In welchen Ländern ist die Kunstfreiheit am stärksten bedroht?
Am stärksten in Afghanistan, und wir wissen alle, warum. Der einzige Unterschied zwischen der ersten Herrschaft der Taliban seit Ende der 1990er Jahre und der zweiten ab August 2021 ist, dass sie jetzt noch härter gegen Frauen vorgehen. Als sie das erste Mal die Macht übernommen hatten, gab es ein totales Verbot von Musik. Sie verboten den Musikunterricht, sie verfolgten und töteten Künstlerinnen und Künstler und ihr Umfeld, also die, die Musik produzieren, die Kunst ausstellen. In den Jahren danach hat sich die Musikszene in Afghanistan wieder etwas erholt. Doch seit der zweiten Machtübernahme ist die Situation wieder sehr schwierig, viele Künstler sind ins Ausland geflohen, weil sie im Land immer noch verfolgt und bedroht werden.
Wo sind Kunstschaffende noch betroffen?
Schlimm ist die Situation in Ländern, wo Kriege oder Konflikte herrschen. Zum Beispiel im Sudan. Zwar werden Künstler nicht stärker angegriffen als andere Personen, aber wie kann man im Krieg eine Musikszene am Laufen halten? Aber wir können nicht für jedes Land auswerten, wie gut oder schlecht dort die Situation für Künstler ist, weil wir zu wenig Informationen darüber bekommen. Generell kann man sagen, dass überall dort, wo es um die Demokratie sowie um Meinungs- und Pressefreiheit schlecht bestellt ist, Künstler Schwierigkeiten haben. Auch wenn es ein bisschen vom Genre abhängt, wie stark die Kunstfreiheit beschränkt wird. Schließlich kann man Bücher unter einem anderen Namen oder in anderen Sprachen schreiben. Machthaber haben immer schon Künstler ganz besonders beäugt, weil sie wissen, dass Kunst das Potenzial hat, Massen zu mobilisieren.
Welche Mittel wenden autoritäre Regime oder religiöse Gruppen an, um Kunstfreiheit einzuschränken?
Es gibt verschiedene Methoden. „Traditionelle” Zensur kommt seit jeher von staatlicher Seite: Es gibt bestimmte Gremien, bei denen Künstler ihre Filme, Bücher oder Musik einreichen müssen, und die dann über eine Veröffentlichung entscheiden. Besonders gut dokumentiert ist dieses Vorgehen während der Apartheid in Südafrika. In Ägypten gibt es den besonderen Fall, dass Zensur nicht über staatliche Behörden passiert, sondern über Künstlervereinigungen. Künstler entscheiden also, ob bestimmte Werke veröffentlicht werden und ob ein Künstler überhaupt eine Genehmigung bekommt, um als solcher zu arbeiten. Dieses System, das es auch woanders im Nahen Osten gibt, ist also etwas ausgefeilter. Bei Filmen muss man in Ägypten das Manuskript einreichen und jemand entscheidet, ob es geändert werden muss. Vorm eigentlichen Filmdreh entscheiden dann Behörden oder die Polizei, wo gefilmt werden darf. In manchen Ländern üben zudem die Zivilgesellschaft oder soziale oder religiöse Gruppen Zensur aus – zum Beispiel, wenn ein Mob Dreharbeiten stört, weil sich die Gruppe in ihrer Religiosität angegriffen fühlt.
Führt Druck von außen dann zu Selbstzensur bei den Künstlern und Institutionen?
Ja, genau. Oft stehen Kuratoren, die eigentlich gerne etwas ausstellen würden, das provokativ ist, Interessensgruppen aus der Zivilgesellschaft gegenüber, die sich zum Beispiel darüber beschweren, nicht involviert zu sein, oder die ihre Rechte verletzt sehen. Dann sind die Kuratoren in der Zwickmühle zwischen dem Publikum einerseits und andererseits Gebern, die vor möglichen Konflikten zurückschrecken und kein Geld mehr geben wollen.
Können Sie da Beispiele nennen?
Wir sehen das besonders seit Beginn des Israel-Hamas-Konfliktes. Seitdem wurden viele Ausstellungen und Konzerte abgesagt, jede kritische Publikation wurde schnell als Antisemitismus betrachtet. Manche dieser Situationen münden in Konflikte zwischen Staaten. Denken Sie nur an den Streit zwischen der Türkei und Deutschland wegen Jan Böhmermanns Schmähgedicht auf Präsident Erdoğan. Ein anderes Beispiel ist Marokko: Immer wenn ein Künstler Anliegen der Westsahara thematisiert, sendet die lokale marokkanische Botschaft „Bullies“ aus, um ihn einzuschüchtern. Oder sie sendet Briefe an die Organisationen, die hinter dem Künstler stehen, und droht mit Ärger. Immer wenn jemand ein schlechtes Bild von deinem Land zeichnet, schickst du deine Leute, um das zu unterbinden. Auch religiöse oder politische Gruppen tun das. Und dieser Druck von außen führt oft zur Selbstzensur. Die lässt sich leider sehr schlecht quantifizieren.
Sind selbst offene, liberale Gesellschaften nicht vor Selbstzensur gefeit?
Richtig. Wir haben die vielen Konflikte in Kunstinstituten gesehen, bei denen es um Themen ging wie Gender, LGBTQ, Dekolonisierung und so weiter. In manchen Institutionen – ich kenne Fälle von Universitäten oder Museen in den USA – herrscht eine richtige Angst davor, sich diesen Konflikten zu stellen. Aber man muss sagen, dass dafür weder die Künstler noch die Institutionen noch die Universitäten gut genug ausgestattet sind.
Machen es das Internet und soziale Medien leichter, Beschränkungen und Zensur zu umgehen?
