Ein Gefängnis ohne Seuchen

Ein Mann in grauem T-Shirt, von hinten gesehen, schluckt im Rahmen eines Drogenentzugs ein in Wasser aufgelöstes Medikament. Er streht vor einem Tisch mit Tabletten-Döschen und einem Wasserbehälter. Im Hintergrund eine Gefängnisärztin in weißem Kittel.
Will Baxter
Ein Häftling in der Strafvollzugsanstalt Nr. 4 in Cricova in Moldau schluckt im Rahmen seines Drogenentzugs ein Medikament.
Strafvollzug in Moldau
In Moldau sorgen Programme zum sicheren Drogenkonsum dafür, dass Häftlinge sich nicht mit Aids oder Tuberkulose anstecken. Statt in der Haft zu sterben, machen nun viele Gefangene dort einen erfolgreichen Entzug.

Ein kastenförmiger schwarzer Verkaufsautomat steht in einem ruhigen Flur des medizinischen Trakts der Strafvollzugsanstalt Nr. 4 in Cricova, Moldau; das Angebot ist von innen beleuchtet. Statt mit Snacks und Erfrischungsgetränken sind die nummerierten Fächer mit kleinen Päckchen befüllt: Spritzen, Nadeln und Desinfektionstücher, eingeschweißt in Plastikhüllen. In ein paar Fächern sind Kondome und Gleitmittel. „Die Häftlinge hier werden auf jeden Fall Wege finden, Drogen zu nehmen. Wir können also ebenso gut den Konsum sicher für sie machen und ihnen Nadeln und Spritzen geben, um die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern“, sagt der Gefängnisdirektor Vitalie Falca. Er gesteht damit ein, dass trotz Sicherheitsmaßnahmen immer Drogen wie Opioide und Methamphetamine ins Gefängnis gelangen.

Selbst die fortschrittlichsten Länder Europas haben Nadel- und Spritzentauschprogramme für Häftlinge längst aufgegeben. Moldau dagegen hat Gefängnisreformen weiter vorangetrieben, um die Ausbreitung von Krankheiten wie HIV und Hepatitis B und C einzudämmen. Anderswo in Europa unterhalten nur Spanien, Luxemburg sowie der Zwergstaat San Marino, der bloß eine einzige kleine Haftanstalt hat, überhaupt noch landesweite Nadel- und Spritzentauschprogramme in Gefängnissen. In Deutschland, Frankreich, der Schweiz und der Ukraine gibt es nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation nur in wenigen Haftanstalten derartige Programme.  

Der Automat in Cricova ist der erste seiner Art in einem moldawischen Gefängnis. Die Behörden wollen das Pilotprogramm auf das ganze Strafvollzugssystem des Landes ausdehnen, um sicherere Praktiken unter Personen mit intravenösem Drogenkonsum zu fördern. Die Insassen können die Artikel diskret und kostenlos mit einer personalisierten Karte am Automaten ziehen.

Mehr als ein Fünftel der Inhaftierten nimmt Drogen 

Moldau hat im Jahr 2000 begonnen, Nadel- und Spritzenaustauschprogramme in seinen Gefängnissen einzuführen, nachdem 1999 eine Studie in einer Justizvollzugsanstalt in Brăneşti 35 nicht dokumentierte HIV-Fälle unter den etwa 800 Gefängnisinsassen entdeckt hatte. Das war ein Weckruf, sagt Irina Barbiros, die Leiterin des medizinischen Teams bei der Nationalen Verwaltung der Strafvollzugsanstalten. „In der postsowjetischen Zeit herrschte eine Kultur des Teilens. Die Menschen trafen sich und nutzten einfach dieselbe Nadel. Dies führte zu einer raschen Ausbreitung von Krankheiten, viele Menschen infizierten sich“, so Barbiros.

Dr. Irina Barbiros leitet das medizinische Team der moldawischen Verwaltung der Strafvollzugs­anstalten.

Die Nationale Gefängnisverwaltung schätzt, dass mehr als ein Fünftel der 9000 Inhaftierten, die pro Jahr moldawische Gefängnissen durchlaufen, Opioide und synthetische Drogen konsumieren. Die Drogen werden vom Gefängnispersonal eingeschmuggelt, von Angehörigen und Freunden in Care-Paketen versteckt oder einfach über die Gefängnismauern geworfen. In extremen Fällen stellen Insassen die Drogen sogar selbst her, aus vor Ort verfügbaren Substanzen.

Autor

Will Baxter

ist US-amerikanischer Autor und Fotograf in Tiflis, Georgien, und freier Bildredakteur beim Auslandsressort der „New York Times“. Er arbeitet an einem Fotobuch über Moldau.

