Regieren mit Verbrecherbanden

Richard Pierrin/AFP via Getty Images
Protest im November 2021 in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince. Haitis Premierminister Ariel Henry hat versprochen, die Unsicherheit zu bekämpfen, aber bewaffnete Banden sind mit dem Staat im Bunde gegen die Herrschaft und die Gewalt der Gangs.
Haiti
In Haiti bereichert sich eine Oligarchie, während die Bevölkerung in Angst und Armut lebt. Teile der Zivilgesellschaft verlangen einen Neuanfang, die Regierung will ­zurück zum Anschein der Normalität.

Dieser Beitrag ist Teil unserer Serie "Vergessene Krisen im globalen Süden", in der wir in loser Folge die Konflikte in Ländern darstellen, die im Schatten des Krieges in der Ukraine in der medialen Brichterstattung untergehen.

Seit dem Erdbeben vom Januar 2010 bietet Haiti ein Bild der Verzweiflung – geprägt von Naturkatastrophen, Entführungen, bewaffneten Banden und politischen Krisen. Über den spektakulären Bildern des Unglücks geraten die Ursachen der Lage und unsere Mitverantwortung im Ausland leicht aus dem Blick. Wer weiß noch, dass 1804 die Revolution der Sklaven Haitis die erste freie schwarze Republik schuf? Die Schulden, die der vormalige Kolonialherr Frankreich dem jungen Staat aufbürdete, lasten bis heute auf dem Land, ebenso seine geopolitische Position und dass die neue haitianische Elite Strukturen der früheren Kolonialmacht übernommen hat.

Am 7. Juli 2021 wurde Präsident Jovenel Moïse ermordet. Er hatte sich geweigert, am Ende seiner Amtszeit am 7. Februar 2021 die Macht abzugeben. Stattdessen wollte er ein Jahr weiter regieren, um Wahlen und ein Referendum über die Verfassung zu organisieren. Zwei Tage vor seiner Ermordung hatte er Ariel Henry zum Premierminister berufen. Am 7. Februar 2022 hätte demnach dessen Amtszeit auslaufen müssen. Doch Henry steht weiter an der Spitze des Staates.

Am ersten Februarwochenende 2022 wurden in Haiti etwa zehn Menschen ermordet und etwa zwanzig weitere entführt. An den folgenden Tagen wiederholte Premierminister Henry ein weiteres Mal sein Versprechen, gegen die Unsicherheit anzukämpfen. Die Botschafterin der Europäischen Union, Sylvie Tabesse, sprach von objektiven Fortschritten im Land, und die Vertreterin der Vereinten Nationen (UN), Helen La Lime, sah „gewisse Anzeichen des Fortschritts“. Kurz: Verbreitete Gewalt, Leugnung der Realität und Komplizenschaft bestimmen die unsichere Lage.

Das Land mit der größten Anzahl an Entführungen pro Einwohner

Haiti ist das ärmste Land des amerikanischen Kontinents, das mit dem höchsten Ausmaß sozialer Ungleichheit – und das mit der größten Anzahl an Entführungen pro Einwohner. Viele Teile der Hauptstadt Port-au-Prince sind wahre Zonen der Rechtlosigkeit geworden. Bewaffnete Banden beherrschen 60 Prozent der Stadt, darunter die Zufahrtswege zu den Departements im Süden, die am 14. August 2021 ein Erdbeben getroffen hat und die praktisch vom Rest des Landes abgeschnitten sind. Die Haitianerinnen und Haitianer beschränken ihre Mobilität auf das strikte Minimum und bewegen sich immer in der Angst, entführt oder vergewaltigt zu werden.

Haiti ist das ärmste Land des amerikanischen Kontinents. Viele Menschen sind auf Hilfe angewiesen – so wie diese Mütter, die in Port-au-Prince Essen für ihre unterernährten Kinder bekommen.

Wie konnte es so weit kommen? Dieses Ausmaß der Unsicherheit ist ein neues Phänomen. Gewiss gibt es in Haiti seit Langem ein Sicherheitsproblem. In der Diktatur der Duvaliers – unter François Duvalier von 1957 bis1971, dann unter seinem Sohn Jean-Claude Duvalier – wurde ständig eine private Miliz eingesetzt, die berüchtigten Tontons Macoutes. Auch nachdem Jean-Claude Duvalier 1986 von einem Volksaufstand aus dem Land gejagt worden war, hat sich das im Wesentlichen fortgesetzt, nun in neuer Form: Die politische Klasse und die Geschäftswelt benutzen bewaffnete Banden, um ihre Macht zu festigen. Dennoch war das Phänomen in den vergangenen Jahren hauptsächlich auf einige ärmere Stadtviertel beschränkt.

