Laienbrüder und Friedensstifter

Alberto Pizzoli/AFP via Getty Images
Neue Kämpfe verhüten: Anfang 2020 treffen sich in Rom Vertreter der Regierung des Südsudan (links Barnaba Marial Benjamin) bei Sant’Egidio (in der Mitte Paolo Impagliazzo) mit Oppositionsgruppen. Rechts Pagan Amum von South Sudan Reborn, einer Organisation, die dem Südsudan zu Frieden  verhelfen will. 
Religiöse Mediation
Die katholische Gemeinschaft Sant’Egidio vermittelt in Kriegen hinter den Kulissen – zum Teil recht erfolgreich. Liegt das an ihrer religiösen Verankerung oder eher an Ausdauer und Beharrlichkeit?

Am 21. November 2022 schickt Barnaba Marial Benjamin aus der südsudanesischen Hauptstadt Juba einen Brief an die Gemeinschaft Sant’Egidio in Rom. Darin kündigt der Minister im Präsidialamt – die rechte Hand des Präsidenten – an, die Gespräche der Regierung mit Rebellen abzubrechen. Gemeint sind jene Gespräche, die dem Land im Bürgerkrieg zumindest zweieinhalb Jahre lang brüchige Stabilität in Form einer Waffenruhe beschert haben. Man habe versucht, „dem südsudanesischen Volk dauerhaften Frieden zu bringen“, schreibt Marial. Allerdings könne man sich nicht mit Regierungsgegnern einigen, die sich schon auf den nächsten Krieg vorbereiteten. 4500 Kilometer weiter nördlich, in Rom, schrillen die Alarmglocken. 

Anfang Februar, als dann Papst Franziskus den Südsudan besucht, betont er: „Die Zeit ist gekommen, sich nicht länger von der Strömung des Hasses, des Stammesdenkens, der Kleinstaaterei und ethnischer Unterschiede treiben zu lassen.“ Drei Tage lang ist er gemeinsam mit dem anglikanischen Erzbischof Justin Welby und dem Moderator der Church of Scotland, Iain Greenshields, in Juba zu Gast; Katholiken und Anglikaner sind die größten christlichen Konfessionen im Südsudan. Vier Jahre zuvor hat Franziskus Präsident Salva Kiir Mayardit und seinen Rivalen und ehemaligen Rebellenführer Riek Machar in Rom empfangen. Die Bilder der Papstaudienz gingen damals um die Welt: Da lag der geistliche Führer von 1,3 Milliarden Katholiken den beiden Kriegstreibern des afrikanischen Landes zu Füßen, küsste ihre Schuhe und bat die beiden um Frieden. 

„Doch noch bevor Franziskus überhaupt zum Papst gewählt wurde, hat die internationale Gemeinschaft Sant’Egidio, eine von Laien geleitete katholische Wohlfahrtsorganisation in Rom, für diesen historischen Moment den Weg bereitet“, so der US-amerikanische „National Catholic Reporter“ im Mai 2022. Sant’Egidio engagiert sich weltweit zum Beispiel in der Flüchtlingsbetreuung und im Kampf gegen HIV/Aids. Ihre Arbeit hinter den Kulissen hat der 1968 gegründeten Organisation einen besonderen Spitznamen eingebracht: Die „Vereinten Nationen von Trastevere“. 

Frieden schaffen – mit „sanfter Macht“

Autor

Markus Schönherr

ist freier Korrespondent in Kapstadt und berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Magazine aus dem südlichen Afrika.
Das ist eine Anspielung einerseits auf ihre Zentrale in dem gleichnamigen römischen Stadtbezirk, andererseits auf ihre unnachgiebige Suche nach Lösungen für die Konfliktherde dieser Welt. Guatemala, Kosovo, Niger, Senegal und die Zentralafrikanische Republik sind nur einige der Länder, in denen die katholischen Diplomaten bisher zwischen Kriegsgegnern vermittelt haben. So unterzeichneten 1992 die Regierung von Mosambik und die bewaffnete Opposition auf Sant’Egidios Bestreben den Friedensvertrag von Rom. Damit beendeten sie in der ehemaligen portugiesischen Kolonie einen 16 Jahre dauernden Bürgerkrieg. Der Frieden zwischen der regierenden FRELIMO und der Oppositionspartei RENAMO hält bis heute, auch wenn der Norden des Landes seit 2017 unter islamistischem Terror leidet.

