Die Redaktion von „welt-sichten“ war gerade mal vier Monate im Amt, da wurde sie im Frühjahr 2008 von den Herausgebern zu einer Krisensitzung einbestellt. Kurz davor war in der Aprilausgabe ein Artikel über Korruption in der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit erschienen, der die Studie einer Arbeitsgruppe der Anti-Korruptions-Organisation Transparency International (TI) zusammenfasste. Tenor: Auch in der Entwicklungsarbeit kirchlicher Werke wie den Herausgebern von „welt-sichten“ komme es zu Zweckentfremdung, Missbrauch oder Unterschlagung von Projektgeldern; dafür gebe es strukturelle Ursachen; die Werke bemühten sich, Korruption vorzubeugen, könnten aber mehr tun. Die Mitglieder der TI-Arbeitsgruppe – Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mehrerer kirchlicher Werke – wollten die Ergebnisse veröffentlichen, ihre Chefs und Chefinnen waren dagegen. Der Bericht in „welt-sichten“ löste dann große Aufregung aus.
Das ist mehr als sechzehn Jahre her. Wäre die Aufregung heute ebenso groß? Vermutlich nicht. Heute gehen die Werke offener mit Korruption in ihrer Arbeit um, das Bewusstsein ist gewachsen, sagen alle, mit denen für diesen Artikel gesprochen wurde. Dazu beigetragen hat die TI-Arbeitsgruppe für kirchliche Entwicklungszusammenarbeit, in der sich Vertreter und Vertreterinnen der Werke seit zwanzig Jahren austauschen mit dem Ziel, die Korruptionsbekämpfung in ihren Häusern zu verbessern. Die Vernetzung in der Arbeitsgruppe ermutige dazu, offener und selbstbewusster über Probleme zu sprechen, sagt die Mitarbeiterin eines Werks, die wie alle Gesprächspartnerinnen und -partner für diesen Artikel nicht namentlich genannt wird. Das Thema ist weiterhin brisant, gerade in Zeiten, in denen Entwicklungszusammenarbeit zunehmend unter den populistischen Generalverdacht gerät, sie sei bloß Geldverschwendung.
Heute informieren die Hilfswerke zum Teil auf ihren eigenen Webauftritten oder in ihren Jahresberichten über Korruption in der Projektarbeit. Zumindest die größeren Werke verfügen über Anti-Korruptions-Teams, die Verdachtsfällen nachgehen, Buch darüber führen und im Gespräch auch Auskunft geben, mit wie vielen Fällen sie sich im Jahr befassen müssen. Das können schon mal zwei Dutzend sein, in jedem zweiten davon kommt es zum Abbruch der Zusammenarbeit mit dem Partner. Bei einem Hilfswerk mit mehr als tausend Partnern in aller Welt ist das nicht viel. Allerdings gehen die Anti-Korruptions-Teams in der Regel nur gemeldeten Verdachtsfällen nach; alle betonen, dass die Dunkelziffer vermutlich deutlich höher ist.
Das Problembewusstsein ist gestiegen
Dass das Bewusstsein für das Problem in der kirchlichen Entwicklungsarbeit heute größer ist als vor zwanzig Jahren und offener damit umgegangen wird, hat nach Ansicht einer Expertin unter anderem drei Gründe: Zum einen sei das Motiv der (christlichen) Solidarität mit den Partnern im globalen Süden schwächer als früher, weil eine wachsende Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kirchlicher Werke nicht mehr aus dieser Tradition komme. Das habe zur Folge, dass die Hemmschwelle heute niedriger sei, Partner bei möglichem Fehlverhalten streng unter die Lupe zu nehmen und im Zweifel die Zusammenarbeit zu kündigen. Zum anderen habe sich die Entwicklungszusammenarbeit insgesamt professionalisiert, etwa durch entsprechende Studiengänge, die es früher so nicht gab. Drittens schließlich wachse der Druck auf kirchliche, aber auch andere nichtstaatliche Entwicklungsorganisationen, gegenüber öffentlichen Förderern wie dem Bundesentwicklungsministerium (BMZ) oder der Europäischen Union die Wirkung der eingesetzten Mittel nachzuweisen und Verschwendung zu vermeiden.
