Der Artikel beruht auf zwei englischen Beiträgen der Autorin, Nutzung mit freundlicher Genehmigung von Project Syndicate.
Es gilt als ausgemacht, dass die westlichen Industrieländer ihren Wohlstand neben guter Regierungsführung der Eindämmung von Korruption verdanken. Gestützt wird die Ansicht durch Vergleichsstudien, die auf globalen Kennzahlen zur Korruptionswahrnehmung beruhen. Sie kommen einhellig zu dem Schluss, dass Korruption das Wirtschaftswachstum hemmt.
Nicht in dieses Bild passt aber China, das seit der Wende zum Kapitalismus in den 1980er Jahren von einem der ärmsten Länder der Welt zur zweitgrößten Volkswirtschaft aufgestiegen ist. Dieser Weg war von einer endlosen Reihe von Korruptionsskandalen gesäumt. Wie konnte die chinesische Wirtschaft trotzdem so rasant wachsen?
Um das zu erklären, muss man die Frage anders stellen und zunächst die Aussagekraft globaler Korruptionskennziffern prüfen. Meist wird Korruption fälschlicherweise als eindimensionales Problem aufgefasst, und Indizes wie der Korruptionswahrnehmungsindex (CPI) von Transparency International und der Korruptionskontrollindex der Weltbank weisen jedem Land einen einzigen Wert zu. Sie stufen reiche Länder durchweg als weitgehend korruptionsfrei ein und arme Länder als hochgradig korrupt. So hat Großbritannien im CPI von 2023 einen Korruptionsindex von 71 – dabei hieße 100 völlig sauber –, China hat einen deutlich schlechteren Index von 42, Brasilien von 36. Medien, Unternehmen und Analysten übernehmen diese Einstufungen meist unhinterfragt.
Institutionalisierte Korruption im Rahmen von Gesetzen
Solche undifferenzierten Kennzahlen lenken aber davon ab, dass es völlig unterschiedliche Arten von Korruption gibt, die sich nicht auf einen Wert reduzieren lassen. Zudem unterschätzen sie systematisch, was ich als Korruption der Reichen bezeichne. Die unterscheidet sich darin von der Korruption der Armen, dass sie tendenziell im Rahmen von Gesetzen stattfindet und institutionalisiert ist, jedoch ethisch fragwürdig.
In ärmeren Ländern hat Korruption üblicherweise eindeutig illegale Formen wie Diebstahl öffentlicher Gelder und Bestechung. In wohlhabenden Ländern denken viele, solche Probleme seien verschwunden. Dass dies eher Wunschdenken als Realität ist, zeigt auch der wachsende Populismus in Demokratien mit hohem Pro-Kopf-Einkommen: Er lässt sich zum guten Teil verstehen als Gegenreaktion auf die enormen Vorteile, die Reiche und politisch Vernetzte genießen. Zum Beispiel ging laut der New York Times während der Corona-Pandemie in England die Hälfte der staatlichen Beschaffungsaufträge für medizinische Güter über einen speziellen „VIP-Kanal“ an Unternehmen, „die von Freunden und Bekannten von Politikern geführt wurden“.
Wieso stuft dann der CPI Großbritannien als wenig belastet ein? Der Indexwert ergibt sich nicht aus eigenen Untersuchungen von Transparency International, sondern aus einer Kombination verschiedener Studien Dritter. Sie stammen zum größten Teil von westlichen Organisationen wie der Economist Intelligence Unit und stützen sich in der Regel stark auf Umfragen unter westlichen Geschäftsleuten. Zudem sind die Fragen oft vage formuliert. So lässt das World Competitiveness Yearbook, eine der Quellen des CPI, Führungskräften aus der Wirtschaft nur die Wahl zwischen einem schlichten „Ja“ oder „Nein“ auf die Frage, ob in einem Land Bestechung und Korruption vorliegen.
Von Schmiergeld bis zu hohen Bestechungssummen für Staatsaufträge
Trotz vielfacher Kritik (auch vom Ersteller des CPI selbst) an diesen konventionellen Kennziffern gibt es bisher keine Alternativen dazu. Daher habe ich den „Unbundled Corruption Index“ (UCI) entwickelt. Auch der beruht hauptsächlich auf Einschätzungen von Experten, aber er unterscheidet vier verschiedene Arten von Korruption: kleiner Diebstahl (Beamte auf der Straße fordern Bakschisch – Schmiergeld –), großer Diebstahl (Politiker unterschlagen öffentliches Geld), Beschleunigungsgeld (kleine Bestechungssummen, um bürokratische Hürden oder Schikanen zu umgehen) und Zugangsgeld (hohe Bestechungssummen, um lukrative Vorteile zu erhalten wie Staatsaufträge oder Subventionen).
