Fluchtpunkt Zypern

Im Hintergrund stehen mehrere Flüchtlingscontainer an einer Straße, auf der zwei afrikanische Frauen laufen.
picture alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka
Geflüchtete im Aufnahme- und Unterbringungszentrum für Asylbewerber in der Gemeinde Kofinou in Zypern. Andere EU-Ländern nehmen dem Inselstaat nur wenige Geflohene ab.
Flüchtlingspolitik
Als kleiner EU-Staat kämpft Zypern seit einigen Jahren mit einem überlasteten Asylsystem. Der Inselstaat wird zum Brennpunkt für Europas scheiternde Flüchtlingspolitik.

Ein überladenes Flüchtlingsboot kämpfte sich im Oktober 2023 durch das östliche Mittelmeer Richtung Zypern. Das Schiff war am Vortag aus dem libanesischen Hafen Tripoli ausgelaufen. Unter den 180 Passagieren waren größtenteils Syrer, darunter der 21-jährige Ali. Um der Einberufung in die syrische Armee zu entgehen, war er aus Damaskus in den Libanon geflohen. Drei Wochen wartete er in Tripoli, bis das Herbstwetter eine Überfahrt zuließ.

„Laut Schmuggler sollte die Fahrt nicht länger als acht Stunden dauern“, sagt Ali. Doch nach über einem Tag auf See hatten sie Zypern noch immer nicht erreicht. Ali fürchtete, das Boot könnte sinken. Die Motoren waren zu schwach, die Wellen hoch. Der Ersatzkapitän hatte die Orientierung verloren, Navi gab es keines. Als nach über 30 Stunden schließlich die zypriotische Küste in Sicht kam, wurden sie von der Küstenwache der Republik Zypern aufgegriffen. Da das Flüchtlingsboot zu sinken drohte, konnten die Zyprioten es nicht zurück in den Libanon schicken und eskortierten es in den Hafen. 

Im Jahr 2023, als Ali Zypern erreichte, war die Zahl der ankommenden Flüchtlingsboote überschaubar: Gerade einmal zehn Boote aus dem Libanon erreichten den Inselstaat. 2024 nahm ihre Anzahl drastisch zu, was nicht zuletzt auf die prekäre Situation syrischer Flüchtlinge im Libanon zurückzuführen ist: Rund 50 Boote landeten im ersten Quartal auf Zypern. Laut UNHCR stellten zwischen Januar und März dieses Jahres etwa 3000 Syrer in Zypern einen Asylantrag.

Zypern hat die höchste Rate an Asyl-Erstantragstellern pro Einwohner

Die Republik Zypern, die de facto nur den Südteil der Insel umfasst, ist halb so groß wie das Bundesland Rheinland-Pfalz und hat knapp eine Million Einwohner (mit Nordzypern 1,4 Millionen). Wegen seiner exponierten Lage am Rande der EU hat der Inselstaat seit 2015 mit zunehmender Migration zu tun. 2022 verzeichnete er die höchste Rate an Asyl-Erstantragstellern pro Einwohner in der EU; rund 21.500 Flüchtlinge erreichten in dem Jahr Zypern. Der Grund für den starken Anstieg damals ist laut UNHCR das Ende der von Covid-19 ausgelösten Reisebeschränkungen. 

2023 sanken dann die Zahlen; laut UNHCR war das vor allem auf schärfere Zuwanderungskontrollen durch die Verwaltung Nordzyperns zurückzuführen. Viele Flüchtlinge, vor allem aus afrikanischen Staaten, kommen mit einem Studentenvisum über Istanbul nach Nordzypern. Offiziell müssen sie nach dem Studium zurück in ihre Heimatländer, viele suchen aber stattdessen in der Türkei Asyl oder versuchen, durch die Pufferzone in den Süden Zyperns und damit in die EU zu gelangen. 2023 hat die Verwaltung Nordzyperns laut UNHCR die Zuwanderungskontrollen verschärft – möglicherweise auf Druck von Istanbul. Dadurch seien die Flüchtlingsbewegungen vom Norden in den Süden der Insel zurückgegangen.

Das geteilte Zypern

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Zurzeit haben rund 21.500 Personen Asylstatus in der Republik Zypern, knapp 18.000 genießen subsidiären Schutz. Für die Regierung ist die Situation nach wie vor schwierig. „Die Kapazitäten des Staates sind überfordert“, heißt es aus dem Unterministerium für Migration, das dem Innenministerium untersteht. Wirtschaftlich, demografisch, auf sicherheitspolitischer Ebene ebenso wie in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Wohnen stoße die Republik an ihre Grenzen. 

