Tumaco, die Hafenstadt im Südwesten Kolumbiens, gilt als Vorhof zur Hölle. In der überwiegend von Schwarzen bewohnten Stadt – eine Reihe von dicht besiedelten Inseln, die über Brücken verbunden sind – haben seit Jahrzehnten kriminelle Gruppen das Sagen. Ihre Namen und Anführer wechseln, manchmal bekriegen sie sich, manchmal schließen sie Stillhaltepakte, aber sie alle finanzieren sich mit dem Drogenexport. Sie verschaffen sich Straffreiheit, indem sie Militärs und Richter, Polizisten und Lokalpolitiker schmieren oder umbringen und die Bevölkerung mit Gewalt unterwerfen. Tumaco mit seinen rund 250.000 Einwohnern gehört zu den zehn gefährlichsten Bezirken Kolumbiens, in denen die Gewaltkriminalität nach dem Friedensabkommen von 2016 hoch bleibt.
Luisner Dajome bietet der Statistik die Stirn. Theoretisch hat der schlaksige junge Mann kaum eine Chance, vom vorgezeichneten Weg in die Gewalt abzuweichen. Wer aus Tumaco und dann auch noch aus Nuevo Milenio stammt, einem trostlosen Armenviertel, der ist gebrandmarkt. Das Viertel wurde auf abgeholzten Mangroven errichtet und wird regelmäßig überflutet. In den hölzernen Pfahlbauten ist es stickig, Moskitos plagen die Bewohner. Es stinkt nach Benzin, vergammeltem Fisch und Urin. Hupende Mopeds umkurven Müllberge und mit Wasser gefüllte Erdlöcher. Kinder irren halbnackt durch die aufgeschütteten Straßen und balancieren über Bretterbrücken.
Es gibt keine Trinkwasseranschlüsse, keine Abwasserleitungen und nur ein wackliges Strom- und Telefonnetz. Ein paar beengte, stacheldrahtbewehrte Schulen sind leicht zu verwechseln mit der Kaserne an der einzigen geteerten Zufahrtsstraße in das Viertel. Doch schon einen Steinwurf von deren Wachtürmen entfernt beginnt die Herrschaft der Drogengangs. Junge Männer mit Baseballkappen lungern dort an den Straßenecken und beobachten scheinbar beiläufig das Geschehen. Es sind Späher und Verbindungsleute der Drogenmafia. Sie machen Eindringlinge aus und werben Jungs wie Luisner an.
Luisners Mutter stand mit zehn hungrigen Kindern allein da
„Wir stammen vom Land, doch wir wurden dort bedroht und sind in die Stadt geflohen“, erzählt der 23-Jährige. Außerhalb von Tumaco gibt es in diesem abgelegenen Teil Kolumbiens keine Straßen, nur Flussverbindungen. Fast alle weiter im Landesinnern leben vom Anbau von Koka, dem Vorprodukt für Kokain. Das ist die einzige Ware, die einen sicheren Absatzmarkt hat.
Luisner spricht leise, denn man weiß nie genau, wer zuhört. Holzwand an Holzwand lebt man in Tumaco. Um die Kontrolle über die Kokabauern und ihr Produkt tobt ein blutiger Kampf zwischen verschiedenen Drogenbanden. Doch die Flucht in die Stadt brachte nur kurz Erleichterung. Luisners Vater verließ die Familie und zog zu einer neuen, jüngeren Frau. Luisners Mutter stand mit zehn hungrigen Kindern allein da. Sie begann, im Stadtzentrum von Tumaco Süßigkeiten zu verkaufen, wo etwas mehr Menschen einen festen Job haben und das Geld lockerer sitzt.
Zu Hause mussten derweil die großen Geschwister auf die kleinen aufpassen. Theoretisch jedenfalls. Praktisch wuchsen die Kinder auf der Straße auf. Draußen wehte tagsüber wenigstens eine frische Brise, anders als unter dem Wellblechdach zu Hause. Und auf der Straße protzten Nachbarjungs mit nagelneuen Mopeds, Handys, Pistolen und Goldkettchen. Den Kindern versprachen sie Geld, wenn sie für sie Schmiere standen oder Waffen und Drogenpäckchen für den lokalen Verkauf an den Straßensperren der Polizei vorbeischmuggelten. Von geheimen Depots im Dschungel wird die Droge nachts auf Schnellbooten nach Mittelamerika gebracht. Manche Gangs bauen sogar U-Boote, die – meist mit ein bis zwei Personen – auf dem Pazifik bis nach Mexiko fahren.
