Glitzernde Handyhüllen, Laptoptaschen und Etuis für Sonnenbrillen, gefertigt aus silberner Plastikfolie mit blauer Schrift. Rund 50 Frauen sind über ratternde Nähmaschinen mit altertümlichem Fußantrieb gebeugt. Die leeren glattgepressten Verpackungen von Fertignahrung gleiten geschickt durch ihre Hände. Nähte werden gesteppt, Reißverschlüsse eingearbeitet. Aus Tonnen von Verpackungsmüll entsteht so etwas Neues. Doch die coolen Accessoires werden nicht etwa in angesagten Läden europäischer Hauptstädte verkauft, sondern im größten Flüchtlingslager der Welt im Süden von Bangladesch. Hierher sind vor mehr als sechs Jahren fast eine Million Menschen der muslimischen Rohingya vor der Gewalt in ihrer Heimat Myanmar geflohen.
Stolz zeigt die Näherin Hodija in der Ecke der flachen Holzhalle auf die neuen Produkte. „Ich habe am Design mitgearbeitet“, sagt die 32-Jährige. Inspirieren lasse sie sich auf Instagram, sagt sie und lacht.
Es ist für die Frauen ein unbeschwerter Ort in einer bedrückenden Umgebung. Im Flüchtlingslager Kutupalong ist es etwas ganz Besonderes, dass Frauen selbstständig sind und so zum Lebensunterhalt ihrer Familien beitragen. Die Näherinnen verdienen nur wenig, da sie offiziell als „Volunteers“ – Freiwillige – geführt werden: Die Regierung von Bangladesch verbietet den geflüchteten Rohingya zu arbeiten. Außerhalb des Camps dürfen sie ihre Upcycling-Produkte nicht verkaufen.
2017 eskalierte die Gewalt im Nachbarland Myanmar. Rohingya-Rebellen der islamistischen Arakan-Armee griffen Kasernen und Stützpunkte der Polizei an; Arakan ist der alte Name der Provinz Rakhine, der Heimat der Rohingya. Das Militär antwortete mit brutaler Gewalt, ermordete Tausende Menschen, brandschatzte und vergewaltigte Frauen. Die Vereinten Nationen sprechen von Völkermord.
Ein riesiges, stacheldrahtumzäuntes Gefängnis
Auf ihrer Flucht zu Fuß mussten die Rohingya alles zurücklassen. Zuflucht fanden sie in den Hügeln nahe der Stadt Cox’s Bazar an Bangladeschs Südküste, keine 50 Kilometer entfernt von der Grenze zu Myanmar. Aus der Notlösung ist inzwischen ein riesiges, mit Stacheldraht umzäuntes Flüchtlingslager geworden. Die Rohingya dürfen das Lager nur mit einer Sondergenehmigung verlassen, zum Beispiel in medizinischen Notfällen.
Hütten aus zerfledderten Plastikplanen und Bambus reihen sich aneinander, dazwischen schlängeln sich enge staubige Wege. Frauen eilen tief verschleiert mit meist barfüßigen Kindern an der Hand durch die Lehmgassen, den Blick gesenkt. Die muslimische Gemeinschaft der Rohingya ist streng konservativ.
Während der Regenzeit versinkt das Camp im Schlamm. Im Sommer brennt die Hitze und hüllt das Lager in eine Staubwolke. Die Regierung von Bangladesch erlaubt keine festen Gebäude und gepflasterten Wege. Alles soll provisorisch bleiben und nicht den Eindruck erwecken, dass Menschen sich hier dauerhaft niederlassen, so ihre Argumentation.
Posttraumatische Störungen, Angstzustände, Depressionen
Das Militärregime im mehrheitlich buddhistischen Myanmar aber betrachtet die muslimischen Rohingya als illegale Einwanderer und verbietet den Flüchtlingen eine Rückkehr. Nach einem 1982 in Myanmar erlassenem Gesetz sind sie staatenlos, ihr Besitz wurde beschlagnahmt oder zerstört. Das mehrheitlich muslimische Bangladesch wiederum will die Flüchtlinge wieder loswerden und verweigert ihnen eine Integration.
„Wenn wir mit den Menschen sprechen, spüren wir ihre völlige Verzweiflung“, sagt die Ärztin Jennifer Stella, die in dem Lager für die Organisation Ärzte ohne Grenzen arbeitet. Sie dürften nicht arbeiten, sich nicht frei bewegen, die Kinder bekämen keine angemessene Bildung. „Posttraumatische Störungen, Angstzustände und Depressionen haben dramatisch zugenommen“, sagt Stella. „Medizinisch können wir nur sehr wenig tun.“ Im Camp gab es vor zwei Jahren den weltweit größten Ausbruch von der Hautkrankheit Krätze, hervorgerufen durch die schlechten hygienischen Bedingungen. Fast die Hälfte der Menschen waren erkrankt, in einigen Teilen des Lagers bis zu 90 Prozent.