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Typisch für Korruption in der kirchlichen Entwicklungsarbeit sind Zweckentfremdung oder aber Unterschlagung von Fördergeld. Bei der Zweckentfremdung bleibt das Geld häufig im Projekt: In einem Schulprojekt etwa investiert die Partnerorganisation nicht wie vereinbart in neue Schulbücher, sondern in eine bessere Internetverbindung für die Schule. Bei der Unterschlagung hingegen verschwindet Geld aus dem Projekt: Die Partnerorganisation rechnet zum Beispiel gegenüber dem Geber im Norden Gehälter ab für Mitarbeiter, die es gar nicht gibt, und das Geld landet in den Taschen der Leitung. Oder der Partner hat ein Projekt bei mehreren Gebern beantragt und bewilligt bekommen, kassiert mehrfach und rechnet gegenüber den Gebern immer dieselben Kosten ab. Oder eine Partnerorganisation erhält Fördermittel für Gehälter, verbucht die auch ordentlich, aber der Chef lässt sich von seinen Mitarbeitern einen Teil bar ausbezahlen und steckt das Geld ein. Solche Fälle nachzuweisen ist schwierig, weil auf dem Papier alles korrekt aussieht.
Ernst nehmen muss man alle gemeldeten Verdachtsfälle, heißt es aus den Anti-Korruptions-Teams der Werke. Auch die Zweckentfremdung, bei der Geld lediglich anders als vereinbart im Projekt ausgegeben wird und insofern keine Korruption im engeren Sinne vorliege, sehe man sich „durch die Korruptionsbrille“ an, heißt es aus einem Hilfswerk: Das falle unter Prävention, denn dem Partner solle so signalisiert werden, dass man auch vermeintlich geringfügige Vertragsbrüche nicht hinnehme. Tatsächlich berichten mehrere Gesprächspartnerinnen von Listen, auf denen Partnerorganisationen im globalen Süden ihre Geber danach einstufen, wie streng sie eine korrekte Mittelverwendung kontrollieren.
Entscheidend ist, auf welcher Ebene etwas passiert
Entscheidend für die Partnerschaft ist gar nicht so sehr, was passiert, sondern wo etwas passiert. Hier kann man zwischen der operativen Ebene einer Partnerorganisation, der Leitungsebene und der politischen Ebene unterscheiden. Im ersten Fall zwackt vielleicht eine Projektmitarbeiterin immer mal wieder etwas Geld ab, weil sie das braucht, um den Krankenhausaufenthalt für ihre Tochter zu bezahlen. Wenn der Partner das selbst aufklärt oder dabei hilft, spricht nichts gegen eine weitere Zusammenarbeit. Anders sieht es aus, wenn die Leitung in einem solchen Fall abwiegelt, die Aufklärung behindert oder – im schlimmsten Fall – selbst korrupt ist. In solchen Fällen ist eine Zusammenarbeit in der Regel nicht mehr möglich.
Ein Sonderfall ist, wenn die Korruption auf politischer Ebene stattfindet, eine Partnerorganisation etwa staatliche Behörden schmieren muss, um arbeiten zu können. Dann sei man „eigentlich dazu verpflichtet, dem Partner zu helfen und gemeinsam eine Lösung zu finden“, heißt es aus einem Hilfswerk. Denn hier den Partner zu sanktionieren würde bedeuten, „ihn von beiden Seiten unter Druck zu setzen“. Auf dem Papier, in Anti-Korruptions-Leitfäden oder ähnlichen Dokumenten, die mittlerweile praktisch alle größeren Hilfswerke haben, heißt es natürlich, dass auch solche Korruption nicht toleriert werde.
Auch wenn kirchliche Entwicklungsarbeit heute geschäftsmäßiger abläuft als früher und die emotional-solidarische Verbundenheit mit den Partnern im globalen Süden schwächer ist: Die Trennung von einem Partner bleibt für kirchliche Hilfswerke gravierender und schmerzlicher als etwa für eine staatliche Hilfsagentur. Anti-Korruptions-Teams werden da aus dem Haus schon mal mit der Bitte konfrontiert, einen Fall „mit Fingerspitzengefühl“ zu behandeln, etwa wenn es sich um eine „gewichtige Partnerorganisation“ handelt. Oder es wird ihnen zwischen den Zeilen zu verstehen gegeben, mit einem bestimmten Partner, bei dem es einen Verdachtsfall gebe, wolle man unbedingt weiterarbeiten. Da gebe es dann manchmal Konflikte zwischen dem Anti-Korruptions-Team und den Projektverantwortlichen, heißt es aus einem Werk. Umgekehrt kann das gemeinsame Fundament der Zusammenarbeit – die im christlichen Glauben wurzelnde Solidarität – ein Pfund in der Korruptionsbekämpfung sein: Die Rüge, Korruption sei mit diesem gemeinsamen Fundament nicht vereinbar, wirkt manchmal stärker als das sachliche Argument, es liege ein Vertragsbruch vor, sagt der Leiter eines Missionswerks.
