Ist Europa so schwach?

Migrationspolitik
Die EU-Kommission zeichnet Journalistinnen aus, die die Verbrechen gegen Flüchtlinge und Migranten aufdecken, für die sie mitverantwortlich ist. Makaber, kommentiert Tillmann Elliesen.

Tillmann Elliesen ist Redakteur bei "welt-sichten".

Samrin starb irgendwann im Herbst 2022 in den Wäldern an der Grenze zwischen Belarus und Litauen; litauische Grenzschützer fanden seine stark verweste Leiche in einem Fluss. Der Mann aus Sri Lanka wurde 32 Jahre alt. Wenige Wochen vor seinem Tod hatte er sich nach Europa aufgemacht, um für seine Frau und seinen damals vier Jahre alten Sohn Geld zu verdienen; in seiner krisengeschüttelten Heimat sah er keine Perspektiven. In seiner letzten WhatsApp-Nachricht an seine Frau Sanooja schrieb er: „Kein Wasser, ich glaube, ich werde sterben. Ich liebe dich.“

Leute wie Samrin bezeichnet die EU-Kommission als Gefahr, gegen die sich Europa verteidigen müsse. Belarus und Russland führten einen „hybriden Krieg“ gegen die EU, indem sie Flüchtlinge und Migranten durchwinkten und an die Grenze schafften, erklärte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 11. Dezember. Um gegen diese „anhaltende Bedrohung“ der Sicherheit der EU vorzugehen, dürfen Mitgliedsländer wie Finnland, Litauen und Polen ab sofort Maßnahmen ergreifen, die „möglicherweise schwerwiegende Eingriffe in Grundrechte wie das Recht auf Asyl“ bedeuten, sagte von der Leyen. Mit anderen Worten: Sie dürfen Migranten und Flüchtlinge an der Grenze zur EU ohne Prüfung zurückweisen. Solche bislang verbotenen Pushbacks haben jetzt den Segen aus Brüssel. 

Journalistinnen des Online-Portals „Unbias the News!“ haben die Geschichte von Samrin und vor allem die seiner Frau recherchiert. Monatelang lebte Sanooja im Ungewissen, wo ihr Mann war, wie es ihm ging, ob er noch lebte. Bei Behörden der EU-Mitglieder Polen und Litauen stieß sie vor allem auf Untätigkeit und Schweigen. Menschenrechtsorganisationen und Flüchtlingshelfer bewirkten, dass Sanooja informiert wurde – da war Samrin wahrscheinlich schon mehrere Wochen tot, und die litauische Polizei wusste das möglicherweise längst. Laut „Unbias the News!“ sind seit 2021 Dutzende Flüchtlinge und Migranten im Grenzgebiet von Litauen, Polen und Belarus gestorben.

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Die Journalistinnen wurden Ende November für ihre Recherche mit dem renommierten Lorenzo-Natali-Medienpreis ausgezeichnet. Das ist mehr als verdient. Makaber aber ist: Gestiftet ist der Preis von der EU-Kommission. Die Kommission zeichnet also Journalistinnen aus, die die Verbrechen aufdecken, für die sie mitverantwortlich ist.

Die offizielle Genehmigung von Pushbacks, die gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen, ist der jüngste moralische Tiefpunkt der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik. Laut EU-Kommission sind in den ersten elf Monaten dieses Jahres gut 8000 Menschen aus Belarus illegal in die EU gekommen, also durchschnittlich rund 750 im Monat. In der EU leben knapp 450 Millionen Menschen. Dass Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angesichts dieser Zahlen von einem „hybriden Krieg“ und von einer „Bedrohung“ spricht, ist ein Armutszeugnis. Ist Europa wirklich so schwach?

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