„Wir haben weder politische noch wirtschaftliche Interessen“, sagt Mauro Garofalo, Chef für Internationale Beziehungen bei Sant’Egidio. „Unser einziges Ziel ist es, Frieden zu schaffen.“ Das versuche die Organisation durch „sanfte Macht“ zu erreichen, also mit Gesprächen mit allen politischen und bewaffneten Beteiligten an einem Konflikt sowie Bürger-, Kirchen- und Kulturvertretern. Ohne Vorbehalte, ohne Vorurteile. „Wir haben die Neutralität auf unserer Seite“, betont Garofalo. Zudem entscheide man nicht von sich aus, als Vermittler tätig zu werden, sondern folge der „Notwendigkeit“ und den „Hilferufen“ vor Ort.

An der Seite aller Benachteiligten: Freiwillige von Sant’Egidio servieren in Genua ein Weihnachtsessen für Obdachlose, Arme und Migranten.

Die Hilferufe aus Nordostafrika waren laut und deutlich. Von 1983 bis 2005 kämpfte im damaligen Sudan die Sudanesische Volksbefreiungsarmee (SPLA) gegen die Regierung in Khartum, schätzungsweise zwei Millionen Menschen starben in dem Bürgerkrieg. 2011 wurde der mehrheitlich christliche Südsudan unabhängig vom mehrheitlich islamischen Norden. Doch die Euphorie währte nur kurz: Bereits zwei Jahre später zerstritten sich Staatspräsident Kiir und Vizepräsident Machar so sehr, dass letzterer mit seinen Rebellen gegen die Regierungsarmee in den Krieg zog. Das führte zu blutigen Kämpfen zwischen Präsident Kiirs Volksgruppe der Dinka und Machars Gruppe der Nuer. Der Konflikt forderte etwa eine halbe Million Leben und Millionen Vertriebene. 

Inzwischen regieren Kiir und Machar wieder in einer gemeinsamen Übergangsregierung. Möglich machte dies ein 2018 vom ostafrikanischen Staatenbund IGAD vermitteltes Friedensabkommen. Wahlen gab es bisher aber nicht. Und von einem kompletten Schweigen der Waffen ist die jüngste Nation auch immer noch weit entfernt.

Die Beziehung mit dem Südsudan hat tiefe Wurzeln

Laut Garofalo reicht die „Freundschaft“ zwischen Sant’Egidio und dem Südsudan in die Zeit zurück, als der als Staat noch gar nicht existierte. Man habe schon mit dem Revolutionsführer und Freiheitshelden John Garang de Mabior (1945–2005) zusammengearbeitet, um später den Südsudan in die Unabhängigkeit zu begleiten. In den letzten fünf Jahren habe man die Verbundenheit genutzt, um einen „noch inklusiveren Prozess“ zu starten: die sogenannten Rom-Gespräche

Denn der Südsudan bleibt bis heute zersplittert. Dutzende bewaffnete regionale und ethnische Gruppen kämpfen um Ressourcen wie Weideland, Wasser und Viehherden und um politischen Einfluss. Gekämpft wird mit Kalaschnikows, Macheten und Knüppeln. 2020 haben Kiirs Regierung und Rebellengruppen, die nicht Teil des Friedensabkommens von 2018 waren, die „Erklärung von Rom“ unterzeichnet. Darin stimmen sie überein, einstweilen die Waffen niederzulegen und unter Vermittlung von Sant’Egidio weiter zu verhandeln. Für das „jahrzehntelange“ Engagement sei man der katholischen Gemeinschaft dankbar, erklärten die Unterzeichner.

Dass die Regierung diesen Dialog nun zum Jahresende 2022 abgebrochen hat, sieht man bei Sant’Egidio nur als vorübergehenden Rückschlag. Tatsächlich verkündete ein Regierungssprecher nur wenige Stunden vor der Ankunft des Papstes, die Gespräche fortsetzen zu wollen – ein deutliches Zeichen an den Gast, wie Beobachter vermuten. Auch bei Sant’Egidio sei man von Papst Franziskus inspiriert. „Er setzt sich außerordentlich für Konfliktlösungen und Frieden ein“, so Garofalo. 

Mehr Vertrauen in kirchliche als in weltliche Mediatoren

Wie neutral aber sind die religiösen Friedensmacher? Und haben sie einen Vorteil gegenüber weltlichen Konfliktvermittlern? Für den britischen Autor und Südsudan-Experten John Ashworth steht fest: „Im Großteil der Welt vertraut man der Kirche noch als objektivem und ehrlich unparteilichem Vermittler – im Gegensatz zu vielen Regierungen und den Vereinten Nationen.“ Ähnliches gilt auch für Vertreter anderer Religionen. Außerdem verfolgen religiöse Mediatoren nach Ashworths Erfahrung einen „umfassenderen Ansatz“ als weltliche Diplomaten; auch Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften würden einbezogen. Das spreche in Konfliktländern weite Teile der Gesellschaft an. 

