Jung, laut, rebellisch

Drei Mitglieder einer kenianischen Punkrockband bei einem Auftritt auf der Bühne im Halbporträt; im Mittelpunkt und Vordergrund ein junger Sänger in Lederjacke am Mikrofon.
Kate Stanworth
Crystal Axis, die bekannteste Punkband ­Kenias, tritt auf der Terrasse eines Einkaufszentrums in Nairobi auf. Mit ihren politischen Texten bringt sie den Zorn ihrer Generation zum Ausdruck.
Kenia
Eine lebendige Punkrock-Szene ist in Kenias Hauptstadt Nairobi entstanden. Dort und in der Trendsportart Skating können junge Leute, die Mehrheit im Land, sich ausprobieren und ihren Träumen, aber auch ihrer Wut Gehör verschaffen.

 An einem warmen Samstagnachmittag bereiten sich Musiker in einem Einkaufszentrum in Nairobi für ihren Auftritt vor einem mexikanischen Restaurant vor. Als Hauptattraktion ist Crystal Axis angekündigt, die bekannteste Punkband Kenias, außerdem die fünfköpfige Truppe Lone Tree und noch eine ganze Reihe weiterer Jungtalente. Sie hauen in die Saiten ihrer Gitarren und rocken, was das Zeug hält – eigene Songs, Coverversionen von Musikern wie Weezer und zeitlose Rockhymnen wie „Killing in the Name“ von Rage Against The Machine, einer Band, deren Leadgitarrist Tom Morello einen kenianischen Vater hat. Das Publikum geht voll mit; schließlich holt sogar der mexikanische Res­taurantbesitzer, ein Mann mittleren Alters, seine Gitarre hervor und rockt mit. Man trinkt Bier und isst Tacos, junge Frauen schütteln ihre Haare im Takt der wilden Gitarrenriffs. Vor dem Rad Board Kenya, einem benachbarten Skateboard-Laden, stehen Leute Schlange, um bunte T-Shirts mit Motiven berühmter Rockbands wie Green Day und Metallica zu kaufen.

Im ostafrikanischen Nairobi wächst eine vielfältige und lebendige Rockmusik-Szene heran. An der Spitze der Popularität steht die Band Crystal Axis mit Ahmed Bulhan als Sänger, Djae Aroni und Fox Elijah an den Gitarren, Doug Kihoro am Bass und Dan Gichia am Schlagzeug. Die Band ist hervorgegangen aus der alternativen Musikszene Nairobis der späten 2000er Jahren, als verschiedenste Gruppen sich an Indie-Rock, Punk und Heavy Metal versuchten. Djae, der Gründer der Band, sagt: „Punk ist für uns viel mehr als Musik oder ein Genre. Es ist unser Lebensstil.“ 

Die Band zu gründen gab ihnen die Möglichkeit, ihre jugendlichen Hoffnungen, ihre Träume und ihre Wut auszudrücken. Ihre politisch inspirierten Texte bringen den Zorn einer ganzen Generation zum Ausdruck. Das Durchschnittsalter in Kenia liegt unter zwanzig Jahren, 70 Prozent der 54 Millionen Einwohner sind unter dreißig. Mit der Power des Punkrock bietet Crystal Axis der Jugend Kenias eine Stimme.

„Jede Feuersbrunst beginnt mit einem einzigen Streichholz“

In ihrem Song „Take The Throne“ schildert sie, wie junge Leute mit der Staatsgewalt und der allgegenwärtigen Brutalität der Polizei konfrontiert sind. Die Band nimmt dabei kein Blatt vor den Mund: „Schickt eure Soldaten, schickt eure Schläger. Wir sind 50 Millionen, wir sind zehnmal so stark. Reißt alles nieder! Wir bauen es von Grund auf neu auf. Jede Feuersbrunst beginnt mit einem einzigen Streichholz.“

Der Song kam 2020 heraus. Vier Jahre danach wurde Kenia von den tiefgreifendsten Protesten gegen die Regierung seit seiner Unabhängigkeit erschüttert, die vor allem von der Jugend getragen wurden. Ein anderer Song bringt kraftvoll die Wut, Enttäuschung und die Finsternis, die auf Kenia lastet, zur Sprache und erklärt: „Wir machen nicht mit.“ Ihr Hit „Nyayo House“ befasst sich mit dem Regime von Daniel arap Moi, der als Präsident lange das Schicksal Kenias bestimmte. Das Nyayo House, ein großes Regierungsgebäude im Zentrum von Nairobi, ist berüchtigt für seine Folterkammern, in denen während Mois Regierungszeit von 1978 bis 2002 Oppositionelle verschwanden. 

