„So eine Blutmühle kann niemand wollen“

AP Photo/Iryna Rybakova/picture alliance
Ein Abnutzungskrieg, für den sich kein Ende abzeichnet: Artilleriegeschütz an der ukrainischen Front in der Region Donetsk im März 2023.
Zeitenwende
Friedensbewegungen in Europa sind stark in christlichen Kirchen verankert. So hat die evangelische Kirche in Deutschland mehrfach Vorrang für gewaltlose Konfliktlösungen gefordert und enge Grenzen für das letzte Mittel Militäreinsatz gezogen. Bringt der Einmarsch Russlands in die Ukraine auch für die christliche Friedensethik eine Zeitenwende? Gespräch mit dem Friedensbeauftragten der EKD, Landesbischof Friedrich Kramer

Friedrich Kramer ist seit 2019 Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und seit 2022 Friedensbeauftragter des Rates der EKD. Er war zuvor Gemeindepfarrer, Pfarrer für Studen­tenseelsorge und Leiter der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt.

Infolge des Ukraine-Kriegs wird die Friedensethik der EKD, also die Friedensdenkschrift von 2007 und spätere Äußerungen der Sy­node von 2019, als machtpolitisch naiv kritisiert. Muss die evangelische Kirche ihre Friedensethik überdenken?
Die Friedensethik muss ständig überdacht und an neue Herausforderungen angepasst werden. Das ist unstrittig. Deshalb haben wir in der EKD mit der Friedenswerkstatt eine zweijährige Konsultation angeschoben, um diese Fragen in Ruhe zu besprechen. Wenn Sie aber fragen, ob man die Grundintention ändern und sich vom Leitbild des gerechten Friedens verabschieden soll, dann sage ich: Nein. Der gerechte Friede wird nach meiner Meinung das Leitbild der evangelischen Friedens­ethik bleiben, zumal es auch in der Ökumene geteilt wird, von den katholischen Geschwistern, den Orthodoxen und den Freikirchen. Wir haben Jahrzehnte gebraucht, um uns von der Idee des gerechten Krieges zu verabschieden und zu sagen: Wenn Du Frieden willst, musst Du Frieden vorbereiten. Wenn man Krieg vorbereitet, wird man Krieg bekommen. 

Die Friedensdenkschrift scheint aber stark von ihrer Entstehungszeit geprägt: Ihr Ausgangspunkt sind Bürgerkrieg und Staatszerfall – etwa in Jugoslawien und in Ländern des Südens – und Terrorismus, zudem gab es damals zahlreiche internationale Friedensinitiativen und UN-Friedensmissionen. 
So ist es.

Heute haben wir wieder Konflikte zwischen Großmächten, Kriege im Süden werden wieder von außen geschürt – auch von Mittelmächten wie der Türkei, Iran und Saudi Arabien. Ist es in dieser neuen Lage noch tragfähig, in der Friedensethik stark auf internationale Rechtsdurchsetzung zu setzen?
Völlig neu ist die Kriegslage, die Sie beschreiben, nicht. Es gab auch zur Entstehungszeit der Denkschrift Interventionskriege. Einige würden wir heute als völkerrechtswidrig einstufen.

Zum Beispiel im Irak 2003? 
Genau. Aber der russische Okkupationskrieg hat insofern eine neue Situation geschaffen, als in Europa wieder Krieg zwischen zwei großen Staaten geführt wird. Da sind Fragen neu hochgekommen, die schon für erledigt gehalten wurden. Sie sind in der Denkschrift von 2007 aber mit gedacht unter den Begriffen „rechtserhaltende“ oder „Recht wiederherstellende Gewalt“. Die Frage ist, wie diese jetzt gegenüber einer Atommacht gestaltet werden kann, welche Rolle dabei Rüstung und Abrüstung spielen und um welche Waffen es geht. Heute müssen wir fragen, wie wir dafür sorgen können, dass die UN-Charta mit ihrem Verbot des Krieges und dem Ziel des friedlichen Miteinander in Kraft bleibt, statt dass wir uns wechselseitig bedrohen und wieder anfangen hochzurüsten. Das hat es schon in den 1980er Jahren gegeben, und wir haben damals mehrfach am atomaren Abgrund gestanden. Wir müssen eher fragen, wie wir Abrüstung wieder zur Richtschnur machen.

