Seit dem Sturz von Bashar al-Assad hat sich das Gesicht von Damaskus verändert. Die früher allgegenwärtigen Plakate mit dem Porträt des Diktators sind verschwunden. Plötzlich ausverkauft waren die Tassen mit dem Bild von Assad – wahlweise in Uniform oder Anzug. An ihrer Stelle werden auf dem Basar, dem Suq, nun Socken mit aufgedruckter Karikatur des gestürzten Machthabers angeboten, sein Hals lang wie der einer Giraffe.
„Wir können endlich frei sprechen“, hört man in der Hauptstadt immer wieder. Unter dem Regime sei das undenkbar gewesen, überall lauerten die Spitzel der Geheimdienste. Auf diesen Satz folgt jedoch meist ein „Aber ...“. Denn sosehr das Ende des Regimes auch bejubelt wird, sind zahlreiche Probleme nach wie vor ungelöst, einige haben sich verschärft, neue sind hinzugekommen. Syrien ist im Griff gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Krisen.
Die Mittelschicht ist in Armut abgerutscht
Das drückendste Problem für die große Mehrheit der Syrer ist die grassierende Armut. Dabei darf man sich nicht von den teuren Bars, Cafés und Restaurants täuschen lassen, die es in der Hauptstadt nach wie vor gibt. Die Spaghetti für zehn oder ein Bier für vier US-Dollar können sich die wenigsten leisten.
„Das durchschnittliche Monatseinkommen in Syrien liegt zwischen zwanzig und 50 US-Dollar“, sagt Rasha Siroub, Professorin für Wirtschaft an der Universität in Damaskus. In der Privatwirtschaft sei die Bezahlung etwas besser als bei Staatsangestellten. Die Wirtschaftskrise treffe aber alle. Die Mittelschicht, die bis vor dem Krieg einen breiten Teil der Gesellschaft ausmachte, existiert nicht mehr. Sie ist längst in die Armut abgerutscht.
Viele syrische Familien seien von Verwandten abhängig, die im Ausland genug verdienen, um sie finanziell zu unterstützen, so Siroub. Was freilich nicht einfach ist, da Syrien vom internationalen Zahlungsverkehr abgeschnitten ist. Weder kann Geld nach Syrien überwiesen noch von Syrien ins Ausland transferiert werden. Das Geld wird daher in den benachbarten Libanon überwiesen und von dort in bar nach Syrien gebracht. Eine Herausforderung für Privatpersonen und eine Katastrophe für Wirtschaftstreibende.
Energie ist teuer, der Strom fällt aus
Die Wirtschaftspolitik der neuen Regierung würde die Armut weiter befeuern, sagt Siroub: „Al-Sharaa hat eine Million Staatsangestellte entlassen.“ Es sei schon richtig, die Staatskassen sind leer und der Staat müsse daher einsparen: „Aber gleichzeitig Leute zu entlassen und zahlreiche Subventionen zu streichen, trifft die Menschen doppelt hart.“
Tatsächlich sind zahlreiche Subventionen wie die auf Benzin oder Gas mit dem Ende des Regimes weggefallen. Erhielten Familien unter Assad monatlich eine Gasflasche zum Kochen für 1,5 US-Dollar, kostet sie jetzt das Zehnfache. Hinzu kommt, dass das marode öffentliche Stromnetz nur zwei bis drei Stunden am Tag liefert. Dieselgeneratoren und Solarpaneele sind eine teure Alternative, die sich nur die wenigsten leisten können.
Mit kaltem Wasser im Winter zu duschen, ohne Klimaanlage in der Sommerhitze zu schwitzen und nach Einbruch der Nacht im Dunkeln zu sitzen, ist für die meisten Syrer Alltag. „Der Mangel an Strom erstickt die Wirtschaft“, so Siroub: „Ohne Strom kein Wiederaufbau, keine Industrie und keine Jobs.“ Natürlich tragen auch die gegen Syrien verhängten Sanktionen einen erheblichen Teil zur Krise bei. Siroubs Botschaft an Europa: „Hebt die Sanktionen auf, aber verknüpft es mit Bedingungen an die neue Regierung.“
Hass auf die Alawiten ausgetobt
Denn das Ende des syrischen Krieges bedeutet nicht das Ende der Spannungen. In den ersten Wochen nach dem Regimesturz sah es so aus, als würden sich Selbstjustiz und Rachemorde in Grenzen halten. Doch im Februar eskalierte die Lage, als Anhänger des gestürzten Assad in der Küstenregion Sicherheitskräfte der neuen Regierung töteten. Die früheren Rebellenmilizen griffen daraufhin nicht nur die Pro-Assad-Kämpfer an, sondern massakrierten hunderte alawitische Zivilisten.