Das hat sich geändert. Ende 2017 gab es in Haiti im Durchschnitt vier Entführungen pro Monat. Vier Jahre später liegt diese Zahl 20 Mal so hoch. Der Wendepunkt lag im Jahr 2018, als sich die Wut der Bevölkerung gegen die hohen Lebenshaltungskosten, die Korruption und die Macht der Elite entlud. Seit dem Sturz der Diktatur im Jahr 1986 hatte das Land keinen solchen Volksaufstand mehr erlebt. Im November 2018 geschah dann in dem Viertel La Saline, das als Hochburg der Opposition bekannt ist, das erste in einer Serie von Massakern – mit 71 Opfern. Etwa zehn weitere sollten folgen – und ab 2020 eine wahre Explosion an Entführungen.

Mittäterschaft der Mächtigen

Autor

Frédéric Thomas

ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre tricontinental (CETRI) in Belgien (www.cetri.be). Er ist Experte für Haiti.
Zahlreiche Berichte von nationalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen weisen auf die Mittäterschaft der Mächtigen hin und sprechen von „Staatsverbrechen“. Vieles deutet in der Tat darauf hin, dass die Gewalt der bewaffneten Banden die Antwort der Regierung auf soziale Proteste war. An ihren Privilegien klebend, hat sich die haitianische Elite für diese para-staatliche „Lösung“ des Protestproblems entschieden. Der Terror ist die Regierungsweise geworden, die Zahl der Banden hat sich vervielfacht, und sie haben neue Gebiete in Besitz genommen.

Die bewaffneten Banden sind zugleich Ursache und Wirkung der Machtstruktur in Haiti. Der haitianische Markt hängt vom Handel vor allem mit den USA ab und liegt größtenteils in den Händen weniger Familien. Diese haben dem Staat seine Vorrechte entzogen und lassen ihn statt für das Gemeinwohl zu ihrem eigenen Nutzen funktionieren.

Diese Oligarchie hat auch das politische Leben weitgehend vereinnahmt, indem sie eine irrwitzige Vervielfachung der Parteien gefördert hat – es gibt heute mehr als hundert Parteien, die aber auf leere Hüllen reduziert sind, opportunistisch und nur auf einen Führer ausgerichtet. Das ist einer der Gründe dafür, dass die Wahlbeteiligung in Haiti zu den niedrigsten weltweit zählt – 2016 waren es etwa 20 Prozent.

Die Sozialpolitik ist an internationale nichtstaatliche Organisationen (NGOs) ausgelagert worden und die Schaffung von Arbeitsplätzen an die informelle Wirtschaft, in der 86 Prozent der Haitianer und Haitianerinnen arbeiten. Das Geld, das im Ausland arbeitende Haitianer schicken, ist die wichtigste Einnahmequelle des Landes und ermöglicht, dass die Bevölkerung nicht vollkommen untergeht. Die Verschwendung öffentlicher Mittel hat sich seit 2011 beschleunigt – mit der Regierung unter Michel Martelly, dessen Nachfolger Jovenel Moïse ist, und mit dem Zugang zum Petrocaribe-Fonds.

Entwicklungsprojekte – unfertig oder nur auf dem Papier

Dieses Abkommen über eine Energiezusammenarbeit mit Venezuela (2008 bis 2018) sollte es dem haitianischen Staat ermöglichen, Erdöl zu einem niedrigen Preis einzukaufen und auf der Grundlage soziale und Entwicklungsprojekte zu finanzieren. Der Großteil der Projekte wurde aber nicht fertig oder steht nur auf dem Papier; dafür haben die politische Klasse und die Geschäftswelt Hunderte Millionen Euro abgezweigt. Dieser Skandal zeigt den grenzenlos räuberischen Charakter der Oligarchie und die Schwäche der öffentlichen Institutionen.

Getragen von den Mobilisierungen der Jahre 2018/19, hat sich die ganze haitianische Zivilgesellschaft – soziale Organisationen, Bauernbewegungen, Gewerkschaften, Kirchen – dann Anfang 2021 um eine gemeinsame Forderung geschart: ein „Übergang mit einem Bruch“ (transition de rupture). In den Monaten danach haben sie versucht, dieser Alternative konkrete Gestalt zu geben. So ist aus der „Bürgerkonferenz für eine haitianische Lösung der Krise“ ein Abkommen namens Accord de Montana hervorgegangen; mehr als 500 Organisationen sowie 85 Parteien und politische Gruppierungen haben es am 30. August 2021 im Hotel Montana unterzeichnet.

