Wer verweigern will, hat es schwer

23. September 2024
Von Helen Kidan, Netiwit Chotiphatphaisal, Maricely Parada Abril und Marah Frech.
Junge Thailänder werden von einem Arzt untersucht.
Peerapon Boonyakiat/SOPA Images/LightRocket via Getty Images
Junge Thailänder werden 2021 auf Wehrtauglichkeit untersucht. Wer einrücken muss, entscheidet das Los.
Militärdienst
In vielen Ländern der Welt werden junge Menschen zum Militärdienst eingezogen. Wie er aussieht – und wie man sich ihm entziehen kann – variiert aber sehr. Beispiele aus Eritrea, Thailand und Kolumbien.

Die Militärdienstpflicht wurde in manchen Staaten zum Zwecke des „Nation Building“ eingeführt – um ein Gefühl der nationalen Verbundenheit und ein kollektives Gedächtnis zu schaffen, das der Regierung gegenüber Loyalität schafft. So etwa in den 2010er Jahren in den Golfstaaten Kuwait, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten. In anderen Fällen entsprang sie antikolonialen Widerstandskämpfen, wie etwa in Tunesien, wo kurz nach der Unabhängigkeit im Jahr 1956 eine Militärdienstpflicht beschlossen wurde, oder ist eine unmittelbare Reaktion auf militärische Konflikte und sicherheitspolitische Veränderungen, was sich derzeit in Europa beobachten lässt. 

Die Regierung von Eritrea führte den eritreischen Nationaldienst 1994 ein, ein Jahr nach der Unabhängigkeit des Landes von Äthiopien und vier Jahre vor Beginn des Eritreisch-Äthiopischen Krieges 1998-2000. Wegen dieses drohenden Krieges mobilisierte sie die gesamte Bevölkerung zwischen 18 und 50 Jahren, unabhängig vom Geschlecht, und erweiterte den zunächst auf 18 Monate festgelegten Nationaldienst auf unbestimmte Zeit. Tausende flohen ins Ausland. Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt es in Eritrea nicht. Verweigerung wird als Desertion betrachtet und mit Haftstrafen unter unmenschlichen Bedingungen bestraft, wie Betroffene und Menschenrechtsorganisationen berichten. Die Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats verglich in einem Bericht von 2016 die unbefristete Militärdienstpflicht mit Sklaverei, da Militärdienstpflichtige auch zur Zwangsarbeit in nicht militärischen Bereichen herangezogen wurden. Andere wurden über 20 Jahre lang in den Grenzgebieten zwangsverpflichtet. 

In Eritrea werden ganze Familien bestraft

Hoffnungen, dass sich die Lage nach dem 2018 geschlossenen Frieden mit Äthiopien verbessern würde, wurden durch den Konflikt in Tigray im November 2020 jäh zunichte gemacht: Eritrea kämpft seitdem gemeinsam mit dem äthiopischen Militär gegen die Regionalregierung von Tigray. Um nicht an die Front dieses Bürgerkrieges geschickt zu werden, fliehen erneut viele Menschen aus Eritrea. Das Regime scheut nicht davor zurück, die Familien von Militärdienstpflichtigen als Strafe aus ihren Häusern auszusperren, darunter auch ältere Menschen, schwangere Frauen und Menschen mit kleinen Kindern. In manchen Fällen wurden ganze Familien verhaftet. Diese harten Konsequenzen und eine Flucht ins Ausland nehmen viele Betroffene aufgrund der Ausweglosigkeit in Eritrea in Kauf. In Aufnahmeländern ist vielen nicht bewusst, dass die meisten eritreischen Geflüchteten vor dem Militärdienst fliehen. Dies ist kein Asylgrund in Deutschland, wohl aber eine drohende Strafverfolgung aus politischen Gründen oder eine „übermäßige Bestrafung“, die bei Menschenrechtsverletzungen wie Zwangsarbeit und Misshandlungen bis hin zur Folter eindeutig gegeben ist. Dennoch hat das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in den letzten Jahren Flüchtlingsanerkennungen von Betroffenen aus Eritrea widerrufen

Zur Feier des Unabhängigkeitstages paradieren 2023 in Eritrea Soldaten an der Staatsspitze vorbei. In dem Land am Horn von Afrika gilt eine lebenslange Militärdienstpflicht.
 

