Äußerst hart. Ein großer Teil lebt seit langem in extremer Armut. Nun erlebt Haiti eine tiefe Krise der Regierung und der staatlichen Funktionen, deren Höhepunkt Mitte 2021 der Mord an Präsident Jovenel Moïse war. Danach haben bewaffnete Banden, die es bereits vorher gab, sich immer mehr ausgebreitet. Und zur inneren Krise kommen die internationalen Folgen des Kriegs in der Ukraine hinzu. Nachdem die Erdölpreise weltweit stark angestiegen waren, hat die Regierung unter Ariel Henry beschlossen, die Preise für Treibstoffe auf mehr als das Doppelte anzuheben; diesen Schritt hat ihr der Internationale Währungsfonds auferlegt. Als Folge sind Lebensmittel viel teurer geworden, aber auch Gesundheitsdienste und Bildung. In Haiti zahlen größtenteils die Familien für die Bildung ihrer Kinder, nicht einmal für ein Fünftel der Kosten kommt der Staat auf. Deswegen können jetzt viele Kinder nicht mehr zur Schule gehen. Auch Gesundheitsdienste stellt nicht der Staat bereit, sondern nichtstaatliche Organisationen, Kirchen oder Private. Das alles hat zu einer explosiven Situation geführt und eine Rebellion der Bevölkerung ausgelöst, die nicht mehr weiß, wie sie überleben soll.
Wie wirken sich die bewaffneten Banden aus?
Diese Gruppen haben schon unter der Regierung von Jovenel Moïse in einem Teil der Hauptstadt die Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Die neue Regierung unternimmt keinerlei Versuche, ihnen Grenzen zu setzen. Sie haben sich auf alle Regionen und Stadtviertel ausgebreitet, sogar die, in denen eher besser Gestellte leben, und verüben Entführungen und zahllose Gewalttaten. Nach Beginn der Proteste gegen die Benzinpreiserhöhung hat eine der Banden sogar Tankwagen daran gehindert, Treibstoff aus einem Lager zu holen und im Land zu verteilen. Deshalb gibt es jetzt selbst für ein Minimum an Transporten oder auch die Gesundheitsdienste keinen Kraftstoff mehr.
Ministerpräsident Ariel Henry hat Anfang Oktober um eine neue internationale Eingreiftruppe gebeten, und UN-Generalsekretär Antonio Guterres unterstützt das. In den Vereinten Nationen wird nun darüber verhandelt. Was halten Sie davon?
Das ist eine sehr schlechte Idee und eine bedenkliche Haltung des UN-Generalsekretärs. Die Staatengemeinschaft folgt weiter alten, falschen Deutungsmustern der Vorgänge in Haiti, statt selbstkritisch ihre bisherigen Interventionen zu überprüfen, die keine Lösung gebracht haben. Von 2004 bis 2017 war die UN-Stabilisierungsmission MINUSTAH in Haiti, die Milliarden US-Dollar gekostet hat und die Polizei und die Justiz stärken sollte. Anschließend gab es bis 2019 eine spezielle Mission zur Stärkung der Justiz. Seitdem haben die UN das Integrierte UN-Büro in Haiti (BINUH) und leisten direkte Hilfe an die Regierung. Das Ergebnis ist eine totale Schwächung der staatlichen Institutionen, besonders der Polizei und der Justiz. Die Korruption in der Polizei nimmt weiter zu und sie achtet die Menschenrechte immer weniger. Unter ihren Augen und denen der internationalen Missionen haben bewaffnete Banden ihre Macht ausgeweitet. Die Leiterin des BINUH, Helen La Lime, hat in einem Bericht an den UN-Sicherheitsrat sogar begrüßt, dass die Banden sich nun zusammengeschlossen haben, denn so könne man leichter mit ihnen kommunizieren. Die Strategie der UN und der USA insgesamt muss auf den Prüfstand. Eine neue Militärmission wird nichts verbessern.
Haben Sie den Verdacht, dass bewaffnete Gruppen von Leuten im Staat geduldet oder unterstützt werden?
Ja. Seit langem sagen Gruppen der Zivilgesellschaft und speziell Menschenrechtsorganisationen, dass es geheime Absprachen zwischen politischen Führern sowie den Banden gibt. Das ist eine Strategie, Stadtviertel zu kontrollieren, die Hochburgen der Proteste sind. Eine Verständigung gibt es auch mit einflussreichen Leuten aus der Wirtschaft, die Banden benutzen, um ihre Geschäfte abzusichern. Diese Verbindungen muss man kappen. Der UN-Sicherheitsrat hat Reisebeschränkungen gegen einen Bandenführer beschlossen, der sowieso nicht reist, und Sanktionen gegen andere kriminelle Akteure, die aber noch nicht benannt sind – man muss sehen, wie sie umgesetzt werden.
