die sich einmal jährlich der gegenseitigen Friedensliebe und Toleranz versichern? Oder hat der religiöse Friedensanspruch auch politische Relevanz, etwa unter Diktatur und Besatzung, in Kriegen und Bürgerkriegen?
Friedensengagement aus religiöser Überzeugung: Erfolgsbeispiele
Die Literatur, auch die wissenschaftliche, gibt darauf wenige Antworten. Gebannt vom destruktiven Potenzial von Religion, hat es nur wenige interessiert, nach einem konstruktiven Potenzial Ausschau zu halten. Dabei braucht man gar nicht lange zu suchen, um auf eine Vielzahl von Erfolgsbeispielen zu stoßen, also auf politische Gewaltkonflikte, in denen religiöse Akteure – Einzelpersonen, Initiativen oder Vertreter von Glaubensgemeinschaften, deren Friedensengagement auf religiösen Überzeugungen basiert – erheblich zur Deeskalation und zur Vermeidung von Gewalt beigetragen haben.
So widersetzte sich während des Genozids an den Tutsi in Ruanda, in dem 1994 innerhalb von hundert Tagen bis zu einer Million Menschen umkamen, nur eine Bevölkerungsgruppe fast kollektiv der Gewalt: die ruandischen Muslime. Sie verweigerten sich der Gewalt und halfen Flüchtlingen – gleich welcher Religion oder Ethnie –, den Todesschwadronen zu entkommen, versteckten sie, versorgten sie mit Lebensmitteln, stellten sich schützend vor sie, nicht selten um den Preis des eigenen Lebens.
Autor
Markus A. Weingardt
ist promovierter Friedens- und Konfliktforscher mit dem Schwerpunkt Religion bei der Stiftung Weltethos in Tübingen.Die Rolle der katholischen Kirche im Kampf gegen Gewalt
Vertreter der katholischen Kirche spielen auch in Kolumbien seit langem eine wichtige Rolle im Kampf gegen Gewalt – etwa in sogenannten Friedensdörfern, die sich weder auf die Seite der Rebellen noch der Regierungsarmee stellten. Mit Vermittlung im Hintergrund haben sie, da sie auf beiden Seiten Vertrauen genossen, entscheidend dazu beigetragen, dass die Verhandlungen zwischen der Regierung und den FARC-Rebellen zum Friedensvertrag von 2016/17 führten. Auch in anderen lateinamerikanischen Staaten waren besonders in den 1980er und 1990er Jahren und sind bis heute katholische Geistliche, der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) und der Lutherische Weltbund an der Überwindung von Konflikten innerhalb der überwiegend christlichen Staaten beteiligt. In Asien war die weitgehend gewaltlose Überwindung der Unterdrückungsherrschaft des philippinischen Diktators Ferdinand Marcos 1986 in erster Linie dem Engagement weiter Teile der katholischen Kirche zu verdanken. Vor allem Ordensleute und Priester in den Basisgemeinden überzeugten das Volk von einem gewaltlosen Vorgehen und legten den Grundstein für den Erfolg der sogenannten Rosenkranz-Revolution.
Vergleichbare Beispiele gibt es auch aus Gesellschaften, die nicht vorwiegend christlich sind. So baute nach der Schreckensherrschaft von Pol Pot und den Roten Khmer in Kambodscha (1975–1979), der rund ein Viertel der Bevölkerung zum Opfer gefallen war, der buddhistische Mönch Maha Ghosananda 1979 eine Friedens- und Versöhnungsbewegung auf, die sich zu einer wichtigen Kraft und Stimme in Politik und Gesellschaft entwickelte; am jährlichen Pilgermarsch (Dhammayietra, ab 1992) quer durch das Land beteiligten sich neben Vertretern verschiedener Religionen zeitweise viele Tausend Menschen. Und im britisch besetzten Indien zur Zeit von Mahatma Gandhi gründete der Muslim Khan Abdul Ghaffar Khan in der Nordwest-Grenzprovinz eine streng islamische, doch ebenso streng gewaltlose und religiös tolerante Widerstandsbewegung, die „Diener Gottes“. Für einige Jahre bewirkten sie eine gesellschaftliche Transformation, die Gandhi staunend als „modernes Märchen“ bezeichnete.
