Kenia soll eine Truppe aus rund tausend Polizisten anführen, die in Haiti gewalttätige Banden bekämpft. Haitis Regierungschef hat eine Intervention schon vor einem Jahr gefordert . Was hat sich seitdem geändert – ist die Gewalt noch schlimmer geworden?
Viel schlimmer. Heute werden viel mehr Gebiete Haitis in allen Landesteilen von bewaffneten Gruppen kontrolliert als vor einem Jahr, und diese gehen noch brutaler vor als zuvor. Sie greifen zum Beispiel Familien an und brennen ihre Häuser nieder. Ohne jede Angst vor Bestrafung können sie tun, was sie wollen.
Was meinen Sie mit bewaffneten Gruppen – kriminelle Banden oder auch zum Beispiel Paramilitärs, also Milizen im Bündnis mit der Polizei?
Kriminelle Banden. Paramilitärs gibt es zumindest offiziell nicht, das heißt es gibt keine Polizei- oder Armeeeinheiten mit direkten Verbindungen zu diesen Banden. Allerdings haben Gruppen aus der Zivilgesellschaft den Verdacht, dass einzelne Teile der Polizei oder der Armee sich insgeheim mit bewaffneten Banden verständigen oder verbünden.
Kann ein von Kenia geführter internationaler Polizeieinsatz die Gewalt dieser Banden zurückdrängen?
Nein. Eine solche Truppe wird in Abstimmung mit der Regierung vorgehen, und die schaut nicht darauf, was dem Land, den verletzlichen Menschen und den Stadtvierteln passiert. Sie tut nichts dafür, den Banditen entgegenzutreten – auch nicht das, was trotz des Mangels an Mitteln bei der Polizei möglich wäre. Wir sehen sogar Anzeichen, dass die Regierung mit bewaffneten Banden unter einer Decke steckt . Ich glaube deshalb nicht, dass eine kenianische Polizeitruppe helfen kann, das Problem wirklich zu lösen. Allerdings kann sie vielleicht eine kurze Atempause und gewisse Erleichterungen für einige Stadtviertel oder Menschen bringen. Nur haben die Haitianer zuvor schon internationale Interventionen erlebt, zuletzt die UN-Stabilisierungsmission MINUSTAH von 2004 bis 2017. Man muss jetzt eine dauerhaftere Lösung suchen und die tieferen Ursachen der Gewalt angehen, statt nur wieder Pflaster auf die Wunden zu kleben.
Wie wird die geplante neue Intervention in Haiti gesehen?
Auch wenn ein Teil der Bevölkerung sie trotz Vorbehalten akzeptiert, gibt es in Haiti viel Kritik an der Entscheidung für eine neue Intervention und Widerstand dagegen. Zum einen wird sie nach meiner Ansicht die Macht der Regierung stärken. Zum anderen hat man nicht auf Stimmen aus Haiti gehört, die andere Strategien vorschlagen als die Wiederholung der Rezepte vom letzten Mal, nämlich die Polizei des Landes zu stärken, sie zu reformieren und dort fortschrittliche Kräfte zu suchen, die glaubwürdig sind. Stattdessen hat man erneut ein fremdes Land gesucht, das die Führung einer multinationalen Truppe übernimmt. Die Kenianer, die dazu bereit sind, kennen das Land überhaupt nicht und sprechen nicht die Landessprache. Darüber hinaus hat die MINUSTAH in Haiti damals die Cholera eingeschleppt und Verbrechen wie Vergewaltigungen begangen, die nie bestraft wurden. Jetzt hat der UN-Sicherheitsrat zwar die Staaten ermächtigt, eine neue Interventionstruppe zusammenzustellen, aber das soll keine UN-Truppe sein und sie ist nicht den UN unterstellt (siehe Kasten). Wenn es also wieder Übergriffe gibt, weiß man nicht, an wen man sich mit Klagen überhaupt wenden muss. Das ist umso bedenklicher, als Kenias Polizisten zu Hause häufig Menschenrechtsverletzungen begehen. Das kann man zum Beispiel in Berichten von Amnesty International nachlesen . Das alles weckt in einem Teil der Bevölkerung Haitis Zweifel an der Entscheidung des UN-Sicherheitsrates.
Auf unmöglicher Mission?
Der UN-Sicherheitsrat hat am 2. Oktober beschlossen, dass eine von Kenia geführte ...
Für Sie ist es ein Problem, dass die neue Intervention die Macht der Regierung und ihr internationales Ansehen stärkt?
Ja. Die internationale Schutztruppe soll mit der Regierung zusammenzuarbeiten, die keinerlei Kontrolle über das Land hat, sich nicht um es kümmert und der jede Glaubwürdigkeit fehlt. Sie hängt völlig von den USA und internationaler Unterstützung ab. Meiner Meinung nach ist die neue Intervention unter diesen Umständen mittelfristig zum Scheitern verurteilt.