Warum dieser Hass auf die Alawiten? So wie rund 15 Prozent der syrischen Bevölkerung gehört auch die Familie Assad dieser religiösen Minderheit an. Bashar al-Assad war von einem loyalen Ring aus Sicherheitsoffizieren umgeben, die sich aus den Reihen der Alawiten rekrutierten. Diese Loyalisten besetzten nicht nur hohe Ränge in der Armee und den Geheimdiensten. Über ihr Netzwerk kontrollierten sie die Wirtschaft und steuerten die Politik. „Minister und andere hohe Beamte, zu denen auch Sunniten zählten, konnten nichts selbständig entscheiden“, so Sardar Aziz, ein in Europa lebender Politik-Kolumnist und früherer leitender Berater des kurdischen Parlaments im Irak.
Alle Bereiche der Gesellschaft waren von diesem Netzwerk aus Assad-Loyalisten durchdrungen. „Natürlich gab es auch Sunniten, die von diesem System profitierten“, sagt Aziz. „Von politischen Entscheidungen waren sie aber weitgehend ausgeschlossen.“ Auf diese Weise sei es möglich gewesen, dass eine alawitische Minderheit über die Mehrheit der Syrer regierte.
Der Staat hat die Lage nicht unter Kontrolle
„Unter den Sunniten ist daher die Vorstellung weit verbreitet, dass alle Alawiten ohne Unterschied Täter sind“, so Aziz. „Das ist freilich eine falsche Verallgemeinerung.“ Der Großteil der Alawiten habe mit dem Regime nichts zu tun gehabt und litt ebenso unter Krieg und Wirtschaftskrise wie alle anderen Syrer auch. Trotzdem hält sich dieses Narrativ von der alawitischen Schuld bei vielen sunnitischen Rebellen hartnäckig. Nach über 50 Jahren Diktatur und mehr als einem Jahrzehnt Krieg sinnen sie auf Rache. Sie wollen Menschen für all das Grauen zur Rechenschaft ziehen – und begehen dabei neue Verbrechen.
Zusätzlich befeuert wird der Hass auf die Alawiten durch religiös begründeten Rassismus. Aziz: „Zahlreiche radikale Dschihadisten betrachten die Alawiten nicht als Muslime. In ihrer Alltagssprache bezeichnen sie sie als „Schweine”; schmutzige Tiere, die es verdienen, getötet zu werden.“
Dass Al-Sharaa die Massaker befohlen hat, sieht Aziz nicht als bewiesen an. Es sei immer noch nicht zur Gänze geklärt, was sich in der Küstenregion abgespielt hat: „Die Aussagen der verschiedenen Akteure sind oft widersprüchlich, es gibt keine unabhängigen Quellen.“ Auf alle Fälle beeinflusse das an den Alawiten begangene Unrecht auch die anderen Minderheiten in Syrien: „Was den Alawiten geschehen ist, führt ihnen vor Augen, dass der Staat die Situation nicht unter Kontrolle hat.“
"Vergeben, aber nicht vergessen"
Die Vorfälle zeigen umso dringlicher, dass es eine sogenannte Übergangsjustiz braucht. Unabhängige Richter, die die Verbrechen aller Seiten aufarbeiten und die Verantwortlichen verurteilen. Aziz: „Es braucht das Einsehen, dass vergeben werden muss, aber nichts vergessen werden soll.“
Unter liberalen Damaszenern ist die Skepsis gegenüber der neuen Regierung weit verbreitet. „Al-Sharaa wird uns weder Demokratie noch eine freie Gesellschaft bringen“, sagt Firina. Sie leitet eine Kunstgalerie unweit des Suq. In den hellen Räumen oberhalb einer stark befahrenen Straße blicken Steinskulpturen von schmalen Sockeln, an den Wänden hängen Bilder zeitgenössischer syrischer Künstler.