In Antikorruption investieren auf Kosten der Projektarbeit?
Am besten ist es, der Korruption von Beginn an vorzubeugen. Die größeren Hilfswerke schätzen heute in der Regel Risiken nach standardisierten Verfahren ein. Sie nutzen dazu Länderlisten wie den Corruption Perceptions Index von Transparency International und werten ihre Erfahrungen in bestimmten Ländern aus. Die Anti-Korruptions-Teams trainieren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihrer Häuser, die Nachfrage danach wachse, heißt es aus einem großen Werk. Neue potenzielle Partnerorganisationen werden geprüft: Gibt es Richtlinien für die Buchhaltung und werden die hin und wieder aktualisiert? Gibt es regelmäßige Buchprüfungen? Mit neuen Partnern werden zunächst kleinere „Testprojekte“ vereinbart, um auszuprobieren, wie die Zusammenarbeit läuft.
Häufig mangelt es den Partnerorganisationen an gut qualifizierten Finanzbuchhaltern – entsprechend ausgebildetes Personal ist rar, vor allem in ländlichen Regionen, und verdient in der Wirtschaft besser als bei einer kleinen Entwicklungsorganisation. „Unsere Partner und die Zielgruppen unserer Arbeit sitzen nun mal nicht in Neu-Delhi, sondern auf dem Land in Bihar“, bringt es ein Mitarbeiter eines Hilfswerks auf den Punkt. Gutes Personal müsste entsprechend bezahlt werden, und dafür fehlt oft das Geld.
Das berührt einen grundsätzlichen Punkt: Wie viel Geld sollte ein Hilfswerk in den Kampf gegen Korruption investieren – Geld, das dann nicht mehr für die eigentliche Projektarbeit zur Verfügung steht? Vorbeugung gegen Korruption müsste Teil von Projektbudgets werden, sagt die Mitarbeiterin eines Anti-Korruptions-Teams – ist es aber nicht. Die Teams selbst sind viel zu klein, in der Regel nicht mehr als zwei volle Stellen. Mehr als die Bearbeitung gemeldeter Verdachtsfälle ist da nicht möglich, obwohl alle gern mehr für die Prävention tun würden.
Der Kampf gegen Korruption ist noch kein Querschnittsthema
Noch ist Antikorruption in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit nicht ausreichend strukturell verankert, sagen Fachleute, und das gelte sowohl für staatliche als auch für nichtstaatliche Organisationen. Der Kampf gegen Korruption ist kein Querschnittsthema, das in Projekten immer mitgedacht wird wie etwa die Geschlechtergerechtigkeit. In vielen kirchlichen Hilfswerken zucken die Leitungen bei dem Thema immer noch zusammen – vielleicht nicht mehr so heftig wie früher, aber weiterhin meiden sie damit lieber die Öffentlichkeit.
Wäre mehr öffentliche Transparenz überhaupt sinnvoll, sollte man offener über einzelne Fälle berichten? Das sieht man in den Anti-Korruptions-Teams eher skeptisch. Der eigenen Arbeit zur Prävention und Aufklärung von Korruption würde es vermutlich nichts nützen. Und das Risiko wäre groß, dass die rechtspopulistischen Fundamentalkritiker von Entwicklungszusammenarbeit solche Berichte für ihre Zwecke ausschlachten. Für eine verantwortliche Debatte müsste immer die ganze Geschichte erzählt werden: Dass die Zusammenarbeit mit Partnern in Konfliktregionen oder politisch schwierigen und instabilen Staaten ein wichtiges, oft aber risikoreiches Unterfangen zugunsten benachteiligter Menschen ist, bei dem auch mal etwas schiefgehen kann.
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