Jack Ma, der Gründer des chinesischen E-Commerce-Giganten Alibaba, sprach sich im April 2019 für das Arbeitszeitmodell „996“ aus: von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, an 6 Tagen pro Woche. Er trat damit im In- und Ausland eine Welle der Empörung los, die weiter anstieg, als in der Folgezeit einige junge Beschäftigte in der Tech-Branche an einem Herzinfarkt starben. Der auch in Festlandchina produzierende taiwanische Elektronikhersteller Foxconn musste sich bereits 2010 mit Kritik an seiner Überarbeitungskultur auseinandersetzen, nachdem sich mehrere Beschäftigte in seinen chinesischen Werken das Leben genommen hatten. Das Unternehmen, das Kunden wie Apple, Microsoft und Samsung beliefert, wurde für seine kräftezehrenden Arbeitspraktiken und die unzureichende Unterstützung der Beschäftigten kritisiert.
Das chinesische Unternehmen Huawei wiederum wirbt mit seiner „Wolfskultur“, die von den Mitarbeitern Überstunden und ein hohes Maß an Engagement für das Unternehmen verlangt und dies auch kontrolliert – was laut Medienberichten nicht selten zum Burn-out der Mitarbeiter führt. Ebenso wie die Arbeitskultur beim E-Commerce-Unternehmen Pinduoduo, das seine Beschäftigten Berichten zufolge zu langen Arbeitszeiten zwingt und damit oft ernsthafte gesundheitliche Probleme und Erschöpfung verursacht.
In China ist eine hohe Produktivität nicht nur für den Arbeitsprozess bedeutend, sondern auch als Ausdruck persönlicher und kultureller Werte. Die anspruchsvolle Arbeitskultur des Landes liegt zum einen in konfuzianischen Werten begründet, die harte Arbeit per se schätzen, zum anderen aber auch in einem stark wettbewerbsorientierten wirtschaftlichen Umfeld.
Im Jahr 2024 allerdings stellt die Jugend die uralten Vorstellungen vom Wert der Plackerei infrage. Viele junge Chinesinnen und Chinesen lehnen den extremen Druck an ihrem Arbeitsplatz ebenso ab wie toxische Chefs und oder gesellschaftliche Erwartungen. Ein Trend, der seit einigen Jahren weltweit für Aufsehen sorgt, ist, dass immer mehr junge Chinesinnen und Chinesen gegen die Kultur der Überarbeitung protestieren und aus dem täglichen Hamsterrad aussteigen. Populär wurde dieser Trend 2021, mitten in der Covid-19-Pandemie und im Angesicht wirtschaftlichen Abschwungs, unter dem Namen „Tang Ping“ – was grob übersetzt „flach liegen“ bedeutet.
Unambitionierter Lebensstil als sozialer Protest
Fachleute beschreiben „Tang Ping“ als eine Form des sozialen Protests, bei dem junge Menschen bewusst einen nicht ambitionierten Lebensstil wählen. Sie vermeiden Heirat, Kinder und vor allem die unerbittliche Arbeitskultur und arbeiten stattdessen, ohne sich zu überanstrengen, gerade so viel, wie sie zum Leben brauchen: ein stiller Ausstieg aus dem klassischen Berufsleben.
Aus Frustration über schlechte Jobaussichten und steigende Lebenshaltungskosten, die eine eigene Wohnung immer weniger erreichbar machen, entscheiden sich viele gegen diesen anspruchsvollen Lebensstil und für eine entspanntere Lebensweise. Der aus einem viral gegangenen Social-Media-Post stammende Begriff „Tang Ping“ wird zwar von der Regierung wegen seiner befürchteten Auswirkungen auf die Wirtschaft kritisiert, steht aber inzwischen allgemein für die Desillusionierung der Jugend.
Es war der Social-Media-Nutzer Luo Huazhong, der die Bewegung ins Leben rief, indem er auf der Plattform Baidu erklärte: „Flach liegen ist gerecht“ und seine Zufriedenheit mit einem Leben mit minimalen Mitteln beschrieb. Ein nicht identifizierter chinesischer Jugendlicher begründet 2022 gegenüber der BBC seine Entscheidung, seinen Job und sein Leben in Peking aufzugeben und nach Vietnam zu ziehen, als einen stillen Protest gegen das System. Er akzeptiere es nicht, wenn man ihm sage, dass er immer mehr lernen und härter arbeiten müsse: „Jetzt habe ich Zeit, das zu tun, was ich liebe, ich bin sehr zufrieden.“
Breite Unterstützung für die „Tang Ping“-Haltung
Dadurch, dass er einen stressigen Job in Peking für ein einfacheres Leben verließ, verkörpert er für viele das Ethos der Bewegung. Eine Umfrage der chinesischen Social-Media-Plattform Weibo, die zwischen dem 28. Mai und dem 3. Juni 2021 unter 241.000 Teilnehmern durchgeführt wurde, ergab, dass 61 Prozent der Befragten die „Tang Ping“-Haltung in China unterstützen. Viele Menschen beschrieben den „Tang Ping“-Lebensstil als eine Bewegung der Weisen – und fanden ihn körperlich gesund und geistig befreiend.