Dem gestürzten Diktator weine sie keine Träne hinterher: „Assad war dumm und hatte ein großes Ego – eine gefährliche Kombination.“ Al-Sharaa sei aber nicht besser. Als Präsident trage er zwar einen Anzug, dass er die Ideologie des Dschihadismus abgelegt hat, glaubt Firina ihm trotzdem nicht: „Selbst wenn er der Pragmatiker ist, der er zu sein vorgibt, umgeben ihn eine Menge Leute, die gerne einen islamischen Staat in Syrien sehen würden.“
Angst vor dem Aufkommen einer Sittenpolizei
Anfang Januar wurde Firina in ihrer Meinung bestätigt. Der Mann, der sie in ihrer Galerie aufsuchte, war von der neuen Stadtverwaltung geschickt worden. Nach einem langen Monolog über die reiche syrische Kultur kam er zum Punkt: Akte und Skulpturen menschlicher Körper, das sei haram, unrein, und nach den Gesetzen der Scharia daher verboten. Es sei besser, Firina würde diese Kunst in Zukunft nicht mehr zeigen. Die Galeristin machte ihm klar, dass diese Kunst ebenso Teil der syrischen Kultur ist, die er ja angeblich so wertschätze. Sie werde daher auch in Zukunft nicht auf derartige Ausstellungen verzichten. Der Mann ging. Seitdem hat Firina nichts mehr von ihm gehört, aber die Unsicherheit bleibt.
Die Situation erinnere sie an Afghanistan nach dem Abzug der internationalen Truppen: „Die Taliban gaben sich zunächst gemäßigt, bevor sie die Rechte der Menschen mehr und mehr einschränkten.“ Firina befürchtet, dass Al-Sharaa in Syrien ein neues Regime unter islamistischen Vorzeichen errichten könnte: „Das macht mir Angst.“
Die Skepsis der syrischen Christen gegenüber den islamistisch geprägten Rebellen war schon immer groß. Nach dem Sturz des Regimes befürchteten viele Massaker an christlichen Gemeinschaften und Verwüstungen von Kirchen, wie es das in den Kriegsjahren immer wieder gegeben hatte – begangen von verschiedenen Milizen, nicht nur dschihadistischen.
Dialog mit Ahmad al-Sharaa
Doch beides ist ausgeblieben. Stattdessen rief Ahmad al-Sharaa die Vertreter christlicher Gemeinden zum Dialog. Der Franziskanerpater Firas Lotfi, Leiter der Ordensniederlassung in Bab Tuma, dem christlichen Viertel im Zentrum von Damaskus, hat an diesen Gesprächen teilgenommen. Al-Sharaa habe pragmatisch auf ihn gewirkt und aufgeschlossen gegenüber dem Dialog, erzählt der Ordensmann. Vor allem habe er zugehört, wenn die Kirchenmänner über die Sorgen sprachen, die die Herrschaft der Islamisten bei vielen Christen auslöste.
„Das ist wichtig für einen Präsidenten, wenn er Syrien in eine bessere Zukunft führen will“, so Lotfi: „Nicht nur zu reden, sondern auch zuhören zu können.“ Etwas, das Bashar al-Assad gefehlt habe: „Er sprach viel und führte das Land in die Katastrophe.“
Freilich kenne er Al-Sharaas Vergangenheit. „Wenn er das Land zum Besseren verändern will, kann er das nicht mit der Mentalität eines islamistischen Rebellenführers tun“, so der Pater. Er müsse sich ändern, weg vom Dschihadisten, hin zu einem Politiker, der bereit ist, seine Macht zu teilen. Auch könne der von Al-Sharaa angestoßene Dialog nur gelingen, wenn dieser auf der Überzeugung beruhe, dass alle Gesprächspartner dieselben Rechte haben. „Nicht weil jemand Muslim ist oder Christ, Mann oder Frau, sondern weil wir alle Syrer sind“, so Lotfi.
Die Vorfälle in den Küstenregionen wiegen freilich schwer und zeigen, wie tief die syrische Gesellschaft gespalten ist. Es brauche ein politisches System, das jeden als Staatsbürger respektiert, ohne nach der konfessionellen oder ethnischen Zugehörigkeit zu fragen, so der Pater. Ob sich dieser Gedanke der Gleichheit in einem von Diktatur und Krieg traumatisierten Syrien in absehbarer Zeit wird durchsetzen können, ist fraglich. Lotfi: „Es ist nicht einfach, denjenigen, die den Krieg gewonnen haben, zu erklären, dass sie die anderen friedlich behandeln sollen.“
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