Wo Kubas Vielfalt zu Hause ist

Bühnenauftritt einer Drag Queen im transparenten orangenen Kleid, die Arme weit ausgebreitet.
Knut Henkel
Samstag nachts gehört den Drag Queens die Bühne im „El Mejunje“. Sie sind ein Aushängeschild des Kulturzentrums.
Diversität
Im Kulturzentrum „El Mejunje“ in der Stadt Santa Clara treffen grelle Drag Queens auf Seniorinnen, die Bolero-Musik lieben, und Studierende, die auf Techno abfahren. Wer hierherkommt, will den Traum vom diversen und offenen Kuba leben.

Wilder Wein wuchert über die bunte Fassade in der Calle Marta Abreu von Santa Clara. Eine 12 aus Porzellan ist neben dem grünlackierten breiten Holztor angebracht, daneben prangt ein hellblaues Graffiti mit den Worten „El Mejunje“ (auf Deutsch etwa „Gebräu“). In der Tür steht Jorge Luis Crespo, die gute Seele des innovativen Kulturzentrums von Santa Clara. Der hagere Mann mit den langen Dreadlocks, heute ganz in Weiß gekleidet, legt überall da Hand an, wo es nötig ist – als Handwerker, Barmann oder an der Abendkasse. Er grüßt den Besucher mit breitem Grinsen. „Mal wieder zu Besuch im inklusivsten Club Kubas?“, fragt der Afrokubaner gut gelaunt und gibt den Blick frei auf das Wandbild aus Kacheln mit den Händen, die lachende Gesichter haben, das auf einer unverputzten Backsteinwand angebracht ist. 

Das Bild steht für Diversität und ist dem Initiator des Kulturzentrums gewidmet: Ramón Silverio. Der mittlerweile 75-jährige Schauspieler und ausgebildete Pädagoge ist der Kopf hinter dem Kulturzentrum, und deshalb trägt das Wandbild auch den Zusatz „El Mejunje de Silverio“, das Gebräu von Silverio. In Santa Clara, der quirligen Stadt mit 350.000 Einwohnern im Zentrum Kubas, kennt quasi jedes Kind das Kulturzentrum, das für alle etwas bietet: für die Älteren die Nachmittage mit Bolero- und Feelin-Musik, für die Jüngeren Rock- und Techno-Events, für die ganz Kleinen Theater- und Kunst-Workshops, daneben Ausstellungen, Konzerte und Partys. Das offene und vielfältige Konzept hat dem Kulturzentrum, zu dem Ausstellungsräume, ein Theater mit rund 150 Plätzen sowie Büros und Ateliers gehören, auf der ganzen Insel einen exzellenten Ruf eingebracht. 

Nachmittags schwingen im Hof des „El Mejunje“ ältere Damen und Herren das Tanzbein zu Bolero-Musik.

Dazu haben mehr als ein Dutzend Drag Queens aus der Region beigetragen. Bunte Perücke, dicker Lidstrich, viel Rouge, fesche Klamotten und ein strahlendes Lächeln sind das Markenzeichen der aufgedonnerten Damen wie Zulema Anderson. Deren Foto hängt neben anderen an der unverputzten Backsteinwand in der Bar im hinteren Teil des „El Mejunje“. Dort sitzt Ramón Silverio am Tresen und notiert ein paar Zeilen auf einen Block, um die Show am morgigen Abend vorzubereiten. Der mittelgroße Mann genießt die paar Minuten Ruhe, bevor die Türsteher vorne die ersten Gäste einlassen.

Queens mit knallbunten Haaren und kubanische Cowboys

Es ist Samstagabend und wie jede Woche steht Disco auf dem Programm, die Drag Queens sind mit von der Partie. Samstags trifft sich die schwule und transsexuelle Szene hier, und dann stöckeln die Queens mit knallbunten Haaren auf High Heels durch den mit Graffitis dekorierten Innenhof, kubanische Cowboys posieren mit keckem Hüftschwung und Muchachas – Transgender-Frauen – im strengen Abendkleid oder im Minirock geben sich unnahbar. Alles ist erlaubt in Santa Claras integrativstem Club, in dem Outfits zu sehen sind, die man in Kubas Hauptstadt Havanna lange suchen muss. Dafür sorgen die Studentinnen und Studenten aus Bolivien, Angola oder Mexiko, die in Santa Clara meist Medizin studieren und Perücken, Schminke, Klamotten, aber auch Musik aus dem Urlaub in ihren Heimatländern mitbringen, weil das alles in Kuba nur schwer zu kriegen ist. 

