Das Ausmaß der Bandengewalt in den Städten Haitis ist in den letzten vier Jahren enorm gestiegen. Nach UN-Berechnungen sind 200.000 Haitianer im eigenen Land auf der Flucht vor der Herrschaft krimineller Banden – die Hälfte von ihnen Kinder. Wie ist es dazu gekommen?
Volcy: Die Bandengewalt in Port-au-Prince und den größeren Städten im Department Artibonite hat in den letzten vier Jahren ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Zahlreiche rivalisierende Gangs kämpfen um die Kontrolle von Stadtvierteln und damit um die Möglichkeit, die Menschen, die dort leben, auszuplündern. Laut María Isabel Salvador, die das UN-Büro in Haiti leitet, wurden letztes Jahr 8400 Menschen von Banden ermordet, verletzt oder gekidnappt – mehr als doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Eltern fürchten um das Leben ihrer Kinder. Längst sind Schulen keine sicheren Orte mehr. Gesundheitsposten, Universitäten und selbst Grundschulen sind Schutzgelderpressungen, Plünderungen und Brandschatzungen ausgesetzt. Es gibt gezielte Angriffe auf Lehrerinnen und Lehrer. Für die Betroffenen ist das ein nicht endender Albtraum. Die meisten Menschen fliehen, nachdem sie selbst einen Angriff erlebt und Angehörige verloren haben.
Wie gelingt es Menschen, aus der Hauptstadt herauszukommen, und wohin fliehen sie?
Augustin: Jede Flucht ist extrem gefährlich. Laut Menschenrechtsorganisationen haben inzwischen 200 kriminelle Banden 80 Prozent des Territoriums der Hauptstadt Port-au-Prince unter ihre Kontrolle gebracht. Sie installierten einen Belagerungsring, der den Menschen dieser Stadt die Luft abschnürt. Wir nennen ihn Höllenkreis, cercle infernal. Alle vier großen Ausgangsstraßen werden von schwer bewaffneten Gangs kontrolliert. Wer an ihren Straßensperren vorbei will, muss bezahlen und läuft immer Gefahr, gekidnappt zu werden. Deshalb versuchen viele, im Morgengrauen unter Meidung der Hauptstraßen – oft zu Fuß – aus der Stadt herauszukommen. Die Erfahrung zeigt, dass um diese Tageszeit die Präsenz der Banden etwas geringer ist.
In der Regel versuchen die Menschen, sich zu Verwandten durchzuschlagen, die auf dem Land oder in kleineren Städten im Nordosten oder Südwesten leben. Ein andere Fluchtmöglichkeit bilden die aus Holz gebauten Lastensegelschiffe, die entlang der Küste unterwegs sind. Allerdings häufen sich zuletzt Piratenangriffe mit vielen Toten. Und dann gibt es extrem prekär ausgestattete Notunterkünfte und Zeltlager an einigen Stellen von Port-au-Prince, in denen die Menschen in ständiger Angst vor erneuten Übergriffen leben – und von wo aus sie versuchen, weiter zu fliehen.
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) berichtet, dass die Gangs inzwischen auch Teile des Departments Artibonite – nördlich der Hauptstadt – und andere größere Kommunen unter ihre Kontrolle bringen. Was bedeutet das für die im Land Geflüchteten?
Augustin: Das ist eine dramatische Entwicklung, die aber absehbar war. Es geht darum, mit einem Geschäftsmodell, das aus Drogenhandel, Zwangsprostitution, Schutz- und Lösegelderpressung besteht, zu expandieren. Für die aus der Hauptstadt Geflüchteten macht das die Lage noch aussichtsloser. Eigentlich sind nur die abgelegensten ländlichen Gebiete, die vielfach auch die ärmsten Haitis sind, wirklich sicher. Zumindest eingeschränkt akzeptabel ist die Sicherheitslage nach unserer Erfahrung derzeit noch in der Umgebung von einigen kleineren Städten wie etwa Jacmel. Die Ausweitung des Bandenterrors führt auch dazu, dass internationale Hilfsorganisationen, die sich zunächst aus der Hauptstadt zurückgezogen haben, das Land jetzt ganz verlassen. Die im Land Geflüchteten können so kaum noch von den UN oder anderen internationalen Institutionen unterstützt werden.
Wo kommen die Geflüchteten unter? Wie überleben sie?
Volcy: Inzwischen hungern fünf der elfeinhalb Millionen Einwohner Haitis – darunter drei Millionen Kinder. Gleichzeitig ist die internationale Hilfe, auch im Gefolge der Gewalt gegen Nothilfeorganisationen, regelrecht eingebrochen. Dort, wohin die Menschen fliehen, kommen sie meist mittellos an. Wir wissen zum Beispiel von einer Mutter, die es mit ihren Kindern bis Port-à-Piment im Südwesten Haitis geschafft hat und nachts mit ihrer Familie unter dem Tisch der Verwandten schläft, bei denen sie untergekommen ist. Andere kampieren unter freiem Himmel auf Straßen und Plätzen oder vor Kirchen.
Augustin: In einem Land, in dem die meisten Menschen mit Subsistenzwirtschaft versuchen, irgendwie durchzukommen, gibt es für die Binnenvertriebenen wenig Möglichkeiten, sich dort, wo sie Zuflucht finden, ein eigenes Einkommen zu schaffen. Deshalb beobachten wir, dass immer wieder Eltern ihre Kinder bei Verwandten zurücklassen und versuchen, in die Hauptstadt zurückzukehren, um dort etwas Geld zu verdienen. Dadurch wächst das Risiko, dass diese Kinder zu restavèk werden – zu unbezahlten, ausgebeuteten Arbeitskräften, die nie mehr zur Schule gehen. Der einzige Lichtblick, der uns Mut macht, hat mit der Bewegung der Frauen-Selbsthilfegruppen zu tun: Wir haben seit 2010, dem Jahr des verheerenden Erdbebens in Haiti, daran gearbeitet, in abgelegenen ländlichen Regionen solche Gruppen aufbauen zu helfen. Mehrere hundert Organisationen von Frauen sind heute durch ihre eigenen wöchentlichen Sparanstrengungen in der Lage, sich gegenseitig für kleine Geschäftsideen Darlehen zu geben. Mit den Erlösen können die Frauen die Situation ihrer Familien verbessern. Jetzt berichten diese Gruppen, dass sie viele Kinder, die von ihren Eltern aus Port-au-Prince aufs Land gebracht wurden, betreuen und versorgen.
Volcy: In Haiti sagen wir immer, unsere wichtigste Ressource ist Widerstandsfähigkeit und Resilienz! Wir sind Expertinnen und Experten im Überleben. Aber was wir jetzt wirklich brauchen, ist internationale Hilfe, um die Geldströme der Gangs auszutrocknen und den Zufluss von immer mehr Waffen in dieses Land zu stoppen. Dafür sind auch konsequente internationale Sanktionen gegen korrupte Politiker, Zollverantwortliche und diejenigen Polizeioffiziere notwendig, die eng mit dem organisierten Verbrechen verzahnt sind.
Das Gespräch führte Jürgen Schübelin.
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