Dieser Beitrag ist Teil unserer Serie "Vergessene Krisen im globalen Süden", in der wir in loser Folge die Konflikte in Ländern darstellen, die im Schatten des Krieges in der Ukraine in der medialen Brichterstattung untergehen.
Der Bürgerkrieg in Myanmar hat sich ausgeweitet und ist härter geworden, seit General Min Aung Hlaing im Februar 2021 einen Staatsstreich verübt hat. Die Bevölkerung reagierte damals auf die Machtübernahme des Militärs sofort mit einer friedlichen Bewegung des zivilen Ungehorsams. Das Militär antwortete mit Gewalt und tötete Hunderte Demonstranten. Das wiederum führte zu einem beispiellosen Aufstand im ganzen Land. Tausende Menschen schlossen sich als Freiwillige den Volksbefreiungskräften an, um einen bewaffneten Kampf gegen Min Aung Hlaings Militärjunta zu führen.
Bewaffnete Rebellion ist in Myanmar nichts Neues. Seit Gründung der Union von Burma 1948 haben viele der ethnischen Minderheiten Myanmars bewaffnete Organisationen geschaffen, um sich gegen das myanmarische Militär zu verteidigen. Manche dieser ethnischen Trupps unterstützen jetzt die neu gegründeten Volksverteidigungskräfte mit militärischem Training und mit Waffen. Im Ergebnis befindet sich Myanmar nun in einem heftigen Bürgerkrieg, der das ganze Land erfasst hat.
Um das zu verstehen, muss man in den Blick nehmen, wie die ethnischen Spannungen in dem südostasiatischen Land entstanden sind. Im 19. Jahrhundert bestand die Region, die heute als Myanmar bekannt ist, aus einer Vielzahl autonomer Gemeinschaften einzelner Volksgruppen. Sie waren unterschiedlich stark politisch organisiert; bei manchen handelte es sich um ethnisch recht homogene Dorfgemeinschaften, andere besaßen stärker formale Regierungssysteme mit gewählten oder über Erbfolge bestimmten Führern. Im Tal des Irrawaddy-Flusses war die größte ethnische Gemeinschaft des Landes zu Hause, die der Birmanen. Diese Zentralregion war umgeben von Gebieten anderer Ethnien, darunter (von West nach Ost) der Rohingya, Rakhine, Chin, Kachin, Shan, Karenni, Karen und Mon (siehe Karte unten). Viele lebten nahe beieinander und unterhielten oft enge und freundschaftliche Beziehungen.
Diese autonomen Gemeinschaften wurden überwölbt von Königreichen, insbesondere der Birmanen, die seit dem 9. Jahrhundert versuchten, ihre Herrschaftsbereiche gewaltsam auszuweiten. Diese vorkoloniale Geschichte hinterließ zwei bedeutende Vermächtnisse. Erstens identifizieren sich die Menschen in Myanmar sehr stark mit ihrer jeweiligen Ethnie, ein gemeinsames Nationalgefühl ist nur sehr schwach ausgeprägt. Zum anderen betrachten die meisten anderen Ethnien die Birmanen als Außenseiter, die nach Herrschaft über andere Volksgruppen streben; und viele Birmanen betrachten sich selbst als die natürlichen Herrscher des Landes.
Der britische Imperialismus veränderte die politischen Dynamiken der Region nachhaltig. Bis 1885 sicherte sich die britische Armee die Kontrolle über das Territorium von Burma, anfangs als Teil von Britisch-Indien. Die Kolonialverwaltung nahm das Kernland der Birmanen unter direkte Kontrolle, delegierte aber in den nicht birmanischen „Grenzregionen“ einen Teil der Macht an bestehende örtliche Gremien. So entstand zwar die Idee eines vereinten Burma, aber es bildete sich nicht eine burmesische Nationalität. Die Zusammenarbeit verschiedener ethnischer Gemeinschaften war meist beschränkt auf das Ziel, der Kolonialherrschaft ein Ende zu setzen.