Autorin
Susann Kreutzmann
arbeitet als Journalistin und lebt in Berlin. Die Recherche für diesen Artikel wurde von der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen und dem UN-Welternährungsprogramm unterstützt.Früher sei er Fischer gewesen, mit seiner Familie habe er nicht weit vom Strand gewohnt, erzählt Suna Ali, der einen einfachen Kaftan trägt. Er spricht von seiner Heimat, der Provinz Rakhine in Myanmar an der Grenze zu Bangladesch. Hier haben die Rohingya seit Jahrhunderten gelebt. „Eines Tages kann ich zurück. Ich weiß, es wird bald sein“, sagt er leise. Diese Hoffnung lässt die Menschen ihr Leid ertragen – auch wenn derzeit eine Rückkehr unrealistisch ist. Denn die Kämpfe zwischen der Arakan-Armee und dem Militär in Myanmar haben wieder zugenommen.
Der 60-Jährige Suna Ali steht in einer Ausgabestelle für Lebensmittel. Über einen aus Plastikboxen aufgebauten Tresen reichen Mitarbeiter Zucker, Zwiebeln, Linsen, Knoblauch und Chilischoten. Suna Ali übergibt seinen E-Voucher, eine Plastikkarte mit Foto, auf der die Lebensmittelrationen gespeichert sind, die seiner Familie zustehen. Zurück bekommt er einen Bon mit der Liste seines Einkaufs. Die Ration muss für zwei Wochen reichen. „Es ist nicht genug. Wir müssen uns oft Reis von den Nachbarn leihen“, sagt Suna Ali, der drei Kinder im Teenager-Alter hat. Stolz berichtet er, dass sie bald die Schule abschließen werden. Welche Zukunft auf sie wartet, weiß er nicht.
„Es ist wichtig, dass die Hilfe würdevoll ist“
Die Rohingya sind vollständig abhängig von Hilfslieferungen. Trotzdem soll hier alles wie ein normaler Supermarkt anmuten und nicht wie die Ausgabestelle des UN-Welternährungsprogramms (WFP), das die Flüchtlinge mit dem Nötigsten versorgt. „Es ist wichtig, dass die Hilfe würdevoll ist“, sagt WFP-Sprecher Martin Rentsch. Alle UN-Organisationen seien davon abgerückt, Sachspenden auszugeben, sondern setzten jetzt auf Bargeldhilfe oder E-Voucher. „Die Menschen können so selbst entscheiden, was sie kaufen, und haben eine gewisse Autonomie.“
Lebensmittel für zehn US-Dollar stehen jedem Flüchtling pro Monat zur Verfügung. Das sind bei drei Mahlzeiten am Tag rund elf Cent pro Mahlzeit. Kleinkinder, Schwangere und stillende Frauen bekommen drei US-Dollar extra für frische Waren wie Obst, Gemüse und Hühnerfleisch. Das reicht zum Überleben – zu mehr aber auch nicht. Viele Kinder sind unterernährt, mehr als 40 Prozent von ihnen zu klein für ihr Alter. Weil die Geber zu wenig beitragen, fehlen laut WFP in diesem Jahr rund 34 Millionen US-Dollar, um die Rohingya ausreichend zu versorgen. WFP-Landesdirektor Domenico Scalpelli warnt, dass mit der Armut auch Kinderarbeit und die Verheiratung von Minderjährigen zunehmen würden. „Viele haben aufgegeben. Nur für ihre Kinder wollen sie weiterleben“, sagt er.
„Lernzentrum“ mit zwei Klassenräumen
An den zentralen Wegen in dem unübersichtlichen Flüchtlingslager liegen Plastikplanen auf dem Boden. Flüchtlinge verkaufen hier gebrauchte Kleidung oder selbst angebautes Gemüse. Die bangladeschischen Sicherheitskräfte dulden den Markt – oft gegen Schmiergeldzahlungen.
Wie ein Spinnennetz zweigen von der Hauptstraße immer neue enge Wege ab. Sie führen entlang an Hütten, fauligen Abfallbergen und von den Hilfsorganisationen aufgestellten Toilettenhäusern, vor denen sich Schlangen bilden. Die wenigen Pflanzen, die es gibt, sind von einer Staubschicht bedeckt.
