„Ich war es leid, Götter zu malen“

Zwei junge bunt gekleidete lachende nepalesische Frauen im Halbporträt vor einem Bücherregal.
Bibek Bhandari
Pallavi Payal (links) und Sapana Sanjeevani haben auf Grundlage der Mithila-Malerei eine feministisch geprägte Bildsprache entwickelt.
Nepal
In Nepal nutzt eine neue Generation von Künstlerinnen traditionelle Malkunst, um heikle politische Themen und ihren Zorn auf die Unterdrückung von Frauen und ethnischen Minderheiten auszudrücken.

Die Stadt Janakpur im Südosten Nepals hat eine sagenumwobene Vergangenheit. Sie gilt als der Geburtsort von Sita, der Gattin des legendären Gottkönigs Rama. Damals Mithila genannt, war Janakpur die Hauptstadt des Königreichs Videha, das sich vom heutigen Südnepal bis nach Nordindien erstreckte. Nach den Schilderungen des hinduistischen Epos Ramayana war sie auch Schauplatz der heiligen Eheschließung zwischen Sita und Rama.

Bis zum heutigen Tag stellen Frauen Szenen dieser Götterehe in farbenprächtigen Wandbildern dar, die im sogenannten Mithila-Stil gehalten sind. Charakteristisch für diesen Stil sind Profilansichten von Personen  mit frontal gesehenen Mandelaugen, aber auch Vögel und andere Tiere sowie geometrische Muster. Diese tief in der Tradition verwurzelte Malerei schöpft ihre Themen aus den Mythen des Ramayana oder schildert Alltagsszenen, Feste und gesellschaftliche Ereignisse. 

Doch das Themenspektrum beginnt sich allmählich zu verändern. Eine wachsende Zahl von Frauen – und auch einige wenige Männer – nutzen diese traditionelle Kunstform, um feministische Ideen auszudrücken, was früher undenkbar gewesen wäre. Sie erweitern ihre Malkunst um persönliche und politische Aspekte. Dabei gehen sie auch über den mythologischen Bereich hinaus und beziehen moderne Weltvorstellungen ein. Ihre Schöpfungen beschäftigen sich mit ihrer eigenen Situation und auch mit Randgruppen. Sie stellen Fragen und suchen nach Antworten, indem sie die herrschenden Narrative aufbrechen.

Pallavi Payals Frauenfigur wurde zum Symbol des Widerstands

Ein typisches Beispiel ist das provokante Bild von Pallavi Payal, das eine Frau im farbenfrohen geblümten Sari zeigt, die mit gereckten Mittelfingern ein mutiges Statement abgibt. Diese Arbeit ist eine Reaktion auf bittere Erfahrungen der 34-jährigen Künstlerin. Sie engagierte sich nach den Kommunalwahlen 2017 in einer Demokratie-NGO und recherchierte, wie die neu gewählten Volksvertreter von Janakpur ihre Aufgabe erfüllten. Dabei bekam sie die Arroganz der männlichen Funktionäre gegenüber Frauen im Allgemeinen, aber auch gegenüber ihren Mitstreiterinnen und sich selbst zu spüren – ein Ergebnis des eingefleischten Patriarchats. Dieses Erlebnis wurde zu einem Wendepunkt in ihrem künstlerischen Schaffen, ihre Frauenfigur zu einem Symbol des Widerstands.

Autor

Bibek Bhandari

ist freier Journalist in Kathmandu, Nepal. Er hat in Indien und China gelebt und von dort über Gender-Themen, LGBTQ-Rechte, Kunst und Kultur sowie Umweltfragen berichtet.

„Mein erstes nicht traditionelles Mithila-Gemälde war direkter Ausdruck meines Zorns“, sagt Payal. Das 2018 entstandene Kunstwerk sei bislang ihr populärstes, fügt sie hinzu. „Ich hatte schon lange das Gefühl, dass uns Frauen in der Region die Mithila-Kunst in ihrer bestehenden Form nichts mehr sagen kann, da wir uns stark verändert haben. Wir sind Teil dieser Gemeinschaft, können uns aber in ihrer Kunst nicht wiederfinden. Der Zorn über diesen Zustand hat sich in Kunst verwandelt.“

Auch die 35-jährige Mithila-Malerin Sapana Sanjeevani fühlt sich von dieser emotionalen Herangehensweise inspiriert. Als sie Payal in ihrer Heimatstadt Janakpur kennenlernte, hatte sie selbst ihre Kunst praktisch schon an den Nagel gehängt, weil sie ihre feministischen Ideen nicht darin ausdrücken konnte. Das Malen in Privathäusern, meist im Rahmen von Festen oder Hochzeiten, erschien ihr mehr und mehr als fremdbestimmte Aufgabe. „Ich war es leid, Götter zu malen“, sagt Sanjeevani. Payals Werk habe ihren künstlerischen Funken neu entfacht. Die beiden Malerinnen, die ihr Handwerk von Mutter und Großmutter erlernt haben, sind inzwischen befreundet. Als Aktivistinnen und Künstlerinnen ist es ihr Ziel, Nepals Mithila-Kunstszene um eine feministische Komponente zu bereichern.