Der Bürgerkrieg beginnt
Autor
Michael F. Martin
ist beigeordneter Experte für Südostasien am Center for Strategic and International Studies in den USA. Bis 2021 hat er für den wissenschaftlichen Dienst des US-Kongresses zu Myanmar, Hongkong und Vietnam gearbeitet.Die Kommunistische Partei wurde in den späten 1950er Jahren militärisch geschlagen. Die Regierung nahm dann Gespräche mit Vertretern der ethnischen Gemeinschaften über mögliche verfassungsmäßige und politische Zugeständnisse auf. Das Militär jedoch lehnte derlei Zugeständnisse ab und riss 1962 die Macht in einem unblutigen Staatsstreich an sich. Der birmanische Teil der Bevölkerung nahm diesen Machtwechsel im Großen und Ganzen hin.
Myanmar wurde von 1962 bis 2011 von einer Abfolge von Militärjuntas regiert. Sie machten das Land von einer der stärksten Volkswirtschaften Südostasiens zu einer der ärmsten Nationen dort. Der wirtschaftliche Niedergang wurde verschärft von Wirtschaftssanktionen, die die USA, die Europäische Union (EU) und andere Staaten von den späten 1980er Jahren bis zur teilweisen Wiederherstellung ziviler Herrschaft im Jahr 2011 verhängten – der Hauptgrund aber war die grobe Misswirtschaft.
Das Militär erwies sich auch als unfähig, den Bürgerkrieg zu beenden. Es schwankte hin und her zwischen größeren militärischen Offensiven und Angeboten für befristete Waffenstillstände, die es dann fast alle wieder brach. Seine Offensiven waren für ihre Brutalität berüchtigt. Sie zielten auf unbewaffnete Zivilisten, um die bewaffneten Trupps der ethnischen Minderheiten von Finanzmitteln, Nahrung, Informationen und neuen Rekruten abzuschneiden. Damit konnte das Militär die bestehenden ethnischen Trupps nicht besiegen, bewirkte aber über die Jahre die Entstehung von mehr als 20 neuen. Diese verfolgten unterschiedliche Ziele – Autonomie für ihre Ethnie, Unabhängigkeit oder einfach Verteidigung gegen die Armee Burmas –, was Versuche behinderte, im Widerstand zu kooperieren.
Auch zwischen hohen Militärs traten regelmäßig Spannungen auf. 1988 führte ein Volksaufstand zur Bildung einer neuen Militärjunta. Sie hielt 1990 Parlamentswahlen ab, weigerte sich aber, das Ergebnis anzuerkennen, als die Nationale Liga für Demokratie (NLD) unter Aung San Suu Kyi eine Mehrheit der Sitze gewann. 1997 verdrängte eine andere Gruppe von Offizieren unter der Führung von General Than Shwe die alte Junta von der Macht. Die neue gab sich den Namen „Staatsrat für Frieden und Entwicklung“.
Kampf gegen bewaffnete Trupps ethnischer Minderheiten
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lag Myanmars Wirtschaft am Boden, der Bürgerkrieg hatte alle sieben Bundesstaaten von ethnischen Minderheiten erfasst und das Militär führte einen aussichtslosen Kampf gegen deren bewaffnete Trupps. Im August 2003 stellte der Premierminister einen Sieben-Punkte-Plan zur Demokratisierung vor; im Februar 2008 präsentierte die Junta den Entwurf einer neuen Verfassung. Er sah eine relativ starke Zentralregierung mit einem Zweikammerparlament vor, das den Staatspräsidenten und die beiden Vizepräsidenten bestimmen sollte. Verschiedene Bestimmungen stellten jedoch sicher, dass das Militär in der Regierung die stärkste Kraft bleiben würde. Die Verfassung wurde 2008 in einem Referendum angenommen, dessen Ergebnis verfälscht war. In ebenfalls manipulierten Wahlen für das neue Parlaments gewann 2010 die promilitärische Partei die Mehrheit der Sitze in beiden Kammern und bestimmte Thein Sein, den Premierminister des Staatsrats, zum Präsidenten.