Anders als Eritrea ist Thailand nicht in militärische Konflikte verwickelt. Doch das Land hat etliche Putsche durchlebt und das Militär hat eine starke Position im Staat. Das Militärgesetz von 1954 verpflichtet alle thailändischen Männer im Alter von 21 Jahren zu einem zweijährigen Militärdienst. Den abzuschaffen oder ein Freiwilligensystem einzuführen, findet sich zwar in den Wahlversprechen progressiver Parteien – zuletzt bei den Senatswahlen im Mai 2024 –, doch die Regierung und das Oberhaus der Nationalversammlung lehnen das ab. Daher wurde ein Kompromiss mit den alten Militärparteien gefunden und die Entscheidung über eine Abschaffung der Militärdienstpflicht auf unbestimmte Zeit vertagt. 

Thailand: Schicksal per Losentscheid 

Wer zum Militärdienst verpflichtet wird, entscheidet das Los: Jedes Jahr im April startet Thailand das jährliche Einberufungsverfahren, bei dem sich alle militärdienstpflichtigen Personen zu einer festgelegten Uhrzeit in einem Rekrutierungsbüro melden müssen. Dort haben sie die Möglichkeit, sich freiwillig für einen sechsmonatigen Militärdienst zu registrieren oder an der Einberufungslotterie teilzunehmen, bei der ihr Schicksal per Los entschieden wird: Ein roter Streifen bedeutet zwei Jahre Dienst, ein schwarzer Streifen bedeutet eine Befreiung. Die Anzahl der Personen, die über die Lotterie eingezogen werden, orientiert sich an einer jährlich festgelegten Quote abzüglich der Anzahl der freiwillig Militärdienstleistenden. Korruption ist bei diesem Losverfahren weit verbreitet. Die Besoldung des Militärdiensts ist niedrig; Gewalt, Misshandlungen und Todesfälle von Militärdienstpflichtigen in Ausbildungslagern sind keine Seltenheit, wie ein Bericht von Amnesty International aufzeigt. Wer noch in Ausbildung ist, kann sich bis zum Alter von 26 Jahren zurückstellen lassen, ebenso wer einem Kloster beitritt. Von der Dienstpflicht befreit wird aber nur, wer tatsächlich Mitglied eines buddhistischen Ordens ist – eine Option, die viele Militärdienstpflichtige in Thailand daher wählen.

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Und natürlich hilft es, reich zu sein, wie eine Studie mit 30.000 Militärdienstentziehenden in Thailand gezeigt hat: Die meisten von ihnen sind Kinder wohlhabender Familien. Zudem sei es eine illegale, aber gängige Praxis, höhere Militärs zu bestechen, den Namen einer militärdienstpflichtigen Person von der Lotterie-Liste zu streichen, wie der Aktivist Netiwit Chotiphatphaisal mehrfach öffentlich angeprangert hat. Er ist einer von wenigen in Thailand, die den Militärdienst verweigern und ihn amtlich und öffentlich unter Bezugnahme der auf die Menschenrechte und persönlichen moralischen Überzeugungen ablehnen. Im April dieses Jahres endete seine Aufschubfrist und er wandte sich an die Öffentlichkeit: „Der Zwang des Militärdiensts ist veraltet und ineffektiv und trägt dazu bei, die Demokratie in Thailand zu untergraben. Sein Prozess ist noch anhängig; ihm droht eine dreijährige Haftstrafe.

 

Kolumbien: Friedensabkommen erkennt Kriegsdienstverweigerung an

Anders als in Eritrea oder Thailand wurde in Kolumbien das Recht auf Kriegsdienstverweigerung mit dem Friedensabkommen von 2016 offiziell anerkannt – als Reaktion auf die politischen Kämpfe der vorangehenden Jahrzehnte des Bürgerkriegs zwischen der FARC-Guerilla und der Regierung. Die praktische Umsetzung dieses Rechts wird aber noch immer heftig diskutiert.

Erstmals wurde die Militärdienstpflicht in Kolumbien im Jahr 1907 eingeführt; rekrutiert wurden auch hier vor allem die Kinder verarmter Familien. Sie wurden außerdem zum Tragen des Militärpasses verpflichtet und bei Verstößen dagegen bestraft. Auf diese Weise wurden im vergangenen Jahrhundert Tausende von Jugendlichen irregulär und im Rahmen der Praxis willkürlicher Verhaftungen, im Volksmund „batidas“ genannt, rekrutiert. 

Training für Soldatinnen in Kolumbien 2023. Frauen sind dort nicht zum Wehrdienst verpflichtet.
 