Friedensinitiativen in multireligiösen Ländern
Wichtig sind auch von mehreren Religionen getragene Friedensinitiativen in multireligiösen Ländern. In Nigeria, wo Gewalt unter anderem zwischen überwiegend christlichen Bauern und vorwiegend muslimischen Hirten häufig ist, gibt es etliche christlich-muslimische Friedensinitiativen, etwa die Vermittlungs- und Versöhnungsarbeit von Pastor Wuye und Imam Ashafa, die sich zuvor bekämpft hatten, oder die von Ephraim Kadala und Hussein Shuaibu von der Christian and Muslim Peace Initiative. Im westafrikanischen Liberia haben sich im Jahr 2002 christliche und muslimische Frauenorganisationen zur Liberianischen Frauen-Friedensbewegung zusammengeschlossen (Women of Liberia Mass Action for Peace). Mit Gebeten, Demonstrationen, Sitzstreiks und anderen gewaltlosen Maßnahmen machten sie so lange Druck auf die (fast durchweg männlichen) Politiker, bis der Bürgerkrieg eingedämmt und der despotische Präsident Charles Taylor aus dem Amt entlassen wurde. Die Sprecherin der Friedensbewegung, Leymah Gbowee, ist dafür 2011 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Und in Bosnien-Herzegowina, Frankreich, Sierra Leone und vielen anderen Ländern trugen und tragen nationale Interreligiöse Räte zur friedlichen Bearbeitung politischer Konflikte bei, initiiert zumeist von der transnational-multireligiösen Organisation „Religions for Peace“.
Dies sind nur wenige von zahlreichen Beispielen, in denen durch das Eingreifen religiös motivierter Akteure Konflikte eingedämmt wurden. Natürlich waren diese Friedenskräfte nicht die einzigen Beteiligten und selten im Alleingang erfolgreich. Aber sie leisteten unverzichtbare Beiträge zur Deeskalation, die sonst niemand zu leisten im Stande oder willens war.
Die Beispiele lassen das enorme Friedenspotenzial erkennen, das allen Religionen innewohnt. Dass es in Politik und Wissenschaft so lange ignoriert wurde, hängt damit zusammen, dass dort lange die Säkularisierungsthese das Denken geprägt hat: In den 1970er und 1980er Jahren gingen zumindest in der nördlichen Hemisphäre viele davon aus, dass der Einfluss der Religionen mit zunehmender Säkularisierung der Welt nachlassen und schließlich verschwinden würde. Aus dieser Illusion riss sie Anfang der 1990er Jahre dann der Harvard-Professor Samuel Huntington mit seinen Thesen zum Zusammenstoß der Zivilisationen – allerdings mit dem fatalen Effekt, dass sich das wissenschaftliche, politische und öffentliche Augenmerk fast ausschließlich auf die Gewaltneigung religiöser Akteure richtete, wo es bis heute vielfach verharrt. Die ist aber nur die eine Seite der Wirklichkeit.
Religiöse ebenso wie säkulare Gewaltakteure treten häufig dort auf den Plan, wo ein politisches Machtvakuum entsteht. Dies ist häufig in politischen oder gesellschaftlichen Umbruchphasen der Fall, sogenannten Transitions- oder Modernisierungskonflikten – dort, wo alte Ordnungen zerbrechen oder infrage gestellt werden, neue Ordnungen aber noch nicht etabliert sind. Dadurch könnte der Eindruck entstehen, das religiöse Gewaltpotenzial sei alleine ein Problem von Entwicklungsländern. Dies wird aber widerlegt durch die eskalierende Rolle religiöser Akteure beispielsweise in Nordirland, Russland-Ukraine oder Ex-Jugoslawien sowie, in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, auch in Deutschland.
Denn auch Konflikte aufgrund sozioökonomischer Schieflagen oder aus politischem Machtstreben werden von Konfliktparteien beziehungsweise ihren Anführern gerne als solche zwischen Religionsgemeinschaften dargestellt und unter Rückgriff auf gewaltgeprägte religiöse Überlieferungen aufgeheizt, zumal wenn religiöse und ethnische oder soziale Trennlinien zusammenfallen. Dadurch werden Krisen gezielt religiös aufgeladen, um den Kämpfern einen „höheren Sinn“ der eigenen Gewalt zu suggerieren und ihre Einsatz- und Opferbereitschaft anzustacheln, ja die „Gewalt als Gottesdienst“ darzustellen, wie der Religionswissenschaftler Hans G. Kippenberg schreibt.
Religiöse Akteure genießen Vertrauen
Wie das Gewaltpotenzial, so zeigt sich allerdings auch die friedensstiftende Rolle von Religionsgemeinschaften in allen Religionen und Kulturen – in ganz verschiedenen politischen und ökonomischen Kontexten und in unterschiedlichsten Konflikten. Die Beispiele zeigen, dass in keinem Konflikt, zu keiner Zeit und unter keinen Umständen ein erfolgreiches Friedensengagement religiöser Akteure von vornherein ausgeschlossen werden kann.
