In der Lagune von Lagos, vor der nigerianischen Küste, liegt Banana Island. Die künstliche Insel, im Jahr 2000 erbaut, strahlt Eleganz aus: Millionenschwere Appartementhäuser mit prunkvoller Innenausstattung, Swimmingpools und exotische Autos zeugen vom Luxus dieser Gated Community. Hier leben die Superreichen, darunter einige Milliardäre Nigerias und etwa 10.000 Millionäre.
Nur eine kurze Bootsfahrt von Banana Island entfernt, auch in der Lagune, gibt es noch eine weitere Siedlung: Makoko. Die Welt sieht hier völlig anders aus: Makoko besteht vor allem aus Hütten aus billigen Materialien wie Pappe, Plastiktüten und Palmblättern, die auf Stelzen im Wasser stehen.
Das Leben an diesem Ort ist ungesund: kein sauberes Wasser, keine sanitären Einrichtungen und keine Gesundheitsversorgung. Müll und andere menschliche Abfälle werden ins Wasser entsorgt, als Folge hängt ein widerlicher Geruch in der Luft. Makoko wird als der größte schwimmende Slum der Welt bezeichnet.
Makoko und Banana Island liegen in unmittelbarer Nachbarschaft. Das symbolisiert Nigerias Paradox: das Nebeneinander von extremem Reichtum und extremer Armut. Nigeria ist einer der größten Erdölexporteure der Welt. Doch der immense Reichtum des Landes kommt nur wenigen Menschen zugute, die Mehrheit in diesem Land mit seinen mehr als 200 Millionen Einwohnern lebt in großer Armut. Die ungleiche Verteilung von Reichtum hat die Mittelschicht verschwinden lassen; die meisten Menschen gehören entweder zur Ober- oder zur Unterschicht.
20 Billionen Dollar aus der Staatskasse entwendet
Etwas mehr als die Hälfte der nigerianischen Öleinnahmen geht an multinationale Unternehmen wie Royal Dutch Shell und lokale Ölgesellschaften, die hauptsächlich von superreichen Nigerianern geführt werden. Der andere Teil geht an die Regierung. Die Korruption in Nigeria bietet Schlupflöcher, die Amtsträger und Politiker nutzen, um sich den Reichtum des Landes anzueignen. Sie schreiben Aufträge zu überhöhten Preisen aus und kassieren dann ab, obwohl die Verträge nicht erfüllt wurden. Der ehemalige Militärdiktator Sani Abacha, 1998 gestorben, erbeutete illegal Milliarden Dollar. Davon hat sich Nigeria bislang rund sechs Milliarden Dollar von Konten in aller Welt wiedergeholt. Viele Nigerianer glauben jedoch, dass dies nur ein Bruchteil dessen ist, was Abacha und seine Kumpane während seiner Amtszeit von 1993 bis 1998 beiseitegeschafft haben.
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Einem Bericht von Oxfam zufolge haben nigerianische Amtsinhaber zwischen 1960 und 2005 rund 20 Billionen Dollar aus der Staatskasse gestohlen. Aus dem Bericht geht hervor, dass der reichste Mann Nigerias an einem Tag mehr als das 8000-fache dessen verdient, was den ärmsten zehn Prozent der Nigerianer im Durchschnitt in einem Jahr für ihren Lebensunterhalt zur Verfügung steht.
Wahlsiege dank gekaufter Stimmen und gestohlenem Geld
Das Leben auf Banana Island ist typisch für das Leben der Reichen in Nigeria. Sie reisen mit Privatjets, lassen sich im Ausland medizinisch behandeln oder machen dort Urlaub. Ihre Kinder besuchen erstklassige Schulen im Ausland. Im Gegensatz dazu fehlt es vielen Armen – wie den Menschen in Makoko – an grundlegenden Annehmlichkeiten. Teilweise müssen ihre Kinder unter Bäumen unterrichtet werden, weil es keine Schulen gibt.
Reiche Politiker nutzen die Armut der Menschen oft aus, um Wahlen zu gewinnen. Politiker kaufen Stimmen oder lassen Leute gegen Geld als Wahlkampfhelfer für sich arbeiten. Manche finanzieren ihre Kandidatur bequem mit gestohlenem Geld aus öffentlichen Kassen oder von reichen Sponsoren, die ihre wirtschaftlichen Interessen sichern wollen. Für ehrliche Menschen, die nicht über die nötigen Mittel verfügen, ist es schwierig, eine Wahl zu gewinnen.