Autorin
Maroosha Muzaffar
ist Journalistin in Neu-Delhi und schreibt für „The Independent“ und andere Zeitungen wie „The New York Times“, „The New Republic“ und „The Atlantic“ über Indien und Südostasien.Fachleute vermuten, dass der Trend durch wirtschaftliche Ungleichheit und den Druck der chinesischen „Tiger“-Erziehungskultur befeuert wird. Chinesische Eltern übten einen starken Druck auf ihre Kinder aus, damit diese in der Schule und auch bei außerschulischen Aktivitäten erfolgreich sind. Die rigorose Vorbereitung auf die Gaokao-Prüfung, Chinas nationale Hochschulaufnahmeprüfung, ist ein Paradebeispiel: Dafür lernen die Schülerinnen und Schüler jahrelang unermüdlich und nehmen – wenn ihre Eltern es sich irgendwie leisten können – unendlich viele Nachhilfestunden, um nach einer gut bestandenen Prüfung zu den besten Universitäten zugelassen zu werden. Nachhilfeunterricht wird vor allem in Fächern wie Mathematik und Naturwissenschaften gegeben, aber viele Eltern drängen ihre Kinder darüber hinaus, Instrumente wie Klavier oder Geige zu lernen, um ihre Bewerbungen für das College zu verbessern. Dass viele Eltern dafür erhebliche finanzielle Opfer bringen, steigert den Wettbewerb weiter und führt oft dazu, dass sich Kinder aufgrund der immensen Erwartungen, die an sie gestellt werden, gestresst und ausgebrannt fühlen.
Der Soziologieprofessor Sun Liping von der Tsinghua-Universität betont dabei, dass die „Tang Ping“-Haltung vor allem für Menschen aus der Mittelschicht der Gesellschaft eine Rolle spielt und nicht für die untersten Schichten: „Um flach liegen zu können, muss man etwas zum Leben haben. Oder nennt man ‚flach liegen‘ flach liegen, wenn man tot ist?“
„Tang Ping“ als Hindernis für schnelles Wirtschaftswachstum
Die Behörden in China sind so oder so besorgt, dass der Trend den Traum des Landes von einem schnellen Wirtschaftswachstum beeinträchtigen könnte. Die staatseigene Zeitung Global Times warnte in einem Leitartikel: „China befindet sich in einer der wichtigsten Etappen auf seinem langen Weg zur nationalen Verjüngung. Die jungen Menschen sind die Hoffnung dieses Landes, und weder ihre persönliche Situation noch die Lage des Landes erlaubt es ihnen, ‚kollektiv flach zu liegen‘.“
„In den letzten Jahren sind die Immobilienpreise in die Höhe geschnellt, und die Kluft zwischen den sozialen Schichten ist immer größer geworden“, sagt Elaine Tang. Die 35-Jährige arbeitet bei einer Technologiefirma in Guangzhou. „Tang Ping“ treffe den Nerv vieler junger Chinesinnen und Chinesen, weil sie das derzeitige System als unüberwindbare Herausforderung empfinden. „Die Reichen und die Behörden beanspruchen die meisten Ressourcen für sich, und immer mehr Menschen aus der Arbeiterklasse wie wir müssen von 9 bis 21 Uhr arbeiten, sechs Tage die Woche, und können sich trotzdem keine Anzahlung für eine Wohnung leisten oder gar die Kosten für ein Kind aufbringen.“
Subtile Form des Widerstands
Die Motive der „Flachlieger“ lägen aber längst nicht immer im wirtschaftlichen Bereich. „Es gibt Menschen, deren materielle Bedürfnisse befriedigt sind, denen es aber an spirituellen Zielen mangelt und die aus Langeweile oder Faulheit eine Wohnung suchen. Und es gibt diejenigen, die einfach nur erschöpft sind und sich flach hinlegen, in der Hoffnung, etwas Ruhe zu finden“, kommentierte ein Nutzer im Online-Chat. „Auch gibt es einige, die lieber den Wettbewerb meiden und sich flach hinlegen, um ein friedliches Leben zu führen. Schließlich sind auch einige faul und legen sich flach hin, weil sie nicht hart arbeiten wollen.“
„Tang Ping“ ist auf alle Fälle zu einem starken Symbol für desillusionierte junge Menschen in China geworden, die an einem gesellschaftlichen System verzweifeln, das sie als zunehmend starr und wettbewerbsorientiert empfinden. In einer Gesellschaft, in der konventionelle Wege zum Erfolg kaum noch erreichbar scheinen, symbolisiert „Tang Ping“ eine subtile Form des Widerstands. Es bietet dem Einzelnen eine Möglichkeit, persönliche Autonomie und Freiheit zu erlangen, betont die Soziologieprofessorin Guo Yuhua in einem Essay: „Einfache Kritik hilft nicht weiter.“ Die entscheidende Frage sei, wie man ein soziales Umfeld schaffen könne, das zu Anstrengungen motiviere. „Andererseits: Warum sollte man sich angesichts des Aufstiegs Chinas zur Großmacht Sorgen um ein paar Leute machen, die am Boden liegen?“
Aus dem Englischen von Barbara Erbe.
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