Provisorische Hütten stehen in dem völlig überfüllten Camp dicht an dicht. Der schmale Weg führt zu einer von Unicef betriebenen Schule mit zwei Klassenräumen. Die Hilfsorganisationen sprechen von Lernzentren, denn offiziell dürfen die Flüchtlingskinder nicht zur Schule gehen. Es sei nicht ihr Mandat, Menschen aus anderen Ländern zu unterrichten, heißt es dazu von der Regierung in Dhaka. Es war ein langer Kampf, bis die Kinder zumindest in der Grundschule unterrichtet werden durften. Der Unterricht erfolgt nach dem Lehrplan aus Myanmar in der Sprache der Rohingya.
30 Kinder sitzen konzentriert auf bunten Decken, vor jedem ein kleiner Plastikhocker mit einem Buch. Lehrer Sayed Amin erzählt, wie gern die Kinder zum Unterricht kämen und wie begierig sie lernten. Es sei eine Abwechslung in dem trostlosen Alltag. „Hier können sie für einen Moment unbeschwert sein“, sagt der 31-jährige Lehrer, während er das Schulessen verteilt – Energieriegel gegen den Hunger. Die Verpackung ist bereits geöffnet, die Kinder sollen die Riegel gleich essen und nicht mit nach Hause nehmen. Es komme vor, dass die Riegel weiterverkauft werden, erklärt der Lehrer. Das soll so verhindert werden.
Etwa die Hälfte der Kinder von sieben bis elf Jahren sind Mädchen, auch darauf ist Sayed Amin stolz. Wenn sie in die Pubertät kommen, erlauben viele Eltern ihren Töchtern nicht mehr den Schulbesuch. Sie dürfen nicht mehr allein die Hütte verlassen oder zusammen mit Jungs in einer Klasse sein. Sayed Amin erzählt, wie die Lehrer in mühsamen Gesprächen versuchten, die Eltern zu überzeugen – immer wieder. Sie organisieren Freiwillige, die die Mädchen auf dem Weg zur Schule begleiten und wieder zurückbringen. Sie gehen in Moscheen und bitten den Imam, seinen Einfluss geltend zu machen. „Ganz langsam ändert sich die Mentalität“, sagt der Lehrer. Viele Familien verstünden, wie wichtig Bildung sei. Eine Zukunft kann aber auch Sayed Amin seinen Schülern nicht bieten. Die Kinder kennen nichts anderes als das Leben in Armut und Elend.
Das Camp ist in den vergangenen Jahren ein noch unsicherer Ort geworden, besonders nach Anbruch der Dunkelheit, wenn alle Mitarbeiter von Hilfsorganisationen das Lager verlassen müssen. Die Arakan-Armee und kriminelle Gruppen kämpfen um die Vorherrschaft in dem Flüchtlingslager. Sie tyrannisieren die Menschen, sind verantwortlich für Kidnapping, sexuelle Gewalt und Zwangsprostitution. Fast jede Nacht fallen Schüsse, berichten Bewohner.
Gangs benutzen junge Rohingya als Drogenkuriere
Die Arakan-Armee kontrolliert auch den Handel mit der synthetischen Droge Yaba, die in Myanmar hergestellt und über die Grenze gebracht wird. Die aufputschende Droge wird in ganz Bangladesch konsumiert. Junge Rohingya werden in dem Camp gezwungen, für die Gangs als Drogenkuriere zu arbeiten. Die finanzielle Not und das Fehlen einer Perspektive treiben sie in die Arme der Banden.
Welche Perspektive gibt es für die verzweifelten Menschen? Fast alle Rohingya wollen zurück in ihre Heimat. Dafür aber braucht es Schutzgarantien, die die Militärjunta in Myanmar verweigert. Mehrere Vermittlungsversuche von China haben bislang zu keiner Lösung geführt. Der Staatsminister für Rundfunk und Information in Bangladesch, Mohammad Arafat, betont, es handele sich um ein globales Problem, nicht eines zwischen Bangladesch und Myanmar. „Die internationale Gemeinschaft muss mehr Verantwortung übernehmen“, verlangt Arafat. Länder mit geringer Bevölkerungsdichte und viel Land wie Kanada oder Australien sollten einen Teil der Flüchtlinge aufnehmen.
Das heißt aber auch, eine Lösung des Elends der Rohingya liegt in weiter Ferne. Sie sitzen weiter zwischen allen politischen Fronten und bleiben Gefangene in einem Land, das sie nicht will.
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