„Ich stecke hier fest“

Ali hat auf Zypern einen Asylantrag gestellt, inzwischen wohnt er in der Hauptstadt Nikosia. Glücklich ist er hier nicht. Zu Hause in Syrien hieß es, wenn es ihm gelänge, in die EU zu kommen, würde er Asyl erhalten, eine Arbeit finden und seine Familie nachholen können, so Ali: „Tatsächlich ist nichts von alldem eingetreten.“ Das Leben auf Zypern sei teuer: „Wir teilen uns zu sechst eine kleine Wohnung.“ 

Weil die staatliche Unterstützung nicht ausreicht, arbeitet Ali am Bau und erledigt kleinere Reparaturen. „Ich habe zwar keine Arbeitserlaubnis, bin aber gezwungen zu arbeiten, wenn ich überleben will.“ Wie es weitergehen wird, weiß Ali nicht. Vor neun Monaten hat er seinen Asylantrag gestellt, eine Anhörung gab es bis jetzt nicht, berichtet er im August: „Ich stecke hier fest.“

Regierung betreibt illegale Pushbacks

Doros Polycarpou, Geschäftsführer der zypriotischen Menschenrechtsorganisation Kisa, kennt Hunderte Fälle wie Ali, die mit dem Minimum überleben müssen. Er sieht dahinter staatliches Kalkül: „Die Regierung verschärft die Situation für Asylsuchende bewusst, um sie dazu zu bewegen, entweder die Insel rasch wieder zu verlassen oder gar nicht erst zu kommen.“ Polycarpou beklagt, dass zu wenig in Integrationsarbeit investiert werde und die finanzielle Unterstützung für Asylbewerber zu niedrig ausfalle. Gleichzeitig werde ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert, wodurch sie in die Schwarzarbeit gedrängt und kriminalisiert werden: „War es bis September 2023 möglich, binnen eines Monats nach Einreichung des Asylantrags eine Arbeit anzunehmen, ist diese Sperrfrist nun auf neun Monate ausgeweitet worden.“

Außerdem betreibe die Regierung illegale Pushbacks. Auf See werden bereits seit 2020 Flüchtlingsboote gestoppt und in den Libanon zurückgeschickt, wie Human Rights Watch belegt. Auch an Land werden Flüchtlinge zurückgezwungen, die versuchen, durch die von UN-Truppen kontrollierte Pufferzone aus dem Norden der Insel in die Republik Zypern zu gelangen. 

Doros Polycarpou von der Menschenrechtsorganisation Kisa setzt sich für die Rechte von Geflohenen ein.

Im September 2024 saßen rund 70 Personen in der Pufferzone fest. Der Weg in die EU ist ihnen verwehrt und in Nordzypern können sie keinen Asylantrag stellen, weil dieser türkisch besetzte Teil der Insel außer von der Türkei international nicht als eigenständiger Staat anerkannt wird. Gleichzeitig lasse die Republik Zypern nicht zu, dass die Verwaltung in Nordzypern in ihrem Namen Asylanträge annimmt, erklärt Polycarpou: „Denn würde sie dem zustimmen, dann käme das in den Augen der Regierung einer Anerkennung Nordzyperns als eigenständigem Staat gleich.“ Stattdessen fordere Nikosia die Türkei auf, sich um die Flüchtlinge zu kümmern. Am Ende wolle niemand für sie verantwortlich sein.

In Brüssel werden beide Augen zugedrückt

Natürlich wissen die EU-Verantwortlichen von Pushbacks und anderen rechtlich fragwürdigen Maßnahmen. In Brüssel werden jedoch beide Augen zugedrückt, weil man weiß, dass das Asylsystem in der EU nicht funktioniert, so Polycarpou. Derzeit gebe es nur halbherzige Programme zur Umsiedlung von Geflohenen in andere EU-Länder, um die Randstaaten irgendwie zufriedenzustellen: „Eine wirklich solidarische Lösung ist das aber nicht, weil die Zahl an Flüchtlingen, die vom Süden in den Norden transferiert werden, viel zu gering ist.“

Weil die Verteilung von Flüchtlingen in der EU nicht funktioniert, versucht diese, die Asylverantwortung an Nachbarstaaten auszulagern. Im Mai 2024 schloss Brüssel einen Pakt mit dem Libanon: Beirut erhält ein Finanzhilfepaket in Höhe von einer Milliarde Euro, um seine Seegrenzen dichtzumachen und die Migration nach Europa zu stoppen. 