Heißt das, Haiti braucht als erstes politische Reformen und einen Übergangsprozess zu einer anderen Regierung?
Genau. Das fordern viele Menschenrechtsorganisationen sowie zivilgesellschaftliche und politische Gruppen in Haiti. Tiefgreifende Reformen des Staates und der Regierungsführung sind nötig. Ariel Henry dürfte nicht länger die Rolle des Premierministers innehaben – nicht nur weil er sich als unfähig erwiesen hat, sondern vor allem weil ihm jeder Wille fehlt, wirklich die Bevölkerung zu schützen. Organisationen in Haiti verlangen auch Strukturen, mit denen kontrolliert wird, was die Regierung und der Premierminister tun. Zurzeit hat Ariel Henry alle Macht auf sich konzentriert. Er ist nicht nur Premierminister, sondern auch Innenminister und spielt zudem die Rolle des Staatspräsidenten, die ihm nicht zukommt. Er kontrolliert praktisch den Polizeirat und alle Nachrichtendienste, die Haiti besitzt. Und mit all dieser Macht tut er nichts. Der Staat funktioniert nicht. Er versagt nicht nur bei der öffentlichen Sicherheit, sondern auch etwa im Gesundheitswesen und bei der Abfallbeseitigung. Die Haitianerinnen und Haitianer müssen sich selbst helfen, als gäbe es keine Regierung.
Bilden sie deshalb auch Selbstverteidigungsgruppen, die ihrerseits Gewalt ausüben?
Es gibt Bewaffnete, die sich als Selbstverteidigungsgruppen bezeichnen, und auch die begehen Übergriffe. Manchmal töten sie etwa Personen, die verdächtigt werden, zu kriminellen Banden zu gehören, oder peitschen sie aus. Manche treiben auch Geld ein. Aber die große Mehrheit der Verbrechen in Haiti begehen kriminelle Banden, die etwa Häuser niederbrennen und Frauen vergewaltigen. Und manche Selbstverteidigungsgruppen werden offen toleriert, auch von der Polizei.
Was erwarten Sie von der EU und der Schweiz – wie können sie die Suche nach Auswegen aus der Krise in Haiti unterstützen?
Ich bin zurzeit in Europa, um an der Versammlung der Koordination Europa-Haiti teilzunehmen, das ist eine Plattform europäischer NGOs zu Haiti. Wir erwarten von Europa hauptsächlich vier Dinge: Erstens sollte es sich von der gegenwärtigen Regierung Haitis distanzieren und sie nicht weiter unterstützen, denn sie hat Verbindungen zu den bewaffneten Banden und lässt sie völlig straflos Gewalt ausüben. Zweitens sollte Europa einen echten Dialog in Haiti befördern, der zu einer neuen Regierung führt, und Reformen der Polizei und des Staates insgesamt unterstützen. Die Regierung dort muss ein Programm für die jungen Leute auflegen, die sich bewaffneten Gruppen angeschlossen haben, und parallel dazu glaubwürdige Wahlen vorbereiten. Zurzeit kontrollieren die Banden so viele Stadtviertel und haben so viele Menschen im Land vertrieben, dass kaum demokratische Wahlen organisiert werden können. Drittens sollte Europa internationale Initiativen gegen Waffenschmuggel und gegen Korruption unterstützen. Eine internationale Mafia ist in Haiti in Teile des Staates eingedrungen und unterstützt den Waffenhandel und die Korruption, das hat das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) im März dokumentiert. Zudem erwarten wir, dass die EU gegen prominente Personen, die an den organisierten Verbrechen in Haiti beteiligt sind, transparent ermittelt und, wenn sie in Europa festgenommen werden können, sie an die Justiz Haitis überstellt.
Welche Personen meinen Sie, sind die bekannt?
Zumindest teilweise. Die UN haben die Liste aller Personen, die sie wegen der Gewalt in Haiti mit Sanktionen belegt haben, noch nicht veröffentlicht. Aber die USA, Kanada und Frankreich haben ihre entsprechenden Listen publiziert. Darauf stehen frühere Staatspräsidenten, Premierminister und Minister sowie amtierende Minister und Parlamentarier in Haiti. Viertens schließlich sollte die EU sich dafür einsetzen, den Konflikt zwischen Haiti und seinem Nachbarland, der Dominikanischen Republik, zu entschärfen. Zwischen ihnen ist ein Streit über einen Kanal ohne Not eskaliert und die Dominikanische Republik hat die Grenze geschlossen. Das hat einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung Haitis von den grenzüberschreitenden Märkten abgeschnitten, auf denen sie sich mit Nahrung und anderen Gütern versorgt hatten.
Das Gespräch führte Bernd Ludermann.
Neuen Kommentar hinzufügen