Wie soll man ohne Militärintervention die Gewalt beenden?
Man muss die Polizei stärken, damit sie ihre Aufgabe erfüllen kann, aber das muss man anders machen als bisher. Ihr fehlt zum einen Ausrüstung. Weil die USA seit langem ein Waffenembargo gegen Haiti verhängt haben, kann die Polizei keine Waffen besorgen, während die bewaffneten Banden sich auf dem Markt der USA damit eindecken können. So sind sie jetzt besser bewaffnet als die Sicherheitskräfte. Der UN-Sicherheitsrat hat beschlossen, der haitianischen Polizei Waffen zu liefern; das ist gut. Nötig sind auch Berater, zum Beispiel aus Ländern in Lateinamerika, die Erfahrung mit dem Kampf gegen bewaffnete Banden haben. Polizisten, die mit den Banden unter einer Decke stecken, muss man aus der Truppe entfernen, eine Säuberung ihrer Reihen ist also nötig. Aber vor allen Dingen muss man die Fähigkeit der Bevölkerung stärken, das Schicksal ihres Landes in die Hand zu nehmen. Ausländische Truppen würden nach ein paar Monaten wieder gehen und die Probleme würden von vorn beginnen.
Sollte die Staatengemeinschaft direkt mit nichtstaatlichen Organisationen zusammenarbeiten?
Sie müssen die Stimme der Zivilgesellschaft und der Kirchen anhören. Viele kirchliche, zivilgesellschaftliche und politische Organisationen aus Haiti haben sich Mitte 2021 im "Accord de Montana" zusammengetan und einen Vorschlag gemacht. Aber die USA, andere Botschaften und sogar die UN wollen um jeden Preis ihre Rezepte für Haiti durchsetzen. Wir brauchen jedoch auch eine Regierung, die in der Lage ist, die Probleme des Landes anzugehen. Im Moment unterstützen die UN eine Regierung, die völlig handlungsunfähig ist.
Welche politischen Reformen verlangt der Accord de Montana?
Ich kann nicht für den Accord sprechen, aber ich kenne viele Bauernorganisationen, Gewerkschaften und Menschenrechtsgruppen, die daran mitgewirkt haben. Praktisch alle verlangen, dass Ariel Henry zurücktritt. Seine Regierung ist völlig ineffektiv. Aber eine neue Regierung würde noch keine nachhaltige Lösung bringen, denn das Problem liegt tiefer. Wir haben eine Krise der staatlichen Institutionen und der Regierbarkeit. Deshalb verlangt der Accord de Montana eine „Transition de Rupture“, also einen Übergang, der zugleich einen Bruch bedeutet, auch etwa bei der Ausrichtung des Bildungs- und Gesundheitswesens. Danach soll es Wahlen geben. Die Staatengemeinschaft aber will sofort Wahlen, um dann sagen zu können, dass Haiti wieder eine demokratische Regierung hat – sie will nicht die zugrunde liegenden Probleme angehen. Das muss jetzt passieren.
Welche Unterstützung von außen wünschen Sie sich jetzt für Haiti?
Man soll der haitianischen Gesellschaft helfen, eine eigene und dauerhafte Lösung zu finden, statt uns immer dieselben Rezepte von außen aufzudrängen. Damit spreche ich speziell die USA an, die weitgehend kontrollieren, was in Haiti geschieht, und immer ihre Lösungen durchsetzen wollen. Zunächst muss die Entscheidung, die Treibstoffpreise drastisch zu erhöhen, zurückgenommen werden, um die politische Blockade aufzulösen. In den Berichten an den UN-Sicherheitsrat wird sie aber nicht einmal erwähnt. Zweitens muss man Hilfe leisten, damit die Kinder wieder zur Schule gehen können. Drittens brauchen wir eine andere Regierung. Danach kann man über weitere Schritte reden, etwa über die Vorbereitung von Wahlen. Die Staatengemeinschaft sollte eine Reform des Staates unterstützen statt immer wieder nur Schmerzlinderung. Jetzt reden alle davon, humanitäre Hilfe zu leisten, weil Cholerafälle aufgetreten sind. Aber seit Jahren sterben schon Leute genau da, wo es jetzt Cholera gibt; niemand kommt ihnen zu Hilfe und der Staat tut nichts. Natürlich braucht Haiti auch Hilfe, aber die muss auf würdige und wirksame Weise geleistet werden. Und sie darf nicht zum trojanischen Pferd werden, um einer Militärintervention den Weg zu ebnen.
Das Gespräch führte Bernd Ludermann.
Mehr Informationen zu Haiti gibt es in unserer Serie "Vergessene Krisen im globalen Süden", in der wir in loser Folge die Konflikte in Ländern darstellen, die im Schatten des Krieges in der Ukraine in der medialen Berichterstattung untergehen.
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