Ein Bild, in dem Sapana Sanjeevani die Klischees darstellt, die viele Männer über Frauen haben.

Payal und Sanjeevani stammen beide aus der nepalesischen Region Madhesh, dem Tiefland im Süden an der Grenze zu Indien. Seit jeher werden seine Bewohner, die Madhesi, vom nepalesischen Staat und den in den Bergen lebenden Menschen diskriminiert. Der Vorwand hierfür sind neben ihren ethnischen Merkmalen vor allem ihre traditionell engen familiären Beziehungen zu Indien, die viele nepalesische Nationalisten als Bedrohung empfinden. 

Diese Vorurteile verschärften sich noch, als Nepal 2015 Republik wurde und sich eine neue Verfassung gab. Die Madhesi klagten über diskriminierende Bestimmungen, die ihre ethnische Autonomie beschnitten und denjenigen unter ihnen, die indische Wurzeln haben, die Einbürgerung erschwerten. So werden ausländischen Ehefrauen nepalesischer Männer, zu denen viele Madhesi zählen, zahlreiche Hürden auf dem Weg zur nepalesischen Staatsbürgerschaft in den Weg gelegt, ohne die man keine SIM-Karte fürs Mobiltelefon erwerben, kein Bankkonto eröffnen und keinen Reisepass beantragen kann.  

Diskriminierungserfahrungen als Ansporn für kreatives Schaffen

Als Sanjeevani 2013 im Rahmen eines Aufbaustudiums in englischer Literatur von Janakpur nach Kath­mandu zog, wurde sie dort begafft und unfreundlich behandelt, wenn sie in ihrer Muttersprache Maithili sprach. Auch Payal, die in Kathmandu aufgewachsen ist, hat an ihrer eigenen Person und bei anderen die Diskriminierung und Ausgrenzung der Madhesi erlebt. Diese Erfahrungen, betonen beide, sind in ihr kreatives Schaffen eingeflossen, das solchen Frustrationen Ausdruck geben und zugleich eine Botschaft vermitteln will. 

Im Jahr 2020 malte Payal eine Frau, die mit einer schweren Last auf dem Rücken Hindernisse auf ihrem Weg zur Einbürgerung überwindet. Sie reagierte damit auf den diskriminierenden Gesetzentwurf zur Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts, der in jenem Jahr im Parlament diskutiert wurde und vorsah, dass Ausländerinnen, die mit nepalesischen Männern verheiratet sind, erst nach sieben Jahre einen Antrag auf Einbürgerung stellen können.  „Ohne Ausweis sind sie praktisch viele Jahre staatenlos. Mit diesem Gemälde wollte ich zeigen, dass Madhesi-Frauen mehr zu stemmen und mehr Hürden zu überwinden haben, um die Staatsbürgerschaft zu erhalten. Ihnen wird es besonders schwer gemacht.“

Pimala Neupane, Dozentin an der Tribhuvan-Universität in Kathmandu, die sich mit dem weiblichen Identitätswandel in der Mithila-Kunst beschäftigt hat, bestätigt, dass viele Künstlerinnen in ihren Arbeiten gesellschaftliche Veränderungen aufgreifen. Während in den vergangenen Jahrzehnten Frauen hauptsächlich im häuslichen Umfeld und mit dem traditionellen Kopftuch dargestellt wurden, fahren sie auf neueren Bildern auch Fahrrad, lassen Drachen steigen oder werden als Ärztinnen oder Pilotinnen gezeigt, also in Berufen, die früher eine reine Männerdomäne waren.

Anführerinnen, Entdeckerinnen und Geschichtenerzählerinnen

„Die Frauen, die in der Vergangenheit stets hinter den Männern zurückstanden und ihnen zu dienen hatten, werden nun auch zu Anführerinnen, Entdeckerinnen und Geschichtenerzählerinnen“, sagt sie. „Sie sind unabhängig und mutig, und dieses neue Bewusstsein spiegelt sich auch in der Mithila-Kunst wider.“ Eines von Payals Bildern zeigt eine Runde Frauen beim Konsum von Alkohol und bricht so mit der Tradition, Frauen hauptsächlich mit Hausarbeit in Verbindung zu bringen. Ein anderes Gemälde zeigt drei Frauen, die sich Pflaster mit den Aufschriften „Patriarchat“, „Nationalismus“ und „Würde“ vom Mund reißen, um sich frei ausdrücken zu können.

Im Februar 2021 verfasste Sapana Sanjeevani anlässlich eines Protestmarsches von Frauen in Kathmandu ein Gedicht in der Maithili-Sprache mit dem Titel „Hum aab Sita nai banbau“ („Ich will nicht mehr Sita sein“). Damit griff sie auf die Mythologie des Hinduismus zurück, um patriarchalische Unterdrückung und die Benachteiligung marginalisierter Gemeinschaften zu thematisieren. Das Gedicht sorgte für Empörung unter Konservativen, der Künstlerin wurde online sogar mit Mord und Vergewaltigung gedroht. Doch die Bekanntheit im Internet erschloss ihr auch ein breiteres Publikum, das den revolutionären Charakter ihrer Kunst schätzt.