Das bestätigt Richard Moncrieff, der Regionaldirektor der International Crisis Group (ICG). Ihm zufolge verleiht die Verbindung zum Vatikan Sant’Egidio „zusätzliche Legitimität“ bei Friedenseinsätzen. Ein Hindernis, mit dem die Organisation jedoch zu kämpfen habe, seien knappe Ressourcen. So mangele es dem Kirchenverein sowohl an der Diplomatenschar, mit der etwa die UN oder Staatenbündnisse in Friedensgespräche ziehen, als auch an deren großzügigem Budget. Sant’Egidio hat etwa 50.000 Mitglieder in über 70 Ländern und wird zum Großteil aus Projektförderungen und Spenden finanziert. 

Nichtsdestotrotz könne Sant’Egidio einige Erfolge verbuchen, wie 1992 mit dem Friedensabkommen, das den Bürgerkrieg von Mosambik beendete, oder 2020 im Südsudan, sagt Katherine Marshall. Sie forscht am „Berkeley Centre für Religion, Frieden und Weltgeschehen“ an der Universität Georgetown. Die katholische Laiengemeinschaft ist schon seit etlichen Jahren Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Der religiöse Charakter verleihe Sant’Egidio nicht automatisch Glaubwürdigkeit, meint Marshall. „Es ist eher die Hingabe, mit der Sant’Egidio Freundschaften und Langzeitbeziehungen pflegt, sowie ihre Ausdauer. Diese beiden Dinge erklären im Großen und Ganzen, weshalb sich die Gemeinschaft immer wieder in wichtigen Vermittlerrollen findet.“ 

Geduld als „wichtigste Eigenschaft eines Vermittlers“

Dabei sei für das Ergebnis egal, ob Sant’Egidio im überwiegend christlichen Südsudan vermittelt oder etwa im vorwiegend muslimischen Tschad. 52 Prozent der Bewohner dieses Sahellandes sind Muslime, 44 Prozent Christen. Auch hier herrscht ein Konflikt zwischen der Regierung und nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen. Seit 2021 befindet sich der Wüstenstaat im Ausnahmezustand. Damals rückten bewaffnete Rebellen immer näher an die Hauptstadt N’Djamena heran. Als der langjährige Staatschef an der Front starb, putschte sich sein Sohn mithilfe der Soldaten an die Staatsspitze. Den 16 Millionen Einwohnern versprach der neue Machtherr eine demokratische Zukunft und Wahlen. Doch im vergangenen Oktober gingen Tausende Menschen auf die Straßen N’Djamenas, um dagegen zu protestieren, dass die Übergangsregierung zwei weitere Jahre im Amt bleiben will. Bei den Protesten starben 50 Menschen, Hunderte wurden verletzt. „Die Gewalt gegen die Demonstranten war extrem und unverhältnismäßig“, kritisierte der Zentralafrikadirektor von Human Rights Watch (HRW), Lewis Mudge.

Sant’Egidio-Chefdiplomat Garofalo weiß, was auf dem Spiel steht: „Die Stabilität des Tschad ist enorm wichtig für die Sahelregion und Zentralafrika.“ Deshalb ist er in den vergangenen zwei Jahren wiederholt zwischen Rom und N’Djamena hin- und hergependelt, hat den neuen Präsidenten Mahamat Déby und Dutzende Oppositionsvertreter getroffen. „Wir wollen den Dialog erleichtern, was nach der Verlängerung der Übergangsregierung noch wichtiger geworden ist“, sagt er. Die Wahlverschiebung habe alte Wunden aufgerissen. Deshalb wolle man bei den Treffen unter Sant’Egidios Aufsicht einen „Raum schaffen, in dem sich alle Beteiligten offen und im Vertrauen austauschen können“ – abseits von Kameras und ohne Waffen. Doch es bleibe ein „komplizierter Prozess“. Und aus dem wollen weder die Militärführer noch die Opposition oder die Zivilgesellschaft als Verlierer hervorgehen. Geduld ist laut Garofalo die „wichtigste Eigenschaft eines Vermittlers“. 

Sant’Egidio hat mehr als 30 Jahre Erfahrung in der Konfliktbewältigung – ein Wissen, das die Verantwortlichen jetzt teilen wollen. 2019 haben sie dafür die „Stiftung für Frieden und Dialog“ mit Sitz in New York gegründet. Sie richtet sich nicht nur an US-Politiker und US-Organisationen, sondern auch an UN-Institutionen. In Vorträgen und Gesprächskreisen stellt Sant’Egidio seine Arbeit vor und berät mit Akademikern und Politikern über Erfolge und Fehler der weltweiten Konfliktbeilegung. Andere sollen ermutigt werden, Sant’Egidios Credo aufzunehmen: Friedensschaffung nicht aus politischem oder wirtschaftlichem Interesse, sondern um des Friedens willen.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2023: Religion und Frieden
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