Die sogenannten Schadensminimierungsprogramme Moldaus wurden seit dem Jahr 2000 weiterentwickelt und ausgeweitet. Mit Ausnahme einer kleinen Einrichtung in Nordmoldau bieten nun alle Gefängnisse eine Opioid-Substitutionstherapie an – einschließlich Abgabe von Methadon und Buprenorphin, die den Entzug erleichtern. Außerdem gibt es Beratung, psychologische Betreuung und Peer-Programme, die den Gefangenen helfen sollen, von Drogen wegzukommen und sich nach ihrer Entlassung wieder in die Gesellschaft zu integrieren. In den Haftanstalten werden auch antiretrovirale Behandlungen gegen HIV, Hepatitis B und Hepatitis C sowie Impfungen gegen Hepatitis B angeboten. Häftlinge, die Drogen nehmen, werden alle sechs Monate auf HIV, Hepatitis B und Hepatitis C getestet. Seit Anfang 2022 gab es in den Gefängnissen Moldaus keinen einzigen Fall von HIV-Übertragung mehr, in den letzten sechs Jahren gab es nur einen einzigen Fall, so Barbiros. 

Der Erfolg von Nadel- und Spritzentauschprogrammen ist dokumentiert. Die Tatsache, dass trotzdem kaum noch Länder in Europa solche Maßnahmen anbieten, sei das Ergebnis eines „illiberalen“ Backlash, meint  Dumitru Laticevschi. Er leitet die Abteilung Osteuropa und Zentralasien des Global Fund, die einen Großteil der Programme in Moldau finanziert hat. „Vor 25 Jahren waren die Gefängnisse ein grauenhafter Ort. Menschen, die zu drei Jahren Haft verurteilt waren, konnten sich dort mit HIV oder Tuberkulose infizieren und sterben“, sagt Laticevschi. „Das war oft wie ein Todesurteil.“ Es gehöre viel Mut seitens einer Gefängnisverwaltung dazu, einzugestehen, dass in den Haftanstalten illegal Drogen konsumiert werden, und Programme zur Schadensbegrenzung durchzuführen, während sie gleichzeitig versuche, zu verhindern, dass Drogen eingeschleust werden.

Diskretion und Anonymität sind die Schlüssel zum Erfolg

Das Programm zum Nadel- und Spritzenaustausch stützt sich weitgehend auf Freiwillige unter den Insassen; sie verwalten einen Vorrat an sauberen Nadeln, Spritzen, Desinfektionsmitteln und Handschuhen und geben sie auf Anfrage an Mitgefangene aus. Im Gefängnis in Cricova können sich die Häftlinge in den meisten Bereichen frei bewegen. Dass Insassen für die Verteilung zuständig sind, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich Drogenkonsumenten zu erkennen geben: Sich an Mitgefangene zu wenden, fällt leichter, als einen Gefängnisbeamten um sterile Nadeln und Spritzen bitten zu müssen. 

Laut Ruslan Tica, der das Programm zur Schadensminimierung im Cricova-Gefängnis leitet, liegt der Schlüssel zum Erfolg dieser Maßnahme gerade in der Diskretion. „Der Austausch von Nadeln wird auf eine Art gehandhabt, die es den Menschen ermöglicht, anonym zu bleiben“, so Dr. Tica. Die Gefangenen wüssten oft vom Suchtmittelkonsum der anderen, aber das Gefängnispersonal versuche nicht, Drogennutzer auf frischer Tat zu ertappen.

Ruslan Tica leitet im Gefängnis Nr. 4 das Programm zur Schadens­minimierung und koordiniert unter anderem den Austausch von Spritzen für drogenabhängige Häftlinge.

Georghe, der nur mit seinem Vornamen genannt werden möchte, ist einer von drei dieser Freiwilligen im Gefängnis von Cricova. „Wenn Leute zu mir kommen, frage ich, was sie brauchen: eine Spritze, ein Feuchttuch und so weiter. Ich gebe ihnen, was sie benötigen, und zeige ihnen, wo sie die benutzten Sachen entsorgen können.“ Für gebrauchte Spritzen und Nadeln gibt es einen speziellen Behälter. 

Als ehemaliger Drogenkonsument bietet Georghe auch spontan Ratschläge an. „Ich habe das selbst durchgemacht. Du musst entschlossen sein, dass du keine Drogen mehr nehmen willst. Das muss der Anfang sein“, meint er. Den Insassen fällt es schwer, sagt Georghe, über ihre aktuelle Lage hinauszublicken: „Die meisten hier denken, das Gefängnis sei ihr ganzes Leben. Ich versuche ihnen klarzumachen, dass das Gefängnis nur eine Strafe ist, die man absitzen muss. Dann winkt die Entlassung, und auf der anderen Seite der Gefängnismauer wartet eine Familie auf einen.“

Das Hauptziel ist die Wiedereingliederung

Direktor Falca verschweigt nicht, dass zu Beginn viele Gefängnisbeamte, darunter er selbst, gegen das Programm waren. „Es schien gegen den Menschenverstand, die Gefangenen mit Nadeln und Spritzen und der Methadon- und Buprenorphin-Behandlung zu versorgen. Aber dann wurde mir allmählich klar, dass wir dabei waren, die Häftlinge von der Mentalität der Straße wegzubringen: Dort verstecken sie ihren Drogenkonsum“, so Falca. Das Endziel ist es, die Gefangenen von der Sucht zu entwöhnen und nach der Entlassung in die Gesellschaft wiedereinzugliedern. 