Die ersten drei Arten von Korruption sind in armen Ländern weit verbreitet, unzweifelhaft rechtswidrig und klar schädlich. Dagegen kann Zugangsgeld gesetzwidrig sein wie bei Bestechung, aber auch völlig legal wie bei der Wahlkampffinanzierung. An ausgeklügelten Methoden, sich Vorrechte zu kaufen, können ganze Institutionen beteiligt sein, in denen niemand persönlich korrupt ist. Geldwäsche zum Beispiel, für die London eine bekannte Drehscheibe ist, wird in der Regel von angesehenen Finanzinstituten ermöglicht, die hohe Summen über Landesgrenzen transferieren. In den USA wendet der Bankensektor Milliarden Dollar für Lobbyarbeit auf, um strengere Regulierung abzuwenden. Dies hat unter anderem zur Finanzkrise von 2008 geführt.
Der UCI stützt sich auf spezielle Expertenbefragungen, um alle vier Arten von Korruption einzuschätzen. Ich verwende standardisierte Fallbeispiele, um abzufragen, wie verbreitet bestimmte typische Szenarien der Korruption sind. Erste Ergebnisse, die 15 Länder abdecken, zeigt die Grafik. Der zusammengefasste UCI-Gesamtwert für jedes Land steht oben und ist aufgeteilt nach den vier Korruptionskategorien, wobei die vorherrschende Korruptionsart farbig hervorgehoben ist.
So kann man nicht nur das Gesamtniveau der wahrgenommenen Korruption vergleichen, sondern auch die Art und Ausprägung von Korruption in einzelnen Ländern. Man erkennt: Beschleunigungsgeld kommt gehäuft in ärmeren Ländern vor, Zugangsgeld wird dagegen in armen wie reichen Ländern gezahlt.
Die USA und China im Vergleich
Aufschlussreich ist der Vergleich zwischen den USA und China. Das Gesamtniveau der Korruption ist in den USA geringer, aber der Unterschied ist am kleinsten in der Kategorie Zugangsgeld, der vorherrschenden Korruptionsart in beiden Ländern. Diese ist dem UCI zufolge in den USA stärker verbreitet als in Ländern mit niedrigerem Wohlstand wie Thailand und Ghana.
Autorin
Yuen Yuen Ang
ist Professorin für politische Ökonomie an der Johns Hopkins University in den USA und Autorin der Bücher „How China Escaped the Poverty Trap“ und „China‘s Gilded Age“. Ihre Vortragsreihe dazu ist auf www.ineteconomics.org/und auf YouTube verfügbar.Zudem herrschen in den USA und China unterschiedliche Formen des Zugangsgelds vor. Dass Bestechungsgeld an persönliche Netzwerke von Politikern geht, wird in China als häufiger eingestuft. In den USA sind hingegen stärker Drehtürpraktiken verbreitet, also ein direkter Wechsel zwischen Posten in der Politik und der Wirtschaft, der mit Einflussnahme von Lobbyisten auf Regulierungsprozesse verbunden ist. Kurz: Zugangsgeld ist in den USA eher institutionell verankert, in China dagegen in persönlichen Beziehungen, in denen Bestechung und gehortetes Bargeld eine Rolle spielen. Korruption ist in China nicht unbedingt verbreiteter als in den USA, aber sie hat dort eine andere Qualität.
Dass man sich auf eindimensionale Indikatoren wie den CPI verlassen hat, hat ein wichtiges historisches Muster dem Blick entzogen: Kapitalistische Großmächte wie die USA haben Korruption nicht unbedingt beseitigt, sondern sie zu einem legalisierten Tauschgeschäft unter den Eliten entwickelt – und das mündet oft in Finanzblasen.
Zwischen 1870 und 1900 erlebten die USA eine Zeit hohen Wirtschaftswachstums. In diesem „Gilded Age“ (vergoldetes Zeitalter) stampften Kapitalisten Hand in Hand mit Politikern neue Industriezweige aus dem Boden und häuften dabei enorme Reichtümer an. Manche Politiker waren selbst Kapitalisten – so der Räuberbaron Leland Stanford, nach dem die Stanford University benannt ist. Er nutzte seine Stellung als Gouverneur von Kalifornien, um das Parlament zu Subventionen für seine Eisenbahnprojekte zu drängen, strich die Gewinne ein und wälzte Verluste auf die Gesellschaft ab. Seine Mitarbeiter waren dafür bekannt, in prall gefüllten Koffern Aktien seiner Firmen herumzutragen, um Politiker zu bestechen.