Die ungleiche Verteilung des Reichtums im Lande erfüllt die Nigerianer mit Sorge. Sie fordern von der Regierung, dass sie die Reichen konsequent besteuert, damit ein Teil ihrer hohen Einkünfte den Armen zugutekommt, so wie es im Prinzip in Europa gemacht wird. Aber in Nigeria nutzen die Reichen den Mangel an Transparenz und Rechenschaftspflicht im Steuersystem aus, um Steuern zu hinterziehen. Durch heimliche Zusammenarbeit mit Freunden in der Regierung verschafft sich manch einer Steuererleichterungen oder vermeidet Steuerzahlungen.
Die reichste Frau Afrikas stiftet für Witwen und Waisen
Ende letzten Jahres hat die Bundessteuerbehörde reiche Nigerianer beschuldigt, ihr Einkommen zu niedrig angegeben zu haben. Ein Sprecher der Behörde sagte, dass in den 36 nigerianischen Bundesstaaten, in denen die Landesregierungen die Einkommenssteuer einziehen sollen, die Reichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie die Höhe ihres Einkommens falsch deklarieren. Denn die Landeschefs könnten sonst ihre politische Unterstützung verlieren.
Einige reiche Nigerianer betreiben Wohltätigkeitsorganisationen, mit denen sie die Armen unterstützen, zum Beispiel in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Dazu gehört Aliko Dangote, der reichste Mann Afrikas, er besitzt in Nigeria praktisch ein Monopol auf Zement. Dangote unterhält die private Wohlfahrtsstiftung Aliko Dangote Foundation. Folorunsho Alakija, die reichste Frau Afrikas und stellvertretende Vorsitzende des nigerianischen Ölkonzerns Famfa, hat die Rose of Sharon Foundation ins Leben gerufen, die armen Witwen und Waisen hilft. Doch nach Ansicht mancher Nigerianer reichen solche privaten Initiativen zur Armutsbekämpfung nicht aus.
Im Jahr 2019 richtete die nigerianische Regierung das Bundesministerium für humanitäre Angelegenheiten, Katastrophenmanagement und soziale Entwicklung ein, um die Not der Armen zu lindern. Die Arbeit des Ministeriums wurde jedoch von der weit verbreiteten Korruption der Behörden behindert, was schließlich dazu führte, dass die Programme gestoppt wurden. Mehrere Spitzenbeamte des Ministeriums wurden verhaftet oder vom Dienst suspendiert, nachdem die Economic and Financial Crimes Commission (EFCC) ihre Aktivitäten untersucht hatte. Laut der EFCC hatten die Untersuchungen die mutmaßliche Veruntreuung von Geldern und die Verbindung dieser Beamten damit zutage gefördert. Auf privaten Bankkonten hatte man rund 30 Millionen Dollar entdeckt, die dorthin transferiert worden waren.
Wütende Proteste und eine geplante Steuerreform
Da die Wirtschaftskrise und die steigenden Lebensmittelpreise den Armen das Leben schwer machen, kam es Anfang 2024 im ganzen Land zu wütenden Protesten. Um die Wut zu dämpfen, verteilten die Regierung und ein paar reiche Einzelpersonen Lebensmittel an die Armen. Große Menschenmengen strömten zu den Verteilungszentren; die Leute kämpften darum, etwas von den Lebensmitteln zu ergattern. Im Chaos, das dadurch entstand, wurden viele zu Tode getrampelt. Allein in der Stadt Sokoto verloren zehn Menschen ihr Leben.
Einige Verzweifelte haben unlängst die Sache selbst in die Hand genommen: Sie brachen in Lagerhäuser ein und plünderten Lebensmittel. Bei anderen Vorfällen in jüngster Zeit haben hungrige Menschen Lebensmittellaster auf der Autobahn gestoppt und geplündert.
Zivilgesellschaftliche Gruppen und Gewerkschaften fordern, dass die Inhaber öffentlicher Ämter rechenschaftspflichtig gemacht werden müssen. Sie verlangen, dass die Regierung die Korruption bekämpft. Dann wäre mehr Geld da, um die Armen zu unterstützen.
Die Regierung plant unterdessen eine Steuerreform, in deren Rahmen der Einkommensteuersatz für Reiche erhöht werden soll. Er liegt bei etwa 40 Prozent, das Hauptproblem scheint jedoch die hohe Rate der Steuerumgehung zu sein. Es ist auch eine Steueramnestie geplant, um Steuerhinterzieher dazu zu bewegen, ihre Schulden zu begleichen. Ob die Reform wirklich etwas bewirken kann, ist allerdings ungewiss – die Not wächst und wird für die Armen immer unerträglicher. Mehr als je zuvor sind die Menschen einfach nur noch zornig..
Aus dem Englischen von Anja Ruf.
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