Der UNHCR sieht derartige Abkommen kritisch: „Die EU muss ihre Verantwortung im Bereich Asyl behalten und sollte damit aufhören, ihre Asylverpflichtungen auszulagern.“ Dies stehe nicht nur im Widerspruch zu den Rechtspflichten und moralischen Werten der EU, sondern sei auch ineffektiv und teuer: „Die Überlastung von Drittländern mit Asylbewerbern kann zu sozialen, wirtschaftlichen und politischen Spannungen führen und für die EU nachteilige Abhängigkeiten schaffen“, teilt die Organisation auf Anfrage mit.

Libanesische Streitkräfte hindern Flüchtlingsboote am Ablegen

Der Libanon ist längst überlastet. Nicht nur hat der Zedernstaat 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen, er befindet sich außerdem seit 2019 in einer schweren Wirtschaftskrise. Hinzu kommt der Krieg zwischen der Hisbollah und Israel, der Hunderttausende Libanesen zu Vertriebenen gemacht hat, die ihrerseits mit Notunterkünften und Hilfsleistungen versorgt werden müssen. Finanzen und Infrastruktur des Staates sind erschöpft und die Zeiten, in denen syrische Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen wurden, lange vorbei.

Autor

Markus Schauta

ist Journalist für deutschsprachige Zeitungen und Magazine mit über zehn Jahren Erfahrung im Nahen Osten. Er hat unter anderem aus Aleppo, Gaza, Bagdad und Mossul berichtet.

Das treibt die syrischen Flüchtlinge Richtung Zypern, das nur 160 Kilometer von der libanesischen Küste entfernt ist. Motiviert von der EU-Finanzspritze, hindern nun die libanesischen Streitkräfte Flüchtlingsboote am Ablegen. Diese Pullbacks verletzten das Menschenrecht, ein Land jederzeit zu verlassen. Außerdem werden immer wieder von den Streitkräften aufgegriffene Bootsflüchtlinge nach Syrien abgeschoben, wie ein Bericht von Human Rights Watch vom September 2024 belegt. Manche Zurückgekehrte wurden laut diesem Bericht von syrischen Regierungstruppen verfolgt, inhaftiert, gefoltert und in einigen Fällen getötet. 

Seit April 2024 ist die Zahl der Asylanträge in der Republik Zypern stark rückläufig, so der UNHCR, seit Mai liegt sie fast bei null. Dieser Trend setzte sich im August und September fort. Das stellvertretende Ministerium für Migration begrüßt diese Entwicklung. Dies habe der zypriotischen Regierung ermöglicht, sich auf bereits gestellte Asylanträge zu konzentrieren. „Durch Ablehnungen und Rückführungen haben wir zum ersten Mal seit einigen Jahren mehr Abflüsse als Zuflüsse“, heißt es aus dem Ministerium.

Ähnliches Vorgehen auch in anderen EU-Grenzstaaten

Polycarpou von der NGO Kisa sieht das skeptisch. Nach wie vor würden Flüchtlinge über den Land- und teilweise auch über den Seeweg Zypern erreichen, sich aber nicht als Asylbewerber registrieren lassen: „Sie bleiben undokumentiert und versuchen, so rasch als möglich in ein anderes EU-Land weiterzureisen, weil sie wissen, dass sie auf Zypern keine Zukunft haben.“

Was auf Zypern geschieht, kann man auch in anderen EU-Grenzstaaten beobachten, deren Regierungen die Zahl der Flüchtlinge verringern wollen und die Dinge selbst in die Hand nehmen, so Polycarpou. Frei nach dem Motto: „Setze alles daran, ein möglichst unbeliebtes Zielland für Flüchtlinge zu werden, so dass sie lieber in anderen EU-Staaten ihre Asylanträge stellen.“ 

Dem UNHCR sind diese Probleme bewusst: „Die Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen dürfen mit einem möglichen Zustrom von Asylbewerbern nicht alleine gelassen werden.“ Vielmehr brauche es einen Mechanismus, der eine gerechtere Verteilung der Asylbewerber innerhalb der EU ermögliche, teilt er auf Anfrage mit. Natürlich habe jeder Staat das Recht, Personen, die ihren Asylanspruch nicht nachweisen können, in ihre Herkunftsländer zurückzuführen. Grundvoraussetzung dafür sei aber, dass der Zugang zu Asyl sowie faire und effiziente Asylverfahren gewährleistet sind. In der Republik Zypern sieht es derzeit nicht danach aus: Im April hat die zypriotische Regierung die Bearbeitung von Asylanträgen von Syrern, die seit April gekommen sind, bis auf Weiteres ausgesetzt.

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