Ein homosexuelles Paar, das sich küsst. Ein Bild von Sapana Sanjeevani.

Diese Revolution kam nicht über Nacht. Im Jahr 1990 zeigte eine Gruppe von Frauen ihre allererste Ausstellung in Kathmandu. Möglich wurde dies durch das Janakpur Women‘s Development Center, einer gemeinnützigen Organisation, die Frauen, die üblicherweise mit Stäben auf Wände malen, darin ausbildet, ihre Kunst auch auf Papier umzusetzen und sie zu verkaufen. In den letzten Jahrzehnten haben Künstlerinnen wie Ranju Yadav das Publikum in ihren Arbeiten mit den gesellschaftlichen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten der nepalesischen Gesellschaft vertraut gemacht. Eines der Gemälde von Yadav zeigt eine Frau im Kampf mit einem Stier, ein Symbol für den viele Jahrzehnte währenden Konflikt der Frauen mit dem Patriarchat.

Sanjeevani hat mit bunt gekleideten gleichgeschlechtlichen Paaren, die Küsse austauschen, die Mithila-Kunst sogar für queere Themen geöffnet. Eines ihrer Bilder zeigt eine nackte menstruierende Frau, die in der einen Hand Hygieneartikel und in der anderen ein Glas Wein hält. Solche Darstellungen seien wichtig, sagt die Künstlerin. Es gehe dabei darum, Position zu beziehen und Raum auch für Menschen zu schaffen, deren schiere Existenz bedroht sei.

Eine nackte menstruierende Frau. Ein Bild von Sapana Sanjeevani.

„Soweit ich weiß, kennt die Mithila-Kunst bislang weder queere Menschen noch Aktdarstellungen“, sagt Sanjeevani, die auch Kunstpädagogin ist. „Unsere neuen Perspektiven und neuen Formen des Geschichtenerzählens sind ein Versuch der Rebellion. Nach Kathmandu zu kommen, hier meine Karriere zu verfolgen und nicht einfach in einer Ehe aufzugehen – auch das ist bereits aufrührerisch. In den Städten hat das vielleicht nicht so viel Bedeutung, aber dort, wo ich herkomme, ist es eine große Sache, kommt es einer Rebellion gleich.“

„Auch dass wir uns für die Kunst entschieden haben, anstatt Ärztinnen oder Ingenieurinnen zu werden, ist rebellisch“, wirft Payal ein, die ihren Lebensunterhalt unter anderem durch Arbeit in einer gemeinnützigen Organisation bestreitet, die sich mit Fragen der Politik beschäftigt. „Wir wollen aufbegehren. Der Mainstream war nie etwas für uns.“

Nicht nur eine von Frauen ausgeübte Kunst

Für ältere Künstler wie S. C. Suman sind die Werke von Jüngeren wie Payal und Sanjeevani Teil der Entwicklung der Mithila-Kunst. Suman war eine große Ausnahme, als er 1991 seine erste Ausstellung organisierte – männliche Künstler sind eine Seltenheit in dieser vorwiegend von Frauen ausgeübten Kunst.

S. C. Suman ist einer der wenigen Männer, die dazu beitragen, der Mithila-Malerei in Nepal neue Wege zu öffnen.

Auch Suman hat viel dazu beigetragen, der Mithila-Kunst neue Wege zu eröffnen, indem er aktuelle gesellschaftliche und politische Fragen aufgriff. In seinen Bildern hat er die Ausgangssperren während der Corona-Epidemie ebenso thematisiert wie die Auswüchse der Urbanisierung und den Plan der nepalesischen Regierung, für den Bau eines neuen internationalen Flughafens südlich von Kathmandu Millionen Bäume zu fällen.

Seiner Ansicht nach sollten Künstlerinnen und Künstler keine Kritik scheuen und sich in ihren Ausdrucksmöglichkeiten nicht einschränken lassen, schließlich sei es ihre Aufgabe, die Gesellschaft, in der sie leben, mit ihren Mitteln darzustellen und Diskussionen anzustoßen.

Doch auch in der Vergangenheit beschäftigten sich die Künstlerinnen bereits mit vielen Themen und diskutierten sie frei in ihren Zirkeln, auch wenn dies damals noch keinen Eingang in ihre Bilder fand. Die Mithila-Kunst war für viele Frauen schon immer eine Quelle der Lebensfreude. Die gemeinschaftliche Aktivität brachte sie einander näher und ließ Freundschaften entstehen. Und in diesem Rahmen kamen auch Dinge wie Sexualität und gesellschaftliche Probleme zur Sprache.

„Sie malten und redeten, und das war für sie befreiend“, sagt Payal in Erinnerung an die Geschichten von ihrer Mutter und Großmutter. „Ich denke, die Mithila-Kunst war schon immer feministisch und ist es bis heute.“

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.
 

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