Sicher, das Internet und Technologie haben etwas verändert. Das sieht man besonders bei Musik. Die lässt sich leicht über das Internet verbreiten. Im Iran gibt es zum Beispiel eine große Untergrundszene, die vor allem durch das Internet entstanden ist. Sogar Filme konnten aus dem Iran einfach auf einem Chip herausgeschmuggelt werden und haben dann internationale Preise gewonnen.
Aber es gibt Wege, den Zugang zum Internet zu kontrollieren ...
Ja, das sehen wir in China. Dort wird gerade über ein nationales digitales Identifikationssystem diskutiert, mit dem noch stärker als jetzt schon die Regierung verfolgen könnte, was man im Internet tut, etwa welche Webseite man sich anschaut, was man hört und so weiter. Das wäre wirklich ein System wie in dem Buch „1984“ von George Orwell. Es war schon immer ein Katz- und Mausspiel, wer welche Technologie nutzt beziehungsweise wie man sie austricksen kann. Und oft finden junge Leute Wege, Zensurmechanismen zu umgehen. Trotzdem bleibt das Grundproblem, dass es in manchen Ländern nicht möglich ist, einen Film im Kino zu sehen oder eine bestimmte Ausstellung zu besuchen.
Nehmen Religionsgruppen in manchen Ländern Einfluss auf die Kunstfreiheit?
Ja. Wir wissen, dass mit viel Geld aus reichen arabischen Ländern eine sehr konservative Auslegung dessen gefördert wird, was erlaubt ist und was nicht. Dasselbe tun Evangelikale – etwa in den USA, zum Beispiel mit Buchverboten, oder in Lateinamerika oder Afrika. Ein Aspekt, den wir in dem jüngsten Bericht nicht angesprochen haben, ist das sogenannte Artwashing. Damit ist gemeint, dass manche Länder eine Menge Geld in Kunst investieren und gleichzeitig Künstler zensieren. Saudi-Arabien zum Beispiel lädt Metallica zu einem Konzert ein und verbietet gleichzeitig lokale Rockbands. Marokko organisiert seit Jahren große Kunstfestivals, die ein bestimmtes Image des Landes transportieren sollen, und versucht damit zu überdecken, dass sie ihre eigenen Künstler unterdrücken.
Welche Künstler sind am stärksten von religiös motivierter Zensur bedroht?
Künstlerinnen sind besonders betroffen, aber auch Künstler aus der LGBTQ-Szene. Es gibt leider viele schlechte Entwicklungen selbst in Ländern, die eigentlich eine jahrzehntelange Queer-Tradition haben. In Pakistan zum Beispiel haben immer schon als Frauen verkleidete Männer auf Hochzeiten getanzt. In Indien waren solche Queer-Artists immer schon willkommen. Doch in beiden Ländern werden sie nun attackiert.
Hilft es Künstlern, wenn sie im Ausland berühmt sind, oder macht es ihre Lage schlimmer? Ich denke da etwa an iranische Filmproduzenten, die im Ausland Erfolge feiern.
Manchmal kann Zensur die Karriere fördern. In der Vergangenheit haben wir das mit den Sex Pistols gesehen. Ihre Single „God Save the Queen“ wurde von der BBC nicht gespielt, und dennoch oder gerade deswegen landete sie ganz oben in den Charts. Viele iranische Regisseure bekommen für ihre Filme mehr Aufmerksamkeit, gerade weil sie im Iran verboten sind. Das gilt auch für Rap-Musik: Die bekam ab Mitte der 1980er Jahre in den USA viel mehr Aufmerksamkeit, weil auf fast allen LPs der Aufkleber „Parental Advisory“ klebte. Und auch in Europa hatten die Platten solche Sticker, obwohl es dort nicht eine solche Regulierung gab. Das zeigt, wie die Musikindustrie arbeitet, denn solche Aufkleber haben die Platten erst interessant gemacht.
Wie umgehen Künstlerinnen und Künstler staatliche Beschränkungen?
Es gibt in der Geschichte viele Beispiele, wie mit Zensur umgangen wurde. Vor allem beim geschriebenen Wort. Noch heute müssen Bands in Indonesien oder auf den Philippinen die Songtexte einreichen, bevor sie eine Konzerterlaubnis bekommen. Da reichen Sie dann „gereinigte“ Texte ein. Beim Konzert singen sie dann manchmal doch, was sie wollen. Das haben auch die Rolling Stones in den 1960er Jahren gemacht. Es gibt auch geheime Galerien in China oder dem Iran. In Afghanistan treffen sich Frauen privat und singen, aber natürlich bleibt immer die Angst, dass der Nachbar dich an die Sittenpolizei verrät. Es wird immer Protestsongs geben, Protestkunst, Graffiti an den Wänden. Andererseits gibt es mehr Kameras im öffentlichen Raum, was es für die Künstler schwieriger macht.
Können UN-Organisationen wie die UNESCO oder EU-Initiativen zur Kunst die Kunstfreiheit schützen?
Leider nicht durch Rechtsprechung. Aber nach Kritik in den UN-Menschenrechtsgremien und durch die UNESCO haben einige Länder – darunter der Iran – Künstler freigelassen. Doch es ist ein großes Problem, dass Angriffe auf Künstler und deren Arbeit nicht genug dokumentiert werden. Meiner Meinung nach sollten all die internationalen und nationalen Menschenrechtsinstitutionen viel mehr auf die Kunstfreiheit schauen. Die Dokumentation der Fälle und Probleme hängt an nichtstaatlichen Organisationen wie Freemuse oder Pen International, die dafür nicht gut genug ausgestattet sind. Die Zivilgesellschaft ist gefragt, um die Situation zu verbessern. Dass das geht, sehen wir ja zum Glück immer wieder.
Das Gespräch führte Melanie Kräuter.
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