Liegt die Ursache der Misere nicht darin, dass die russische Regierung das Imperium der Sowjetunion wiederherstellen will – wenn nötig mit Gewalt? 
Ja. Die russische Außenpolitik hat in den vergangenen Jahrzehnten lauter eingefrorene Konflikte geschaffen, die alle ungelöst sind. Und dass die russische Regierung am Krieg in der Ukraine schuld ist, ist völlig unstrittig. Es wurden nicht nur die UN-Charta, sondern auch verschiedene völkerrechtliche Verträge gebrochen, von der Helsinki-Schlussakte bis zum Budapester Memorandum. Wie kann ein Land, das solche Abwege eingeschlagen hat – auch das Parlament, die Duma, die die Gebiete in der Ostukraine zum Teil Russlands erklärt hat –, wieder umkehren? Kann man sich das als Sieg über Russland vorstellen und wie sollte der aussehen? Es wird ja niemand in russisches Gebiet einmarschieren. 

Wollen Sie, dass man dem Kreml Brücken für den Rückweg baut? 
Niemand hat zurzeit eine Vorstellung, wie das gelingen kann, auch ich nicht. Manche hoffen auf einen Systemwechsel in Russland, aber danach sieht es nicht aus und selbst wenn Putin abtreten oder sterben sollte, wird ein Nachfolger nicht unbedingt besser. Trotzdem muss man grundsätzlich bedenken, dass man am Ende mit Russland Sicherheit in Europa schaffen muss, nicht nur gegen Russland. Das ist aber eine sehr langfristige Aufgabe. 

Frieden schaffen – aber wie? Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Annette Kurschus, spricht auf der Kundgebung für Frieden in Europa in Berlin kurz nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine.


Zunächst leisten Nato-Länder jetzt Waffenhilfe an die Ukraine. Der Theologe Michael Haspel von der Universität Erfurt sagt, das unterstütze deren legitime Selbstverteidigung und erfülle damit die Kriterien der Denkschrift für friedenserhaltende Gewalt. Sehen Sie das anders? 
Ja. Ich stimme zu, dass Michael Haspels Position auf der Denkschrift beruht. Man kann diese Waffenlieferungen als Unterstützung von rechtserhaltender Gewalt rechtfertigen. Man kann sie aber mit Kriterien der Denkschrift auch infrage stellen. So kann man sich fragen, ob bei Waffenlieferungen dieses Umfangs die Verhältnismäßigkeit gewahrt ist und was ihre Folgen sind. Sie verstärken und verlängern die Kämpfe, und niemand weiß, wie das am Ende ausgeht. Und bis heute ist nicht klar, was die Ziele der Waffenhilfe eigentlich sind: Geht es darum, dass Russland sich auf die Grenzen vor dem 24. Februar 2022 zurückzieht? Geht es um die vollständige Befreiung der Ukraine, was vom Völkerrecht gedeckt und geboten ist? Geht es darum, die Ausgangsposition für Verhandlungen zu verbessern? Geht es um die Abwehr des nächsten befürchteten russischen Angriffs? Das ist alles nicht genau geklärt. Deshalb ist Vorsicht bei Waffenlieferungen ebenso begründet.

Ob Waffenlieferungen an die Ukraine gerechtfertigt sind, hängt also davon ab, wie man ihre Wirkung einschätzt? 
Ja. In der Friedensethik ist immer die absehbare Wirkung von Entscheidungen ein Kriterium. Die kennen wir nie im Voraus, man kann aber die Faktoren unterschiedlich gewichten. Hinzu kommt: Wenn gesagt wird, es ist legitim, dass Deutschland Waffen liefert, wird fast so getan, als sei es auch unsere Pflicht. Das ist mitnichten so. Die USA und Großbritannien haben der Ukraine mit dem Budapester Memorandum von Ende 1994 Sicherheitsgarantien gegeben und tun nun, wozu sie sich verpflichtet haben. Ich finde interessant, dass wir in Deutschland so diskutieren, als hinge das alles von uns ab. 

Befürworter der Waffenhilfe sagen: Man kann die Ukraine nicht Russland ausliefern, sonst lässt man Kriegsverbrechen zu und es gibt die Ukraine bald nicht mehr
Richtig. Aber erstens haben viele zu Beginn des Krieges auch gesagt, die Ukraine werde den Krieg sowieso verlieren, und das hat sich als falsch erwiesen. Zweitens liefern viele Staaten der Ukraine Waffen. Für mich ist die Frage: Wie sollen wir als Christen in Deutschland uns dazu verhalten? Aus der Ökumene, zum Beispiel von der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Karlsruhe im vergangenen Herbst, wird eine sofortige Waffenruhe gefordert – übrigens für alle Kriege auf der Welt – und Vorrang für Verhandlungen statt Befeuern des Krieges. Das zu vertreten, müssen wir als Kirche in der Vielstimmigkeit der Gesellschaft leisten. 