„Die Drogenkultur hat im Wettlauf mit dem Frieden die Nase vorne“
Luisner war 17 und ohne Perspektive. Er hatte die Schule geschmissen, weil er gemobbt worden war. Aber selbst wenn er sie abgeschlossen hätte, wäre es ihm kaum besser ergangen. Das Bildungsniveau in Tumaco ist schlecht und die Plätze an den drei Universitäten sind rar, so dass nur fünf Prozent der Abiturientinnen und Abiturienten aus Tumaco studieren. Es lockte also der Weg, den schon so viele seiner Freunde gegangen waren. „Die Drogenkultur hat im Wettlauf mit dem Frieden die Nase vorne“, sagt Pfarrer Pedro Tacuri von den Comboni-Missionaren, die in Nuevo Milenio leben und arbeiten.
2016 schloss Kolumbiens Regierung einen brüchigen Frieden mit der Guerilla der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc). Die Farc, die zuvor gut ein Drittel des Landes kontrolliert hatten, legten die Waffen nieder. Aber andere bewaffnete Gruppen blieben, der Staat füllte das Machtvakuum nur langsam, das die Farc an vielen Orten hinterließen. Und die Regierung schickte hauptsächlich Sicherheitskräfte, statt für Bildung, Gesundheit und Infrastruktur zu sorgen. Die Drogenmafia war schneller.
Luisner war dabei, sich in ihrem Netz zu verfangen. Doch dann nahm ihn ein Freund mit in das Casa Afro, das Jugendhaus der Combonis, den einzigen Ort in Tumaco, den Drogenmafia und Polizei gleichermaßen als neutrales Terrain respektieren. Eine Oase, in der sich Luisner und viele andere Jugendliche aus Nuevo Milenio sicher fühlen.
Im Jugendhaus kann man so sein, wie man ist
„Hier sind alle tolerant und friedlich. Man muss nicht ständig den anderen beweisen, wie toll und cool man ist“, sagt Luisner, der trotz seiner keck blond gefärbten Haare eher schüchtern ist. Einer, der sich seine Kleider selbst näht, der einen Friseursalon betreibt und sich gern um die jüngeren Nachbarskinder kümmert. Einer, der keine lauten Partys mag und nicht so recht ins vorherrschende Machoschema passt. „Ich glaube, Luisner kam genau im richtigen Moment seines Lebens zu uns“, sagt Ulrike Purrer, die deutsche Friedensfachkraft, die das Casa Afro leitet. „Ich mag mir nicht vorstellen, was sonst aus ihm geworden wäre.“
Luisner traf im Casa Afro Menschen wie Neisy Tenorio. Die 26-Jährige ist gehbehindert und besticht durch ihren Charme und starken Charakter. Sie managt die Casa, wo nachmittags Eis, Limo und frittierte Teigtaschen verkauft werden, um etwas Einnahmen zu erzielen. Luisner traf dort auch Leonardo Castro, 26, der Forstingenieur studiert hat. Zusammen mit dem 22-jährigen Emerson Rodriguez und der 18-jährigen Maria Paula Barreiro schufen sie AfroMiTu, die erste Rap- und Hiphopband von Nuevo Milenio. „Mit der Musik konnte ich plötzlich Dinge sagen, die mir im Gespräch schwerfielen“, sagt Luisner.
Die fünf haben inzwischen regelmäßig wechselnde Gastmusiker dabei, eine Homepage, eine Facebook-Seite, einen Youtube-Kanal und eine Menge Fans. 2021 schaffte es ihr Song „Respeto a la vida“ – Respekt vor dem Leben – beim Eine-Welt-Songcontest, einem von Engagement Global in Deutschland organisierten weltweiten Wettbewerb, ins Finale. Freilich dank der Unterstützung von Ulrike Purrer, die Anträge ausfüllte, den Song ins Deutsche übersetzte und der Jury etwas über die Lebensumstände der Musiker erzählte.
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Die Theologin ist die gute Seele des Jugendhauses, immer da mit Rat und Tat, wenn sie gebraucht wird. Seit über zehn Jahren lebt sie selbst in Nuevo Milenio, in einem Holzhäuschen mit Latrine. Fliegen nachts die Pistolenkugeln, sucht sie im Bad Schutz, dem einzigen gemauerten Zimmer des Hauses. Verprügelt der Nachbar seine Frau, geht sie rüber und bittet um Salz, um die Gewalt zu beenden und dem Opfer Zeit zur Flucht zu geben. Mit solch mutigen Aktionen hat sie sich den Respekt der Anwohner erworben.