„Unsere Drag Queens sind ein Aushängeschild. Doch vor allem stehen wir für Vielfalt und Respekt“, sagt Ramón Silverio. Der fast kahle Charakterkopf war Lehrer, bevor er sich mehr und mehr dem Theater verschrieb, seiner Leidenschaft. Längst ist der offen homosexuell lebende Mann zu einer Ikone des anderen Kuba geworden: eines offenen, diversen Kuba, wo allen Menschen mit Respekt begegnet wird. „Wir träumen hier den Traum einer Gesellschaft der Zukunft“, sagt Silverio.

Lokalen Künstlern wie dem Singer-Songwriter Raúl Torres bietet das Kulturzentrum Auftritts­möglichkeiten.

Ramón Silverio ist ein Kind der kubanischen Revolution. „Erst mit deren Sieg 1959 erhielt meine Generation Zugang zur Bildung“, erklärt der 75-Jährige. Er wuchs in sehr einfachen Verhältnissen in der Region von Santa Clara auf, in einem kleinen Dorf, wo seine Familie in einer Hütte mit gestampftem Lehmboden lebte. Seine Mutter sorgte dafür, dass ihre Kinder Solidarität in all ihren Facetten kennenlernten. „Es war normal, Nachbarn etwas abzugeben, wenn es denen an Reis oder Bohnen fehlte“, erinnert sich der Theaterdirektor. Das prägt ihn bis heute: Seit Jahrzehnten bringt er mit der mobilen Theaterbrigade des „El Mejunje“ Kultur in die kleinen Dörfer der Sierra del Escambray, das eindrucksvolle bewaldete Bergmassiv im Zentrum der Insel, das sich fast bis Santa Clara erstreckt. 

Das Kulturzentrum entstand durch sehr viel Eigenintiative 

Der Name „El Mejunje“ geht auf einen Kräutersud zurück, den die kubanischen Unabhängigkeitskämpfer gegen die spanische Kolonialmacht tranken, um sich vor Krankheiten zu schützen. Schwieriger als die Namensfindung war es für die Künstlerinnen und Künstler um Silverio, das Haus in der Calle Marta Abreu zu ergattern. 1983 und 1984, als sich die Gruppe formierte, trat sie immer wieder in einem befreundeten Theater auf. 1985 bekam sie dann von der Stadtverwaltung den Zuschlag für die Ruine in der Calle Marta Abreu. 

Das war ungewöhnlich, denn homo-, bi- und transsexuelle Menschen, aber auch Querdenkerinnen, die der sozialistischen Norm des „neuen Menschen“ von Ernesto „Che“ Guevara widersprachen, hatten damals einen schweren Stand in Kuba. Diskriminierung, Festnahmen durch die Polizei und die Stigmatisierung als „asozial“ waren an der Tagesordnung. Hartnäckige Aktivisten wie Silverio, der in der kommunistischen Partei Kubas bis heute für Diversität und Meinungsfreiheit eintritt, waren die Ausnahme. „Wir hatten gute Argumente für ein Kulturzentrum mitten in der Stadt, denn in Santa Clara gab es damals nichts für die jüngere Generation“, sagt Silvero. Mit etwas Farbe, Stahl, Holz und viel Eigeninitiative begannen die Aktivistinnen und Aktivisten die Ruine zu neuem Leben zu erwecken.

Sie waren überaus erfolgreich; das belegen die beiden benachbarten Gebäude, die mittlerweile zum „El Mejunje“ gehören: das Theater, die Galerie und die Probebühne neben Ateliers und Werkstätten. Dort, aber auch im von alten Mauern eingefassten Innenhof des Mejunje, wo die Konzerte von Liedermachern, Hardrock- und Rap-Bands oder Bolero-Interpreten stattfinden, steht Ramón Silverio regelmäßig auf der Bühne. Dann gibt es schräges Theater, manchmal beißend komisch, oft gnadenlos ironisch und immer mit kritischen Untertönen. Die Silverio-Show hat auch außerhalb Kubas ihre Fans. Corny Littmann, Chef des Hamburger Schmidt-­Theaters, gehört zu den Fans von Silverio und hat dem „El Mejunje“ in den 1990er Jahren neue Toiletten gespendet. 