Haitis Premierminister Ariel Henry hat versprochen, die Unsicherheit zu bekämpfen, aber bewaffnet Banden sind mit dem Staat im Bunde.

Dieses Abkommen ruft zu einem Bruch auf mit einem Staat, der zusammengebrochen ist, als „antinational“ gilt und mehr auf Forderungen aus der Staatengemeinschaft generell und speziell aus den USA hört als auf die der haitianischen Bevölkerung. Der Bruch soll eine Übergangszeit von zwei Jahren eröffnen, um ein Klima von Sicherheit und Vertrauen in die öffentlichen Institutionen wiederherzustellen, gegen die Straflosigkeit vorzugehen und die nötigen Bedingungen für Wahlen zu schaffen. Das Abkommen betont transparente Kontrollmechanismen und der Bildung von Gegenmacht, um für einen Übergang zu sorgen, der so einvernehmlich und partizipativ wie möglich ist. Im Rahmen dieses Prozesses und nach Verständigung mit anderen Parteien und Senatoren wurden ein Präsident und ein Premierminister gewählt, die zusammen mit zwei von der Zivilgesellschaft und einem von der Regierung ernannten Mitgliedern einen Übergangspräsidialrat bilden sollten. Aber wie zu erwarten hat Ariel Henry dieses Abkommen abgelehnt. Versuche, mit ihm zu verhandeln, sind sehr schnell gescheitert.

Jetzt stehen sich zwei Optionen für die Zukunft Haitis gegenüber. Die des Premierministers lautet, Wahlen und ein Referendum über die Verfassung abzuhalten, um zu einer gewissen institutionellen Normalität zurückzukehren. Die Unterzeichner des Accord de Montana dagegen meinen, dass zurzeit die Bedingungen für die Organisation von Wahlen nicht gegeben sind, dass der amtierenden Regierung die Legitimität hierfür fehlt und dass auf jeden Fall ein Bruch nötig ist, um das Land aus dem Zyklus von Krisen und Abhängigkeit herauszuführen.

Ein Begräbnis erster Klasse für alle Untersuchungen zu Korruption, Morden und Massakern

Zwar kann angesichts der Krise der Institutionen und der Repräsentation in Haiti keine der beiden Optionen für sich in Anspruch nehmen, das Volk zu repräsentieren. Aber für den Accord de Montana spricht, dass er den derzeit größtmöglichen Konsens darstellt und dass sich um ihn viele glaubwürdige und mit einer gewissen Legitimität versehene Akteure sammeln. Zudem beruht er auf durchdachten Analysen und Programmen. Die Regierung von Ariel Henry aber besitzt die Unterstützung der Oli­garchie und der internationalen Gemeinschaft – von der impliziten Unterstützung durch bewaffnete Banden einmal abgesehen. Letztlich hängt das politische Überleben der heutigen Regierung – wie schon bei der Vorgängerregierung unter Jovenel Moïse – großenteils von der politischen und finanziellen Unterstützung der Staatengemeinschaft ab. Die gibt vor, neutral zu sein, wenn sie zum Konsens zwischen allen Beteiligten aufruft. Faktisch aber unterstützt sie die von Ariel verkörperte Option.

Das geht so weit, dass sie die Korruption und die vom Staat ausgehende Gewalt übersieht und die Mehrheit der haitianischen Zivilgesellschaft missachtet – bis hin zur Absurdität, unter solchen Bedingungen international finanzierte Wahlen als einen Faktor der Stabilität zu unterstützen. Welche Legitimität sollten Wahlen haben, die von einer diskreditierten und illegalen Regierung organisiert und unter der Kontrolle bewaffneter Banden abgehalten werden? Noch dazu lastet auf dem Vertrag mit dem deutschen Unternehmen Dermalog über die Herstellung von Personalausweisen ein Betrugsverdacht. 

Schließlich bedeutet die internationale Strategie gegenüber Haiti ein Begräbnis erster Klasse für alle Untersuchungen zu Korruption, Morden und Massakern. Beispielsweise wurden Untersuchungen aufgenommen zum Mord an Präsident Moïse, zu etwa zehn der Massaker seit Ende 2018 und zum Doppelmord im Juni 2021 am Journalisten Diego Charles und der Menschenrechtsaktivistin Antoinette Duclair. All diese Untersuchungen werden heute blockiert. Im Namen der Stabilität soll ein sozial ungerechtes und räuberisches System wiederhergestellt werden und weiterhin Straffreiheit herrschen. Die Haitianer und Haitianerinnen lehnen dies ab. Und wir? 

Aus dem Französischen von Bernd Stößel.

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erschienen in Ausgabe 4 / 2022: Streiten für die Menschenrechte
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