46 Milliarden Dollar für Lobbyarbeit
Im Laufe von zwei Jahrhunderten hat sich in Amerika die Korruption von kleinem Diebstahl und kleiner Bestechung hin zu legalisiertem Zugangsgeld entwickelt. Die Skandale während des Gilded Age lösten in der sogenannten Progressiven Ära zwischen 1900 und 1920 durchgreifende Verwaltungsreformen aus. Die Progressiven ersetzten den politischen Filz durch einen professionellen Staatsdienst, dessen Vertreter es nicht mehr nötig hatten, sich für Gefälligkeiten bezahlen zu lassen. Transparenz und Pflichten zur Rechnungslegung beschränkten den Missbrauch öffentlicher Gelder, und Skandaljournalisten deckten Machtmissbrauch auf.
Doch die Eisenbahngesellschaften, die lukrativsten Unternehmen jener Zeit, verstärkten und professionalisierten dann ihre Lobbyarbeit. Statt Politiker direkt zu bestechen, heuerten sie Gruppierungen mit Beziehungen in Washington an, um Subventionen, Streckenkonzessionen und andere Vorteile zu erhalten. An den Grundzügen dieses Systems hat sich bis heute wenig geändert. Zwischen 2015 und 2023 wurden in den USA 46 Milliarden Dollar für Lobbyarbeit in den Einzelstaaten und auf der Ebene des Bundesstaates ausgegeben. Eine Studie von Ökonomen des Internationalen Währungsfonds kommt zu dem Ergebnis, dass US-Banken, die mehr Lobbyarbeit betrieben, auch riskantere Finanzgeschäfte machten und nach der Krise des Jahres 2008 stärker von Rettungsmaßnahmen profitierten.
Eine ähnliche Entwicklung hat China seit den 1980er Jahren durchgemacht. In der Frühphase der damals eingeleiteten Entwicklung waren Diebstahl, kleine Bestechung und Erpressung verbreitet. Mit den Reformen der 1990er Jahre, die die Verwaltung stärkten, verbesserten sich dann die Kontrollmöglichkeiten des Staates. Unterschlagung und Veruntreuung öffentlicher Mittel waren in dieser Phase ein weit größeres Problem als Bestechung, für die man vom Staatsdiener eine Gegenleistung erwartet. Doch innerhalb eines Jahrzehnts kehrte sich das Muster dann um: Veruntreuung ging zurück, Bestechung – speziell Zugangsgeld – nahm explosionsartig zu. Dabei flossen immer größere Summen an Beamte aus immer höheren Rängen. Anders als in den USA sind solche Zahlungen in China nach wie vor illegal und eingebettet in persönliche Beziehungen.
Unterschiedliche Arten von Korruption, unterschiedliche Schäden
Wichtig ist, dass unterschiedliche Arten von Korruption auch sehr unterschiedliche Schäden anrichten. Kleiner und großer Diebstahl sind für die Wirtschaft wie giftige Drogen, sie zersetzen sie auf Dauer. Beschleunigungsgeld, also kleine Bestechung, wirkt eher wie ein Schmerzmittel: Es kann kleinen Firmen helfen, bürokratische Hürden zu überwinden, fördert aber nicht ihr Wachstum. Zugangsgeld kann man hingegen mit Anabolika vergleichen: Unternehmen überschütten Politiker mit hohen Summen, um sich lukrative Vorrechte und Vergünstigungen zu verschaffen.
Die Firmen werden so reich, aber mit der Zeit treten gefährliche Nebenwirkungen auf. Beispielsweise konzentrierte sich Chinas Entwicklungsmodell seit den 1980er Jahren auf das Bruttoinlandsprodukt, ohne auf die Qualität des Wachstums zu achten. Das System schuf für Regierende Anreize, perverse Formen des Wachstums zu verfolgen, die den Gewinn für sie selbst und ihre Klientel auf Kosten der Allgemeinheit steigerten. So verkauften ab den 2000er Jahren Kommunalverwaltungen Land und investierten Unsummen in Immobilien, weil das der einfachste Weg war, gleichzeitig die öffentlichen Kassen und ihre eigenen Taschen zu füllen. Sie hatten aber wenig Anreize, preisgünstigen Wohnraum für die große Zahl von Wanderarbeitern vom Land zu schaffen, die in den Fabriken und auf den Baustellen schufteten. Die Folge war, dass Millionen Arbeiterfamilien keinen bezahlbaren Wohnraum fanden, während die Reichen leerstehende Luxuswohnungen aufkauften.