Für Djae wirkt die düstere Geschichte des Nyayo House weiter fort. Auch bei den jüngsten Protesten habe die Polizei wieder willkürlich Protestierende verhaftet und verschwinden lassen. Mindestens 39 Menschen kamen zu Tode, viele werden immer noch vermisst. „Ich spiele Gitarre und schreie der Regierung ins Gesicht“, sagt Djae. Was Kenia in den letzten Monaten erlebt habe, sei beispiellos. „Die Menschen haben zusammengefunden. Klasse, Volksgruppe, ethnische Zugehörigkeit, das spielt alles keine Rolle mehr“, sagt er.

Anlaufpunkt für die Rock- und Musikszene des ganzen Landes

Die Rockmusikszene bietet der Jugend Kenias ein wichtiges Feld für Experimente, Austausch und Kontakte, erklärt Ross Patel, Mitbegründer von Snowball Industries, einem neugegründeten Tonstudio in einem der grünen Außenbezirke von Nairobi. Sein voriges Studio hatte er sieben Jahre zuvor noch in einem Keller eingerichtet. Patel hat miterlebt, wie die Rockszene seit den frühen 2000er Jahren aufgeblüht ist – von Bands wie Crystal Axis und der schon lange bestehenden Metalcore-Formation Last Year‘s Tragedy bis zu Nova, einer erst kürzlich gegründeten Frauen-Rockband.

Ross Patel (hier mit seiner Part­nerin) ist Mitbegründer von Snowball Industries: Das Tonstudio in den Außenbezirken von Nairobi ist ein sicherer Anlaufpunkt für Bands wie Crystal Axis.

Patel ist Anfang der 2000er Jahre in Nairobi aufgewachsen und war Sänger, Songschreiber und Gitarrist der 2004 gegründeten Band Navarone, deren Ursprünge im Punkrock liegen und die sich später dem Rock’n’Roll zuwandte. „Kein Veranstalter wollte uns ein zweites Mal auftreten lassen, die hatten einfach keine Ahnung, worauf sie sich mit einer kenianischen Punkband einließen“, erinnert er sich. „Alle waren total jung, rockten einfach ab, rissen sich die Hemden vom Leib, flippten aus und tranken zu viel.“ Schließlich löste sich die Band auf, ihre Mitglieder verstreuten sich in alle Winde und landeten teils in Neu-Delhi, Melbourne und London.

Er selbst ging für einige Jahre nach Los Angeles und London, beschloss dann aber, nach Nairobi zurückzukehren und die neue Generation kenianischer Musiker zu unterstützen. Crystal Axis und andere Bands nutzen sein Studio für Proben und Aufnahmen. Es ist zum beliebten sicheren Anlaufpunkt geworden, an dem die Rock- und Musikszene des ganzen Landes sich treffen und austauschen kann. 

Autor

Ismail Einashe

stammt aus Somalia und berichtet als freier Journalist unter anderem aus Kenia.

Doch bei allen Erfolgen und der wachsendenden Beliebtheit der Rockmusik haben es die Künstler nach wie vor schwer. In Kenia verdienen Musiker wenig – es gibt nicht viele Studios und auch das Radio oder Konzerte bringen ihnen wenig ein. Außerdem bevorzugt die Mehrheit in Kenia nicht Rockmusik, sondern etwa Afrobeats, traditionelle Musik oder Hip-Hop. „In Kenia kann man mit Musik kein Geld verdienen. Die Leute machen das, weil es ihnen Spaß macht“, erklärt Patel. Er hege große Bewunderung für Bands wie Crystal Axis, deren Mitglieder normalen Berufen nachgingen und als Anwälte oder für NGOs arbeiten. „Im Herzen und in ihren Gedanken sind sie zu 100 Prozent bei der Musik. Das ist ihr Leben“, erklärt er. 

Trotz dieser Schwierigkeiten haben Rockbands wie Crystal Axis Erfolg. Seit ihrem ersten Mini-Album (EP) „Leopold“, das 2017 auf den Markt kam, hat die Band vier weitere veröffentlicht, die ihr über Kenia hinaus eine treue Anhängerschaft gesichert haben. Ihr frecher, mitreißender Punkrock-Sound kommt im In- und Ausland an, und ihre starken Texte, überwiegend in Englisch mit gelegentlichen Phrasen in Suaheli, finden Anklang. So ist ein unverwechselbarer, spezifisch kenianischer Rocksound entstanden. Djae sagt, ihr Ziel sei, einen sicheren Raum für die kenianische Rockjungend zu schaffen, damit die ihren eigenen musikalischen Weg finden kann.

Zur Alternativkultur gehören auch die Skateboarder

Crystal Axis hält auch große Stücke auf Newcomer wie die Frauen-Rockband Nova. Erst kürzlich habe man mit ihr die Bühne geteilt, berichtet Dae. Seine Band versteht sich als Teil der breiteren Alternativkultur von Nairobi, zu der nicht nur Rockmusiker gehören, sondern auch die Skateboarder und die Modeszene, nicht zu vergessen die alternativen Magazine, die Zines.