Den Jugendlichen Raum zum Ausprobieren geben
Die Jugendlichen finden bei ihr den Halt, den ihre dysfunktionalen Familien oft nicht bieten. „Uli ist unser Rückgrat“, sagt Diana Quiñones, eine Tanz- und Akrobatiklehrerin aus dem Casa Afro. „Sie ist stark, aber stellt sich nicht in den Vordergrund, sondern ermutigt uns, selbst Protagonisten zu sein.“ Dadurch unterscheidet sich das Casa Afro von anderen Hilfsangeboten – seien sie vom Staat oder von NGOs –, die oft paternalistisch oder bevormundend daherkommen oder in Form von Einmal-Workshops wirkungslos verpuffen. Ständig präsent sein, hartnäckig bleiben und nicht mit vorgefertigten Ideen kommen, sondern den Jugendlichen Raum zum Ausprobieren geben – das sind die Lektionen, die Purrer in einem Jahrzehnt in Tumaco gelernt hat.
Außerdem hat sie gelernt, dass viel Geld von außen nicht unbedingt Probleme löst, sondern manchmal neue schafft. Kolumbiens erster linker Präsident, Gustavo Petro, hat versprochen, sich um vernachlässigte Regionen zu kümmern – im Gegensatz zu seinem Vorgänger Iván Duque, einem ehemaligen Weltbankmitarbeiter, der wenig Interesse an der Umsetzung des Friedensabkommens zeigte. Doch der Staat tut sich schwer in Tumaco. „Duque setzte auf Militarisierung, Petro verfolgt einen strukturellen Ansatz, aber man sieht noch keine Ergebnisse“, sagt der Sicherheitsexperte Kyle Johnson von der kolumbianischen Stiftung für Konfliktmanagement (CORE).
2023 stellte die Regierung umgerechnet vier Millionen Euro für Friedensarbeit zur Verfügung. Tumaco war die Pilotstadt für den „Kulturellen Pakt für das Leben und den Frieden“. Treibende Kraft dahinter war Vera Grabe, eine deutschstämmige Ethnologin und ehemalige Mitstreiterin Petros in der Guerillabewegung M-19.
Zwist wegen des Geldes
„Wir müssen die Mentalität ändern“, sagt Grabe. Sie sieht die Gewalt als Folge von Patriarchat und struktureller Unterdrückung und leitet seit vielen Jahren Kurse über Toleranz und friedliche Konfliktlösung. „Es geht vor allem darum, Konfliktmuster zu erkennen, zu durchbrechen und den anderen und seine Argumente als gleichwertig anzuerkennen“, sagt Grabe, die seit 25 Jahren ein Zentrum zur Friedenskultur mit Zentrale in Bogotá leitet. Vorgängerregierungen hätten ihre Arbeit zwar „niedlich“ gefunden, erzählt die 74-Jährige, aber beim ersten Anlass die staatlichen Zuschüsse gestrichen.
Petro hingegen versteht, worum es geht – nämlich, „dass man die afrokolumbianische Bevölkerung nur über Musik und Kunst erreicht, nicht über politische Diskurse“, sagt Purrer. Doch der kulturelle Pakt endete mit einem Debakel. Innerhalb von weniger als drei Monaten hätten die geförderten Projekte gestartet und aus buchhalterischen Gründen zumindest teilweise abgewickelt werden müssen. Unter den Kulturschaffenden brachen Zwist und Neid wegen des Geldes aus, das Kulturministerium zog seine Mitarbeiter nach anonymen Drohungen aus Tumaco ab.
Brillante Pläne mit wenig Bezug zur Wirklichkeit
Den Sicherheitsexperten Johnson überrascht das nicht. Die Funktionäre in der Hauptstadt arbeiteten häufig brillant anmutende Pläne aus, die aber zu weit weg seien von der Wirklichkeit in den abgelegenen Regionen. Dort mangele es an Institutionen und dem erforderlichen Fachpersonal für anspruchsvolle Vorhaben wie den Kulturellen Pakt. Es sei unmöglich, in einer Präsidentenamtszeit von vier Jahren 200 Jahre staatliche Vernachlässigung zu beheben, sagt Johnson. Zumal Kolumbien stark polarisiert ist zwischen einem militaristischen Denken in der konservativen Elite einerseits und dem zarten Pflänzchen, das progressive Demokraten wie Grabe kultivieren; ihre alternativen Ansätze wurden unter Petro erstmals staatliche Politik.
Kolumbiens Gesellschaft ist von einem Grundkonsens, wie mit der Gewalt umgegangen werden soll, noch weit entfernt. Doch darauf will Luisner in Tumaco nicht warten. Er nutzt die Gunst der Stunde. Die Sicherheitslage ist dank einer Waffenruhe der wichtigsten Banden seit zwei Jahren etwas besser. Seine Schneiderei boomt und er hofft, dass er bald anderen Jugendlichen eine Ausbildung und einen Arbeitsplatz geben kann. Zumindest solange die Waffenruhe hält.
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