EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström sagt bei Auftritten in Deutschland gerne, sie verstehe nicht, warum ausgerechnet hier der Widerstand gegen die geplante Transpazifische Handels- und Investitionspartnerschaft TTIP so groß sei. Schließlich profitiere niemand so sehr wie Deutschland von offenen Weltmärkten und der EU-Handelspolitik, die genau dafür stehe. Klingt logisch – außer man hinterfragt, wer eigentlich genau mit „Deutschland“ gemeint ist: Großunternehmen, Handwerksbetriebe, abhängig Beschäftigte, vielleicht gar sozial Schwache?
Aber TTIP und die dahinterstehende Freihandelspolitik der letzten zwanzig Jahre werden nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und in den USA längst von einer breiten Mehrheit der Öffentlichkeit abgelehnt. Nur langsam beginnen die Protagonisten dieser Politik zu verstehen, warum das so ist. In Deutschland fällt ihnen das besonders schwer, denn für die deutsche Wirtschaft war die Freihandelspolitik in der Tat erfolgreich: Sie hat deutschen Firmen weltweit Märkte geöffnet. Die deutschen Exportüberschüsse wachsen kontinuierlich, 2015 waren es sage und schreibe 247,8 Milliarden Euro. Jeder Deutsche hat statistisch für 2750 Euro mehr Waren an den Rest der Welt verkauft als dort eingekauft. Mit praktisch allen wichtigen Handelspartnern hat Deutschland hohe und immer noch wachsende Exportüberschüsse.
Genau das ist das Problem. Außerhalb Deutschlands wird es auch als Problem diskutiert, in Deutschland selbst aber tabuisiert. Die Steigerung der Exportüberschüsse ist und bleibt unbestrittene Staatsdoktrin. Doch leider ist es unmöglich, dass die Welt als Ganze einen Exportüberschuss erwirtschaftet. Der Exportüberschuss des einen Landes ist zwingend das Handelsbilanzdefizit woanders; die Summe ist immer Null. Es gehört nicht viel Verstand dazu, zu erkennen, dass es nicht nachhaltig sein kann, wenn ein Land Jahr für Jahr seine Exportüberschüsse steigert. Das geht auf Kosten des Rests der Welt und verursacht enorme weltwirtschaftliche Probleme.
Dauerhafte Defizite in Euro-Ländern
Inzwischen haben die deutschen Exportüberschüsse Rekordhöhen von acht Prozent des Bruttoinlandprodukts erreicht. Laut den Regeln der Europäischen Union (EU) sind dauerhafte Leistungsbilanzüberschüsse von über sechs Prozent ein Problem für die Euro-Zone; sie bedeuten dauerhafte Defizite in anderen Euro-Ländern. Schon jetzt verstößt Deutschland seit 2007 ununterbrochen gegen diesen Wert.
Längst untergräbt der deutsche Exporterfolg seine eigenen Grundlagen. Innerhalb der EU kann selbst Frankreich nicht mehr mit der deutschen Exportmaschine mithalten. Die Gemeinschaftswährung Euro bewirkt aber, dass Frankreich und Südeuropa nicht wie früher ihre Währungen abwerten können, damit ihre Exporte preiswerter werden. Die Währung in Deutschland ist daher, gemessen an der Konkurrenzfähigkeit seiner Wirtschaft, systematisch unterbewertet, in Frankreich und Südeuropa hingegen überbewertet. Das ist eine wichtige Grundlage der deutschen Exporterfolge.
Wenn aber Importländern die Puste ausgeht, kaufen sie eben weniger. Dann hat auch der ein Problem, der vom Export abhängig ist. Frankreichs wirtschaftliche Schwäche und die sinkende Kaufkraft wachsender Bevölkerungsteile hat 2015 erstmals dazu geführt, dass das Land vom ersten auf den zweiten Platz der Rangliste der deutschen Handelspartner gerutscht ist. Platz eins sind jetzt die USA, mit denen Deutschland einen Exportüberschuss von über 40 Milliarden Euro hat. Die USA sind das Land mit einem der größten Handelsbilanzdefizite der Welt – zu welchen Verwerfungen das führen kann, kann man im US-Wahlkampf sehen. Millionen Industrie-Arbeitsplätze sind ins Ausland abgewandert, und die Erfolge von Trump und Sanders mit ihrer scharfen Kritik an Freihandelsabkommen sind die Folge der wachsenden wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit vieler Amerikaner. Auch der scharfe Konjunktureinbruch in China zeigt, dass eine extreme Orientierung auf Exporte gefährlich ist.