Was aber zeichnet religiöse Friedensakteure aus, wodurch sind sie erfolgreich? Für Vermittler ist eine hohe Sach- und Fachkompetenz grundsätzlich unverzichtbar. Das bedeutet sowohl die genaue Kenntnis der Konflikte in ihrer Breite und Tiefe als auch Kompetenzen in der konstruktiven Konfliktbearbeitung. Der wichtigste Schlüssel zum Erfolg ist aber immer das Vertrauen der Konfliktparteien, sowohl der politischen Führung als auch der Betroffenen eines Konflikts. Und die Analyse zahlreicher Fallstudien zeigt: Gerade religiöse Akteure genießen oftmals einen Vertrauensbonus. Säkulare Kräfte – ob Politiker oder nichtstaatliche Organisationen – sind in der Regel großem Misstrauen an ihren wahren, vielleicht versteckten Interessen ausgesetzt, vor allem wenn sie aus dem Ausland kommen oder von dort finanziert werden. Hingegen weckt eine religiöse Motivation, Frieden zu stiften, häufig Vertrauen.
Dieser Vertrauensvorschuss hat eine Reihe Gründe und entspricht – auf den ersten Blick überraschend – auch der Logik von Konflikten. Erstens ist eine religiöse Friedensmotivation nachvollziehbar, da die Ideen der Gewaltverneinung und Versöhnung in allen religiösen Traditionen überliefert sind. Auch wenn man diese Überzeugungen nicht teilt, sind die Motive doch vertraut oder zumindest nicht völlig fremd. Zweitens gelten religiöse Akteure vielfach als unabhängig, uneigennützig und fair; Korruption, Selbstbereicherung oder Vetternwirtschaft werden ihnen selten zugeschrieben. Drittens sind sie mit den Konfliktbeteiligten oft in einer Weise verbunden, die ihnen ein tieferes, emotionales Konfliktverständnis ermöglicht; diese Verbundenheit beruht zumeist auf der gemeinsamen geografischen Herkunft, kann aber auch spiritueller Art sein.
Viertens sind sie oftmals kompetenter und sprachfähiger zu tieferliegenden Konfliktdimensionen wie Schuld, Verletzung, Traumata, Ehre, Trauer, Verständigung oder Versöhnung. Fünftens gelten religiöse Friedenstifter als ungefährlich, da sie nicht mit politischem, wirtschaftlichem oder gar militärischem Druck und Zwang arbeiten, sondern alleine auf ihre Überzeugungskraft angewiesen sind. Und schließlich gelten sie als beharrliche und verlässliche Akteure, die auch in großer Gefahr ihr Engagement nicht aufgeben und mitunter viele Jahre für Frieden kämpfen.
Verschlossene Türen öffnen
Diese Besonderheiten religiöser Akteure begründen Vertrauen zu ihnen. Sie öffnen Türen und Handlungs- und Verhandlungsspielräume, die anderen oft verschlossen bleiben. Diese Chancen begründen auch eine Verantwortung: Alle Religionsgemeinschaften sind aufgerufen, ihre Friedenskompetenzen stärker wahrzunehmen, professionell weiter zu entwickeln und proaktiv in Friedensprozessen anzubieten. Und Politiker sind gut beraten, solche religiösen Friedensakteure noch viel mehr in Konflikt- beziehungsweise Friedensprozesse einzubeziehen. Die unterschiedlichen Kompetenzen und Möglichkeiten säkularer und religiöser Akteure können sich hervorragend ergänzen.
Der Vertrauensvorschuss für religiöse Akteure gilt über alle religiösen, kulturellen und ethnischen Grenzen hinweg, selbst wenn Konfliktparteien und Vermittler unterschiedlichen Religionen angehören. Zudem zeigen empirische Untersuchungen, dass keine Religion eher zu Gewalt oder zu Friedfertigkeit neigt als andere. Alle bergen die Gefahr, Konflikte zu verschärfen – und zugleich das Potenzial, Gewalt zu überwinden. Die große Bandbreite möglicher Interpretationen von religiösen Schriften und Traditionen hat in allen Religionen zu einer Vielfalt verschiedener Konfessionen, Strömungen, Gemeinschaften oder Gruppierungen geführt. Diese Bandbreite umfasst auch Auslegungen, die Gewalt religiös begründen und legitimieren. Das sollte aber nicht den Blick verzerren und verengen. Für die allermeisten Gläubigen jeglicher Konfession ist ihre religiöse Überzeugung die Grundlage gerade eines gewaltlosen Handelns und Zusammenlebens – ob in Familie und Dorf, in Politik und Gesellschaft, zwischen Völkern und Staaten.
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