Dank des Widerstands antimilitaristischer Bewegungen und gemeinsamer Bemühungen der juristischen Arbeitsgruppe der Universidad de los Andes, der Kriegsdienstverweigerungsinitiative Acción Colectiva de Objetores y Objetoras de Conciencia (ACOOC)  und der Organisation CIVIS konnte eine nationale Stellungnahme erarbeitet werden, die dazu führte, dass die Zwangsrekrutierungen vom kolumbianischen Verfassungsgericht für rechtswidrig erklärt und der grundlegende Charakter des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung rechtlich anerkannt wurde (Urteil C-728/2009). Darüber hinaus einigte sich die Politik 2014-2015 auf die Abschaffung des Militärpasses als Zugangsvoraussetzung zu Bildungseinrichtungen und stellte ihn als Bedingung für den Zugang zum Arbeitsmarkt und zur Ausübung weiterer Grundfreiheiten wie das Reisen („Bewegungsfreiheit“) zumindest in Frage. In die Praxis umgesetzt wurde dieses Urteil jedoch nie – mit der Begründung, dass es nur auf Männer zutreffe und daher nicht den Standards von Unparteilichkeit und Nichtdiskriminierung entspreche. 

Nach dem Friedensabkommen von 2016 hat die kolumbianische Regierung unter Gustavo Petro im Rahmen ihrer „Politik des Totalen Friedens“ Alternativen zur Militärdienstpflicht – wie die Idee eines „Sozialdienstes für den Frieden“ – vorgeschlagen. Zugleich versucht sie jedoch, Jugendliche für eine militärische Ausbildung zu gewinnen, und hat zu diesem Zweck einen Pilotplan für die Rekrutierung junger Frauen in den „Freiwilligen Militärdienst“ formuliert, der seit 2023 in Kraft ist. Und auch die Empfehlungen der Menschenrechtsgremien zur Garantie des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung spiegeln sich nicht in den Verfahren zur Einberufung junger Menschen wider. So werden die Ablehnung des Militärdiensts aus pazifistischen Überzeugungen und die Verteidigung ziviler Werte nicht als legitime Gründe anerkannt, den Militärdienst zu verweigern. 

Wenngleich sich die Bedingungen der Militärdienstpflicht in verschiedenen Staaten nicht verallgemeinern lassen: Die militärische Ausbildung junger Menschen im Rahmen eines staatlichen Pflichtdiensts beruht stets auf Zwang und Entmündigung für einen bestimmten – oder wie im Falle von Eritrea unbestimmten – Zeitraum. Eine Verweigerung des Militärdiensts ist nicht ohne weiteres möglich: Während das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in Kolumbien zwar gesetzlich verankert ist, nicht aber praktisch umgesetzt wird, kann eine Kriegsdienstverweigerung in Thailand nach derzeitiger Praxis mit einer dreijähren Haftstrafe sanktioniert werden. Für die Bevölkerung Eritreas gilt eine lebenslange Militärdienstpflicht ohne gesetzliche Alternativen. 

Gerade wegen dieser prekären Umsetzung des international verbrieften Rechts auf Kriegsdienstverweigerung ist es wichtig, daran zu erinnern, dass diejenigen, die sich dennoch dem Militärdienst entziehen oder dem Krieg verweigern, den damit verbundenen rassistischen, nationalistischen und patriarchalen Bedingungen eine Absage erteilen – trotz persönlicher Konsequenzen. Es liegt in unserer Verantwortung, ihre Stimmen zu multiplizieren, der Militarisierung unserer Gesellschaften entgegenzutreten und für den rechtlichen Schutz derjenigen zu kämpfen, für die eine Flucht ins Ausland die einzige Option darstellt, sich dem Militär- und Kriegsdienst zu entziehen.         

Helen Kidan ist Präsidentin der Eritreischen Bewegung für Demokratie und Menschenrechte (EMDHR). Netiwit Chotiphatphaisal ist thailändischer Aktivist, Verleger und Kriegsdienstverweigerer. Maricely Parada Abril ist Anwältin der kolumbianischen Organisation ACOOC Bogotá. Marah Frech arbeitet als Fachreferentin für Kriegsdienstverweigerung in der Geschäftsführung von Connection e. V.. Der gemeinnützige Verein mit Sitz in Offenbach am Main arbeitet international zu den Themen Kriegsdienstverweigerung, Desertion und Asyl. Für diesen Beitrag hat sie Länderberichte von Helen Kidan, Netiwit Chotiphatphaisal und Maricely Parada Abril ins Deutsche übersetzt und zusammengetragen.

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23. September 2024
Von Helen Kidan, Netiwit Chotiphatphaisal, Maricely Parada Abril und Marah Frech.
erschienen in Ausgabe 5 / 2024: Vorsicht Subkultur!
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