Zwischen 2011 und 2015 führte Thein Sein kleinere politische Reformen durch und startete eine Kampagne für einen umfassenden landesweiten Waffenstillstand mit mehr als zwanzig ethnischen Rebellentrupps. Es gelang ihm, bilaterale Abkommen mit vielen von ihnen zu schließen, er konnte aber keinen Waffenstillstand mit allen erreichen. Die Kämpfe zwischen dem Militär und den bedeutendsten ethnischen Trupps setzten sich fort.
Im November 2015 wurde wieder das Parlament gewählt. Diesmal – anders als 2010 – nahmen die Nationale Liga für Demokratie und die Parteien der ethnischen Minderheiten teil. Trotz gravierender Mängel der Wahl gewann die NLD eine große Mehrheit der Sitze in beiden Kammern. Aung San Suu Kyi konnte wegen einer Bestimmung in der Verfassung nicht Präsidentin werden, deshalb schuf das Parlament für sie das Amt des Staatsrats, dessen Kompetenzen denen eines Premierministers ähneln.
Angriff auf knapp eine Million Rohingya
Versuche, die Verfassung von 2008 zu ändern, blockierte das Militär in der Folge. Aung San Suu Kyi übernahm Thein Seins Initiative für einen Waffenstillstand modifiziert, aber das Militär blockierte das, indem es sich weigerte, in guter Absicht zu verhandeln. Stattdessen verstärkte es die Schläge gegen die ethnischen Trupps und startete 2017 einen völkermörderischen Angriff auf die knapp eine Million Rohingya im Bundesstaat Rakhine.
In den Parlamentswahlen Ende 2020 gewann die Nationale Liga für Demokratie erneut die absolute Mehrheit in beiden Kammern. Und am Abend, bevor das neue Parlament seine Arbeit aufnahm, putschten General Min Aung Hlaing und die Spitzen des Militärs. Aung San Suu Kyi und die meisten neuen zivilen Mitglieder des Parlaments wurden verhaftet und festgesetzt. Ihnen wurde Wahlbetrug vorgeworfen – Behauptungen, die jeglicher Grundlage entbehrten. Min Aung Hlaing ernannte Mitglieder einer Interimsregierung namens Staatsverwaltungsrat.
Diesmal aber ließ sich das Volk den Staatsstreich nicht bieten. Im ganzen Land begannen große friedliche Proteste, auch in Gebieten, in denen die Birmanen die Mehrheit bilden. Staatsbedienstete, Ärzte, Studierende und Lehrer waren unter den Organisatoren.
Volksverteidigungskräfte attackieren das Militär
Als das Militär mit Gewalt reagierte, antworteten die Menschen mit der Bildung von Volksverteidigungskräften, um das Militär abzuwehren und zu stürzen. Manche der ethnischen Trupps versprachen den Protestierenden Unterstützung und gewährten Parlamentariern Zuflucht, die der Gefangennahme entkommen waren. Seit dem Putsch hat das Militär mehrere ethnische Minderheiten angegriffen. Die Volksverteidigungskräfte haben währenddessen Guerillaangriffe auf Konvois und Stützpunkte des Militärs verübt, die Berichten zufolge viele Opfer gefordert haben.
Im Laufe des Jahres 2021 haben sich auch die Ziele der Opposition verändert. Zunächst verlangten sie die Wiedereinsetzung der zivilen Regierung; nun werden Rufe nach einer Revolution laut: Die Junta soll gestürzt, das Militär zurückgestutzt und eine föderale Republik geschaffen werden. Daraufhin hat Min Aung Hlaing versprochen, die Gegner seiner Junta „völlig auszulöschen“.
Alles deutet darauf hin, dass Myanmar eine neue Periode harter Kämpfe bevorsteht. Im Moment ist unwahrscheinlich, dass Bemühungen um Gespräche zwischen den Konfliktparteien Früchte tragen. Sowohl das Militär Myanmars als auch die Opposition beharren auf ihren Positionen und wollen die andere Seite militärisch besiegen. Aber die Gegner der Militärjunta sind nicht einig. Manche der ethnischen Rebellentrupps scheinen den Konflikt zwischen dem Militär und seinen birmanischen Gegnern zu nutzen, um das eigene Territorium auszuweiten und ihre Autonomie zu stärken. Die Arakan Army zum Beispiel hat mit Erfolg ihren Herrschaftsbereich im Norden des Bundesstaats Rakhine ausgedehnt.