Der 34-jährige Dumitru Aureliu wurde bereits fünfmal wegen Drogendelikten inhaftiert. Als er vor vier Jahren in die Strafvollzugsanstalt Nr. 4 kam, nahm er weiterhin Drogen. Seit Anfang 2023 jedoch profitiert er von einer Substitutionstherapie mit Methadon und Buprenorphin sowie von Beratungsprogrammen und Selbsthilfegruppen im Gefängnis.

Es ist nicht das erste Behandlungsprogramm, an dem er teilnimmt, aber er hofft, dass es das letzte ist. „Ich habe mit 14 Jahren mit Marihuana angefangen und dann zu immer härterem Stoff gegriffen“, sagt er. „Vor ein paar Jahren war ich sogar suizidgefährdet, also machte ich eine Reha.“ Aureliu wurde clean, aber seine neue Abstinenz war nur von kurzer Dauer, und bald geriet er in eine weitere Abwärtsspirale. „Ich fing wieder mit Drogen an und hätte wegen Rauschgift und Geld fast einen Menschen umgebracht“, erzählt er. Dieser Überfall brachte Aureliu seine jüngste Gefängnisstrafe ein.

Wärter und Häftlinge verstehen sich heute besser

„Das Programm ist für Menschen gedacht, die ihre Abhängigkeit beenden wollen“, erläutert Dr. Tica. „Wenn sie hierherkommen, ist das eine Gelegenheit, mit dem Konsum aufzuhören, denn draußen sind sie ständig der Versuchung ausgesetzt. Viele der Insassen versuchen hier, sich zu ändern.“

Die Programme haben auch dazu beigetragen, die Beziehungen zwischen Insassen und Gefängnispersonal zu entspannen. „Früher haben wir alle Utensilien konfisziert, die mit Drogenkonsum zu tun hatten. Damals haben sie uns deswegen gehasst“, berichtet Direktor Falca. „Wenn die Gefangenen Entzugserscheinungen hatten, griffen sie das Gefängnispersonal an. Aber seitdem das Programm angelaufen ist, haben wir diese Art von Angriffen nicht mehr erlebt. Jetzt können die Häftlinge uns gegenüber offen sein. Wenn sie Entzugserscheinungen haben, können sie einfach zu einem von uns kommen und uns sagen, dass sie unter Entzug leiden, und wir helfen ihnen, einen Arzt aufzusuchen“, so Falca.

„Ich bin wirklich glücklich, weil ich nicht mehr das Bedürfnis habe, Drogen zu nehmen“, sagt Aureliu. Er weiß: „Um ein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft zu sein, muss man tun, was nötig ist, und mit diesem Programm ist es einfacher. Ohne das wäre es schwieriger, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren und von der Sucht loszukommen.“

In einer Peer-Gruppe sprechen Gefangene in der Gefängniskapelle über Sucht und ein Leben in Freiheit. Hier engagieren sich auch Freiwillige wie der frühere Häftling Ion Pompescu.

Ion Pompescu war vor seiner Entlassung aus dem Gefängnis Nr. 4 Ende 2023 wie Georghe als Freiwilliger tätig. Er fühlt sich verpflichtet, der Gesellschaft die Unterstützung zurückzugeben, die er für die Überwindung seiner Drogensucht erhalten hat. Über eine örtliche zivilgesellschaftliche Organisation namens Positive Initiative kehrt er nun als Gastreferent in Gefängnisse zurück, um über Sucht zu sprechen und darüber, wie wichtig es ist, an Programmen zur Schadensminderung und Wiedereingliederung teilzunehmen.

Die Peer-Gruppen sollen den Gefangenen helfen, ihren Blick auf die Zukunft zu verändern. Pompescu erklärt: „Je mehr Seminare man besucht und an je mehr Treffen man teilnimmt, desto mehr kann man über seine Zukunft nachdenken. Man beschäftigt sich in Gedanken damit, entlassen zu werden, einen festen Arbeitsplatz zu bekommen, vielleicht eine Familie zu gründen und mehr.“

Ein neuer Anfang ohne Drogen 

Seit seiner Entlassung hat Pompescu einen Job bei einem Glaswarenhersteller gefunden und zu Hause eine Reihe von Projekten in Angriff genommen, darunter ein Gewächshaus und die Aufzucht von Hühnern. Seinen Vater unterstützt er beim Aufbau eines kleinen Fitnessstudios.

„Früher, als ich drogenabhängig war, hat mir niemand geglaubt, und niemand hat sich wirklich für mich interessiert“, sagt er. „Ich bedauere, dass ich nicht früher clean geworden bin, aber ich bin froh, dass ich es nun geschafft habe. Es ist eine große Veränderung für mich, mental wie auch körperlich. Mein Vater ist stolz auf mich und die Leute glauben jetzt an mich.“

Aus dem Englischen von Anja Ruf.

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erschienen in Ausgabe 1 / 2025: Abwehrkräfte stärken
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