„Skateboarden ist Freiheit“, sagt Skitty, ein junger Skater aus dem Slum Kangemi. Auch das Skateboard gehört zur ­Subkultur in Kenia.

Die Alternativszene Nairobis wächst rasch, und das Skateboard gehört unverzichtbar zu dieser Subkultur. Skitty, ein junger Skater aus dem Slum Kangemi, übt in einem Skatepark, den die deutsche nichtstaatliche Organisation skate-aid gebaut hat. „Skateboarden bedeutet mir sehr viel, das ist meine Leidenschaft“, sagt Skitty, „Skateboarden ist Freiheit“. Mit ihm zusammen trainiert hier Magby, ein stadtbekannter junger Skater. „Kenias Skating-Szene ist ziemlich cool. Vor allem, weil wir kaum Sponsoren haben. Wir stellen praktisch alles selbst auf die Beine“, sagt Magby stolz, „daraus entsteht eine tolle Gemeinschaft. Es ist einfach authentischer, weil wir alles selbstbestimmt machen.“

Tonyii gehört zu den jungen Kenianerinnen, die mit diesem Trendsport traditionelle Rollenbilder aufbrechen. Sie ist Mitglied von GirlSkate Nairobi. „Ich wurde beim Skaten immer angestarrt, weil ich ein Mädchen bin“, sagt sie. Aber sie hat sich davon nicht beirren lassen. Beim Skateboarden habe sie ihren „Stamm“ gefunden, sagt sie, das Skaten ist für sie „spirituell“, es fördert „Geist und Körper“ gleichermaßen und hilft ihr, die Kraft zu finden, sich als junge Frau in Kenia zu behaupten.

Tonyii ist Mitglied von ­GirlSkate Nairobi. Sie gehört zu den jungen Kenianerinnen, die mit dem Skaten traditionelle Rollenbilder aufbrechen.

Talal Cockar war früher ebenfalls Rockmusiker und ist jetzt Inhaber von Rad Board Kenya, einem der vielen von Skatern geführten Skateshops in Nairobi. Er schwärmt für die quirlige Atmosphäre von Nairobi, von der Rockszene bis zu den Skateboardern. Auch ihm liegt daran, jungen Menschen Räume zu bieten, um Subkulturen zu erkunden. Dafür organisiert er Veranstaltungen wie „Amps and Ramps“, die Musik und Skateboarding kombinieren. Talals Engagement entspringt dem Wunsch, eine Gemeinschaft zu schaffen und den Jugendlichen durch Musik und Skateboarding positive Erfahrungen zu ermöglichen. 

Die Dominanz des Privatbesitzes im öffentlichen Raum brechen

Er betont, zum alternativen Lebensstil in Nairobi gehöre auch, die Dominanz des Privatbesitzes im öffentlichen Raum zu brechen. Die dicht bebaute Stadt ist voller riesiger Einkaufszentren, Immobilienprojekte und privater Flächen; öffentliche Parks oder Skategelände gibt es kaum. Das macht es jungen Menschen schwer. Seit Talals Jugendzeit zu Beginn der 2000er Jahren hat sich die Situation noch verschlechtert, sagt er. „Für einen ehrlichen Diskurs braucht man einen öffentlichen Raum. Ein Einkaufszentrum ist aber kein öffentlicher Raum, da ist man vielleicht mitten unter Menschen, aber alles gehört jemandem“, sagt er.

Djae von Crystal Axis ist überzeugt, dass die Alternativszene in Kenia eine wichtige Rolle für die Entwicklung eines staatsbürgerlichen Bewusstseins unter der Jugend spielt. Und Rockmusik könne auf einzigartige Weise die spontane Energie, die ungezügelte Leidenschaft und die Hoffnungen dieser jungen Menschen zum Ausdruck bringen. Im Juli, während der jüngsten Proteste, nahm Skitty sein Skateboard mit zu den Demonstrationen. Zusammen mit anderen Skatern stellte er sich den Polizeiabsperrungen und dem Tränengas entgegen. „Ich war vielleicht zehn Meter von der Frontlinie entfernt. Aber als dann Schüsse fielen, rannte ich zurück, ich fürchtete um mein Leben.“

Trotz der Gefahren, denen junge Kenianer ausgesetzt sind, sieht Djae in den Protesten der Jugend gegen die Polizeibrutalität in diesem Land, das „von alten Männern regiert wird“, wie er sagt, ein starkes Zeichen des Wandels. „Es ist toll zu erleben, wie die Leute zusammenkommen und zu einer Gemeinschaft werden“, sagt er.

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann. 

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erschienen in Ausgabe 5 / 2024: Vorsicht Subkultur!
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