 Ein Vorbild für andere Städte Kubas

So wurde Santa Clara, wo die Rebellen unter „Che“ Guevara im Dezember 1958 die letzte entscheidende Schlacht gegen die Truppen von Diktator Fulgencio Batista gewannen und den Weg für die Revolution ebneten, ein Vorbild für andere Städte Kubas. Der Kulturpolitiker und ehemalige Präsidentenberater Abel Prieto hat die Arbeit von Ramón Silverio gelobt, ebenso Mariela Castro, die Tochter des früheren Präsidenten Raúl Castro. Sie ist Direktorin des nationalen Instituts für Sexualerziehung (Cenesex) und war schon mehrfach im Mejunje, wo unter ihrer Schirmherrschaft 2010 Kubas erster landesweiter Drag-Queen-Contest zelebriert wurde.

Damals verloren derartige Events endgültig ihr Untergrundimage. Mit dazu beigetragen hat der Film „Fresa y Chocolate“ („Erdbeer und Schokolade“) des kubanischen Regisseurs Tomás Gutiérrez Alea, der 1994 auf der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde. Der Spielfilm thematisiert die Situation von homosexuellen Paaren in Kuba, macht auf latente Diskriminierung und Stigmatisierung aufmerksam und hat einen Wandel mitinitiiert. „Er hat in Kuba für Freiräume gesorgt, die es früher nicht gab, und das ,El Mejunje‘ war ein Schwungrad für die sexuelle Selbstbestimmung auf der Insel“, sagt Uniel Velásquez, Aktivist der kubanischen LGBTQ-Bewegung und lange Türsteher im „El Mejunje“. 

Kunst im „El Mejunje“ – typisch kubanisch mit schwarzem Humor.

Das bestätigt Jorge Luis Crespo, der im „El Mejunje“ quasi zu Hause ist. Bei Hurrikan-Warnungen übernachtet der HIV-positive Mann von Anfang sechzig im Club und sichert die Anlage, Scheinwerfer und sonstiges Equipment. Dass das „El Mejunje“ von Beginn an auch den HIV-Infizierten offen stand, ist für ihn genauso wichtig wie der Anspruch, für alle etwas zu bieten – zu für alle erschwinglichen Eintrittspreisen. 

Doch Crespo räumt auch ein: „Die Auswanderung der Jugend ist ein immenses Problem, das auch vor dem ,El Mejunje‘ nicht Halt macht.“ Ursachen dafür, dass so viele das Land verlassen, sind die ökonomische Talfahrt der letzten Jahre, verschärft vom US-Embargo, und die brachiale Niederschlagung der inselweiten Proteste im Juli 2021. Mehr als 1600 Menschen wurden damals festgenommen, etliche zu Haftstrafen von bis zu 30 Jahren verurteilt, oft mit fadenscheinigen Begründungen. Die latente staatliche Repression lastet schwer auf der Gesellschaft.

Zurückhaltend kommentiert Ramón Silverio diese Widersprüche in der kubanischen Wirklichkeit. „Wir Kubaner und Kubanerinnen haben viele Fehler gemacht, allerdings werden die Proteste auch systematisch von erzkonservativen Kreisen in den USA geschürt“, mahnt er zu mehr Differenzierung. Zugleich macht er kein Hehl daraus, dass ihm der Exodus vor allem junger, gut qualifizierter Kubaner in Richtung USA, Spanien und andere Länder Sorgen macht. „Auch für das ,El Mejunje‘ ist das ein Aderlass, den wir nur schwer kompensieren können“, gibt er zu. Darauf macht er auch in den Gremien der kommunistischen Partei Kubas aufmerksam – ohne zu wissen, ob es helfen wird. 

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erschienen in Ausgabe 5 / 2024: Vorsicht Subkultur!
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