Auf dem Höhepunkt dieses Booms konnten Chinas Immobilienentwickler mit Rückendeckung der Politik immer größere Baugrundstücke und billige Kredite ansammeln; die Aufsichtsbehörden sahen über riskante Geschäftspraktiken wie den Verkauf von Häusern vor Fertigstellung hinweg oder förderten sie gar. Zahllose Politiker beteiligten sich an dieser zwei Jahrzehnte währenden Jagd nach dem schnellen Geld. Zum Beispiel wird gegen den früheren Justizminister Tang Yijun wegen seiner Verbindungen zu Evergrande ermittelt, dem Immobilienriesen, der 2023 Insolvenz anmeldete.
Mit dem billigen Geld für die Baubranche war es vorbei, als 2020 die chinesische Regierung die Kreditaufnahme beschränkte, um die übermäßige Verschuldung des Immobiliensektors einzudämmen. Damit begann das Kartenhaus zusammenzufallen. Eine der ersten Pleiten erlebte Evergrande, dessen Gründer Hui Ka Yan einst als der reichste Mann Asiens gegolten hatte. Viele Familien, die ihre Ersparnisse in den Kauf von Evergrande-Wohnungen gesteckt hatten, sind nun obdachlos, Lieferanten wurden nicht bezahlt. Die Folge war eine Spirale aus Verschuldung, Arbeitslosigkeit und dem Einbruch des privaten Konsums.
Präsident Xi Jinping hat Chinas Gilded Age von seinen Vorgängern geerbt. Während für frühere chinesische Staatsoberhäupter die Hauptaufgabe war, mittels Wirtschaftswachstum Armut zu bekämpfen, muss Xi nun gegen die Folgen von Vetternwirtschaft und Spekulationsblasen vorgehen. Um die Auswüchse des Kapitalismus zu zügeln und den Übergang zu einer sauberen, qualitativen, auf technologischer Innovation beruhenden Entwicklung voranzutreiben, setzt er auf Befehl und Kontrolle. Im Unterschied zu den progressiven Politikern, die so etwas vor einem Jahrhundert in den USA versuchten, weist er aber politischen Aktivismus aus der Bevölkerung und investigativen Journalismus zurück, die helfen könnten, das Problem zu lösen.
Kumpanen-Kapitalismus versus Plünderungsstaat
Das Beispiel China zeigt: Die weit verbreitete, auf globale Indizes gestützte Annahme, dass Korruption das Wirtschaftswachstum behindert, ist eine grobe Vereinfachung. Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Staaten wie den USA und China in ihrer jeweiligen Gilded-Age-Phase und einem Plünderungsstaat wie Nigeria. Der entscheidende Unterschied liegt in der Art der Korruption: In den USA und China wurden mit der Zeit Gangstertum und Diebstahl durch einen ausgeklügelten Austausch von Macht und Profit ersetzt, während Nigeria nach wie vor von ungezügelter staatlicher Ausplünderung der Wirtschaft geplagt wird, die den Reichtum des Landes auffrisst.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Dass in wohlhabenden Ländern Zugangsgeld gezahlt wird, bedeutet keineswegs, dass dies das Wirtschaftswachstum fördert. Vielmehr muss man Zugangsgeld als zentrales Merkmal eines Kumpanen-Kapitalismus (crony capitalism) betrachten. Der bewirkt exzessive Risiken und Verzerrungen in der Wirtschaft, die zu Krisen führen wie der asiatischen Finanzkrise von 1997, der US-Finanzkrise von 2008 und der heutigen Immobilienkrise in China. Das amerikanische wie das chinesische Gilded Age haben den Lebensstandard von Hunderten Millionen Menschen angehoben, aber dieses Wachstumsmodell hat sich als sozial unausgewogen und auf Dauer nicht tragfähig erwiesen.
Und Entscheider in Entwicklungsländern sollten aus der Geschichte der reichen Länder keine zu einfachen Lektionen ableiten. Korruption zu bekämpfen ist unerlässlich, aber nicht ausreichend, um Wirtschaftswachstum zu erreichen. Die verschiedenen Arten von Korruption zu unterscheiden, lenkt auch den Blick auf einige der dringendsten Probleme in den kapitalistischen Demokratien wie Zunahme der Ungleichheit, Schwinden des Vertrauens zum Staat und das, was die Leiterin der US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit (USAID) Samantha Power „moderne Korruption“ nennt: transnationale Netzwerke für illegale oder anrüchige Finanzgeschäfte. Will man diese Probleme angehen, dann muss man sie richtig messen, statt zu tun, als gäbe es sie nicht.
Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.
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