Die Bürger scheinen zu allen Opfern bereit
Obwohl es ihnen an Waffen und Erfahrung mangelt, haben die Volksverteidigungskräfte sich im Kampf gegen das Militär Myanmars als erstaunlich fähig erwiesen – ähnlich wie das ukrainische Militär sein Land gegen die russische Invasion verteidigt. Und die Bürger Myanmars scheinen auch ebenso willens zu sein, alle Härten in Kauf zu nehmen, wenn sie die Junta am Ende besiegen. Doch es wächst das Risiko, dass sich einer oder mehrere der ethnischen Regionen abspalten, wenn die Lage im Kernland Myanmars ungeklärt bleibt.
Es sind Versuche im Gang, die Solidarität zwischen den Kräften der Opposition aufrechtzuerhalten. Im April 2021 wurde der „Konsultativrat der Nationalen Einheit“ gegründet – ein Forum, in dem verschiedene Mitglieder der Opposition sich treffen und die Ausgestaltung eines künftigen Bundesstaats diskutieren können. Berichten zufolge ist es bemüht, die Teilhabe von ethnischen Minderheiten und Frauen zu stärken beiden mehr Respekt zu verschaffen. Aus Kreisen des Forums ist zu hören, dass Birmanen zunehmend Verständnis und Mitgefühl gegenüber dem Leid der ethnischen Minderheiten in früheren Phasen der Militärherrschaft geäußert haben, nachdem sie selbst Misshandlungen durch das Militär ausgesetzt waren.
Unterstützung aus dem Ausland erforderlich
Wie können ausländische Regierungen das Volk Myanmars am besten unterstützen? Erstens wird dringend mehr humanitäre Hilfe benötigt. Sie sollte über informelle Wege bereitgestellt werden, sodass weder das myanmarische Militär noch der Staatsverwaltungsrat involviert sind. Zweitens sollte die Staatengemeinschaft solchen Kräften, die die Einrichtung einer demokratischen und föderalen Republik unterstützen, begrenzte militärische Hilfe gewähren.
Drittens sollte die Staatengemeinschaft den Konsultativrat der Nationalen Einheit und dessen Bemühungen unterstützen, Grundlagen eines künftigen Bundesstaates auszuhandeln. Dazu kann man Treffen von Mitgliedern des Rates außerhalb Myanmars finanzieren und zu unterstützen.
Viertens sollte mehr Druck auf das myanmarische Militär und seine Unterstützer ausgeübt werden. Die „begrenzten und zielgerichteten“ Sanktionen, die die EU und die USA nach dem Putsch verhängt haben, sind zu eng gefasst, um die Schlagkraft des Militärs ernsthaft zu schwächen. Gegen myanmarische Militärs vom Rang eines Majors aufwärts sowie deren engste Familienmitglieder sollten Sanktionen verhängt werden. Zusätzlich sollten alle Firmen, die im Besitz des Militärs sind oder unter dessen Kontrolle stehen, darunter die staatliche Öl- und Gasgesellschaft MOGE, mit einem Handelsverbot belegt werden. Ihr ausländisches Vermögen sollte eingefroren werden, internationale Finanzinstitute sollten ihnen Finanzdienstleistungen verweigern.
Es ist zu hoffen, dass solch vielfältiger Druck auf das myanmarische Militär entweder zum Kollaps der Militärjunta führt oder zu neuer Bereitschaft, einen friedlichen Weg zu einer zivilen Herrschaft auszuhandeln. Seit mehr als 60 Jahren leidet das Volk von Myanmar unter Militärherrschaft in unterschiedlicher Form. Heute könnten nach drei Generationen das erste Mal Hoffnungen auf Demokratie in Erfüllung gehen.
Aus dem Englischen von Christine Lauer.
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