„Die Politik der EU hat massive Auswirkungen auf unsere Wirtschaft und die Mobilität der Menschen“, betont Moctar Dan Yayé, Sprecher unserer nigrischen Partnerorganisation Alarm Phone Sahara. Traditionell hätten sich die Menschen zwischen Niger und seinen Nachbarländern immer frei bewegen können. Wie in vielen Regionen des Globalen Südens sei auch in Westafrika die Zuwanderung in Nachbarländer Lebensrealität und wichtiger Wirtschaftsfaktor. So hat es in den vergangenen Jahrzehnten in der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS viele Initiativen gegeben, die Freizügigkeit zu fördern – und mit ihr die entwicklungsfördernden Effekte von Migration, wie Rücküberweisungen in die Heimatländer und neue Beschäftigungsmöglichkeiten.
Demgegenüber wurden allerdings auf europäischen Druck hin im Niger seit 2015 die Grenzen hochgezogen. Das Land bekam knapp 700 Millionen Euro und militärische Ausrüstung von der EU und sollte im Gegenzug Migranten auf ihrem Weg Richtung Norden stoppen – mit schwerwiegenden Folgen für Mobilität und Wirtschaft in der Region.
Die Wahrnehmung Europas, ein Großteil der Migrantinnen und Migranten aus dem Sahel wandere Richtung Europa, ist falsch. 85 Prozent der Migration bleibt in der Region. Darunter sind viele Arbeits-, aber auch Schutzsuchende. Laut UN-Flüchtlingshilfswerk beherbergen Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen die Mehrheit der Geflüchteten weltweit, nämlich 75 Prozent. Ja, Deutschland hat in den vergangenen Jahren viele Schutzsuchende aufgenommen. Die Hauptlast liegt jedoch weiterhin bei Ländern, die ökonomisch deutlich schlechter gestellt sind.
EU schließt Migrationsabkommen mit Autokraten
Während Migration und Flucht in vielen Ländern des Globalen Südens eine teils förderliche, teils herausfordernde Normalität ist, zeichnet sich in Deutschland und Europa eine neue, ganz andere Normalität ab: Flüchtlingsschutz und Migrationskontrolle sollen an Drittstaaten außerhalb der EU ausgelagert werden.
So werden Migrationspartnerschaften mit zum Teil autoritär regierten Ländern wie Ägypten oder Tunesien geschlossen, die Migration in Richtung Europa eindämmen und Rückführungen erleichtern sollen, oder die Asylverfahren werden an Drittstaaten ausgelagert. Längst nutzt oder diskutiert die EU auch andere „Hebel”: So zahlt sie etwa Entwicklungsgelder vorrangig an Länder, die bei der Migrationskontrolle kooperieren, und setzt ähnliche Maßstäbe auch bei Zollerleichterungen und der Vergabe von Visa an.
Zahlungen auf diese Art an Bedingungen zu knüpfen, ist aber entwicklungspolitisch kontraproduktiv. Der Auslagerung von Asylverfahren ins Ausland haben einzelne Gerichte in Italien und Großbritannien bereits Absagen erteilt. Die große Mehrheit der vom Bundesinnenministerium befragten Sachverständigen hat die Pläne zudem als zu teuer, praktisch kaum umsetzbar und menschenrechtlich fragwürdig bewertet.
"Die EU muss Migration als Chance begreifen"
Generell aber müssen wir uns in Europa fragen, wie wir in Zukunft mit anderen Regionen der Welt kooperieren wollen: Wenn Migrationskontrolle zum dominanten Kriterium unserer Kooperationen wird, vergeben wir nicht die Möglichkeit, wichtige entwicklungspolitische Impulse zu setzen und Menschenrechtsprobleme ehrlich anzusprechen? Stärken wir autoritäre Strukturen in Partnerländern und schwächen die Demokratie? Verwehren wir anderen Regionen – siehe Westafrika und die dort inzwischen bedrohte Freizügigkeit – damit nicht Errungenschaften, die für uns hierzulande vollkommen selbstverständlich sind?
„Die EU muss Migration als Normalität akzeptieren“, sagt unser Partner Moctar Dan Yayé. Ich stimme ihm zu und möchte hinzufügen: Die EU muss Migration als Chance begreifen, sowohl für unsere Gesellschaften als auch für unseren Wirtschaftsstandort und unser Wohlfahrtssystem. Und als Ausdruck unserer globalen Verantwortung. Wir hören häufig, dass sich politische Interessen auf der einen und normative Werte auf der anderen Seite gegenseitig ausschlössen. Am Beispiel Migration erkennen wir, dass dem häufig nicht so ist. Was uns nützt, hilft auch anderen.
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