Auch die binnenwirtschaftlichen Grundlagen der Exporterfolge geraten unter Druck. Maßgebliche Ursache für die hohe Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ist eine systematische Kostensenkungspolitik. Vor allem das, gemessen am Rest Europas, ausgeprägte Lohndumping hat zu einer Spaltung der deutschen Gesellschaft und auch der Gesellschaften in anderen Ländern Europas geführt. Dies ist eine der wesentlichen Ursachen für die tiefe Krise der EU. Seit Einführung des Euro ist das Reallohnniveau in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern in der Eurozone mit am langsamsten gestiegen.
Mit dem Verweis auf die globale Wettbewerbsfähigkeit wurde jahrelang sogar die Einführung eines Mindestlohns verhindert, während Kalifornien inzwischen den Mindestlohn auf 15 US-Dollar pro Stunde anhebt. Unter dem deutschen Lohndumping ächzen nicht nur die Südeuropäer, sondern längst auch die Franzosen. Schon blockieren französische Bauern mit Treckern die deutsche Grenze, um die Lidl- und Aldi-Lastwagen mit den Dumpingprodukten aus Deutschland zu stoppen. Aber immer mehr Arbeitnehmer in Deutschland ächzen darunter auch. Der Niedriglohnsektor umfasst mittlerweile ein Drittel des deutschen Arbeitsmarkts. Das ist ein Irrweg.
Das Gegenteil von Nachhaltigkeit
Wir brauchen einen Kurswechsel: gute Arbeit und guten Lohn für alle, nicht nur für zwei Drittel. Ein Drittel der Menschen in Deutschland sind mittlerweile wirtschaftlich abgehängt und stellen den Nährboden für Protestbewegungen aller Art. Jahrzehntelang waren die Eliten der Bundesrepublik Deutschland überzeugt, dass Exporterfolge die Grundlage für unseren Wohlstand seien. Diese Gleichung funktioniert nicht mehr. Der Preis dieser Erfolge übersteigt zunehmend den Nutzen. Die Zurichtung der ganzen Gesellschaft auf „globale Wettbewerbsfähigkeit“ zerstört den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Der Zweck des Lohn- und Sozialdumping ist, die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen; es gehört zu den Auflagen für die Euro-Krisenländer. Den Griechen etwa hat die Troika verordnet, die Lohn- und Lohnnebenkosten zu senken, um die „globale Konkurrenzfähigkeit“ zu steigern. Genau diese Logik hat zu einem „race to the bottom“, zu einem Wettlauf nach unten geführt. Der ist das Gegenteil von Nachhaltigkeit. Die Verlierer sind Arbeitnehmer – und das überall auf der Welt.
Autor
Jürgen Maier
ist seit 1996 Geschäftsführer des Forums Umwelt & Entwicklung, das Umwelt- und Entwicklungsorganisationen nach der UN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro gegründet haben.Längst ist TTIP die Chiffre für ein diffuses Unbehagen gegenüber der Wirtschaftspolitik der letzten zwanzig Jahre, die die Ungleichheit immer weiter steigen lässt und in erster Linie den ohnehin Starken nützt. Zu einer neuen Politik für die Mehrheit gehört daher auch, dass die Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik nicht länger auf die Eroberung immer neuer Exportmärkte zugerichtet werden dürfen.
Diese Forderungen finden Anklang weit über das sozialdemokratische Wählerspektrum hinaus bis weit in die Mitte der Gesellschaft. Für sie ist die Allianz gegen TTIP eine im Grunde konservative Bewegung für den Erhalt des europäischen Modells der sozialen Marktwirtschaft gegen die Dampfwalze von Deregulierung und Globalisierung. Das ist einer der Gründe, warum sie so erfolgreich ist. Sie ist quer durch Europa die progressive Antwort auf den rasanten Legitimitätsverlust der neoliberal geprägten Politik – und im Gegensatz zum „Weiter so“ auch die einzig zukunftsfähige Alternative zu Nationalismus und Rechtspopulismus.
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