Gäbe eine Waffenruhe der russischen Seite nicht die Gelegenheit, noch stärkere Angriffe vorzubereiten?
Da sind wir in der Debatte über den Kriegsverlauf und Kriegschancen. Niemand weiß sicher, was da gerade passiert. Kann die Rüstungsindustrie in Nato-Ländern zum Beispiel nachproduzieren, was an Munition täglich verschossen wird? Ist die russische Armee in einer besseren Situation? Das sind Spezialfragen, die ich nicht beantworten kann. Unsere Aufgabe ist es, die Kriegsparteien zum Frieden zu rufen. Zuallererst natürlich die russische Regierung, wie es gerade die UN getan haben: Geht raus aus der Ukraine! 

Die Denkschrift gibt gewaltloser Konfliktbearbeitung Vorrang. Muss man das relativieren, weil internationale Versuche gescheitert sind, den Krieg so abzuwenden – etwa diplomatisch? 
Ja, das ist nicht gelungen. Man sieht jetzt, dass Russland den Krieg wahrscheinlich schon länger geplant hat, so dass manche diplomatischen Versuche nicht realistisch waren. Zum Beispiel ist das Minsker Abkommen von 2015, das unter anderem einen überwachten Waffenstillstand, Regionalwahlen in der Ostukraine und den Abzug ausländischer Truppen vorsah, nicht eingehalten worden. Um Frieden zu erreichen, muss man am Ende aber auch mit Menschen verhandeln, denen man nicht vertraut. Dieser Krieg wird wahrscheinlich nicht mit dem Sieg einer Seite enden, also wird man verhandeln müssen. 

Sie haben Atomwaffen erwähnt. In einem neuen Papier der Evangelischen Militärseelsorge zur Friedensethik heißt es, diese Waffen seien einerseits abzulehnen, man könne aber andererseits nicht ganz auf sie verzichten; die Ukraine wäre wohl nicht angegriffen worden, wenn sie einen „nuklearen Schutzschirm“ gehabt hätte. Wie sehen Sie das
Atomwaffen sind generell abzulehnen, weil sie nicht völkerrechtskonform einsetzbar sind. Sie einzusetzen ist immer ein Menschheitsverbrechen. Ich erwarte von der deutschen Regierung, dass sie dem Atomwaffenverbotsvertrag beitritt, und von allen Atommächten, dass sie den Verzicht auf den Erstschlag er­klären.

Auch von den USA und der Nato also? 
Ja. Diese Waffen gehören verschrottet. Und wenn es stimmen würde, dass Atomwaffen Kriege abschrecken, müsste es ja auch der Ukraine aufgrund der russischen Drohung mit taktischen Kernwaffen unmöglich sein, sich militärisch zu verteidigen. Aber die Ukraine lässt sich davon nicht beeindrucken. Ob es einen atomaren Schutzschild gibt – da bin ich sehr skeptisch.

Fürchten Sie, dass mit Waffenhilfe für die Ukraine und Aufrüstung in Nato-Staaten auch andere Ziele als die Verteidigung der Ukraine verbunden sind, etwa Russland langfristig zu schwächen? 
Ja, zum Beispiel. Und wir geben Mittel für Rüstung aus, die wir für ganz andere Aufgaben brauchen. Deutschland hat über Nacht 100 Milliarden Euro für Waffen bereitgestellt, aber die Weltgemeinschaft ist nicht in der Lage, 60 Milliarden pro Jahr auf die Beine zu stellen, um den Hunger zu beenden. Und die Befürchtung, dass Russland in Europa militärisch durchmarschiert, hat sich nüchtern betrachtet erledigt. Im Moment scheint es auf einen langen Abnutzungskrieg in der Ukraine hinauszulaufen. Niemand kann so eine Blutmühle wollen, in der Tausende von jungen Männern und auch Zivilisten, Frauen und Kinder umkommen. Wir müssen klar sagen: Beendet das so schnell wie möglich, ohne damit eine Annexion rechtlich anzuerkennen. 

Gewinnt die Vorstellung, man müsse Sicherheit militärisch herstellen, wieder Oberhand? 
Ich sehe bei uns keine Militärbegeisterung, sondern ein achtsames Vorgehen der Politik. Aber wenn man den Weg der Hochrüstung einschlägt, und wir sind dabei, dann ist es wahnsinnig schwierig, wieder umzukehren. Und wir verbrauchen dann Mittel für etwas, was heute gar nicht die größte Sicherheitsbedrohung ist. Die liegt vielmehr in Fragen der Gerechtigkeit, des Klimaschutzes und den anderen großen Herausforderungen, die die Weltgemeinschaft mit den UN-Nachhaltigkeitszielen benannt hat.

Das Gespräch führte Bernd Ludermann.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2023: Religion und Frieden
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