Der weltweiten Politik des Neoliberalismus gemeinsam entgegentreten – aus diesem Impuls ist vor gut zwanzig Jahren das Weltsozialforum entstanden. Christian Schröder erläutert, was es mit der Vernetzung von Bewegungen verschiedenster Länder bewirken kann und wo seine Grenzen liegen.
Das Weltsozialforum (WSF) wurzelt in globalisierungskritischen Bewegungen aus verschiedenen Ländern. Kann man es als transnationale soziale Bewegung verstehen?
Wie global ist das WSF? Ist zum Beispiel die Beteiligung aus Lateinamerika stärker als aus Afrika?
Ja, da gibt es klare Unterschiede. Die Beteiligung hängt zum einen sehr vom Ort ab, an dem ein WSF gerade stattfindet. Zum Beispiel war das Forum 2013 und 2015 in Tunis, wo kurz vorher der langjährige Machthaber Ben Ali gestürzt worden war, unter dessen Herrschaft zivilgesellschaftliche Gruppen kaum tätig sein konnten. Nun stellten sie die beiden Foren mit mehreren Zehntausend Teilnehmenden auf die Beine, davon kam eine Mehrheit aus dem nordafrikanischen Raum. Für sie war der Austausch, den sie vorher nicht hatten, eine wichtige Erfahrung. Zum anderen sind auch die finanziellen Möglichkeiten für eine Teilnahme sehr ungleich, viele afrikanische Gruppen zum Beispiel können sie kaum finanzieren. Der Internationale Rat hat dafür eine Art Solidaritätsfonds. Nichtstaatliche Organisationen wie Brot für die Welt finanzieren zudem Reisen von ihren Partnern aus dem globalen Süden zu den Weltsozialforen. Ein weiteres Problem sind Visa für die Einreise. Vor dem ersten WSF im globalen Norden, 2016 in Kanada, sind viele Visaanträge abgelehnt worden, ebenso vor dem Forum in Mexiko 2022.
Beeinflusst der Veranstaltungsort, welche Themen dominieren?
Ja. Zum Beispiel haben auf dem WSF in Salvador de Bahía 2018, kurz vor der Wahl von Jair Bolsonaro zum Staatspräsidenten, die Innenpolitik in Brasilien, der Wahlkampf und die extreme Spaltung der Gesellschaft die Debatten beherrscht. Auf den meisten anderen WSF haben internationale Themen eine größere Rolle gespielt. Im Frühjahr 2022 in Mexiko wurde zum Beispiel der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine diskutiert, und das sehr kontrovers.
Protestbewegungen entzünden sich meist an lokalen Missständen, und nationale Regierungen sind die wichtigsten Entscheidungsinstanzen in der globalen Politik. Wie kann ein globales Forum wie das WSF darauf Einfluss nehmen?
Das WSF entfaltet da, wo es gerade stattfindet, auch Wirkung auf die nationale Politik. Aber das Forum selbst will gar nicht direkt Forderungen gegenüber Regierungen vertreten. Das tun vielmehr die Bewegungen, die sich im WSF vernetzen. Das Forum ist ein Raum des Austauschs. Zusammengehalten wird es von seinem Internationalen Rat, der aber nichts inhaltlich entscheidet, sondern den Prozess aufrechterhält – etwa den Ort für das nächste Forum festlegt und die Bedingungen der Durchführung sichert. Direkten Einfluss suchen aber transnationale Netzwerke zu speziellen Themen, die auf dem Boden des WSF entstanden sind, zum Beispiel das Weltforum für freie Medien und das Weltforum für Migration. Sie verfolgen jenseits des WSF, aber in Verbindung zu ihm konkrete politische Ziele. Darüber hinaus ist das Besondere an globalen Protestbewegungen, dass darin eine Idee sich weltweit ausbreitet. Das war auch beim WSF der Fall: Die Idee eines offenen Raumes, in dem unterschiedlichste Gruppen zusammenkommen, hat sich verbreitet – in vielen Ländern und Städten weltweit wurden Sozialforen veranstaltet. Das wirkt zum Teil weiter, etwa im jüngsten europäischen Sozialforum in Florenz im November 2022.
Das WSF ist also keine Bewegung wie etwa die weltweite Entschuldungskampagne, die zu einem bestimmten Thema eine klare gemeinsame Position hat?
Richtig. Das WSF versteht sich nicht als Organisation, die einen Konsens über gemeinsame Forderungen sucht und diese vertritt, sondern eben als Raum des Austauschs. Ob das so bleiben soll, ist allerdings jetzt umstritten. Ein kleinerer Kreis im WSF sagt, die weltpolitische Lage erfordere, mehr zu tun als bisher, und das WSF habe – zugespitzt gesagt – das Potenzial, zur internationalen Linken zu werden ähnlich einer politischen Partei. Die Mehrheit lehnt das bisher ab, weil man damit Gruppen ausschließen würde, die mit einer gemeinsamen Position nicht einverstanden sind. Bisher hält das WSF diese Spannung aus und ist ein offener Raum geblieben.
Wäre eine gemeinsame Position in vielen Fragen überhaupt erreichbar?
Nein, eben nicht. Und je mehr man versuchen würde, einen politischen Konsens zu finden, desto schwammiger wäre er und hätte wenig Schlagkraft. Angesichts des Angriffs auf die Ukraine zu sagen „Wir sind für Frieden“ ist beispielsweise nicht wirklich ein Statement. Dann ist es besser, wenn Teile des WSF, die eine klare Position finden können, sie wie jetzt außerhalb des WSF vertreten.
Hat das damit zu tun, dass sich von Land zu Land die vordringlichen Probleme stark unterscheiden und auch die Handlungsmöglichkeiten für nichtstaatliche Organisationen?
Ja. Allerdings ist die Idee des WSF, Bezüge herzustellen zwischen verschiedenen Themen, die in dem einen oder anderen Land dringend sind. Der verbindende Kern ist das Verständnis, das die neoliberale Ordnung die Ursache der vielfältigen Probleme weltweit ist. Aber wie eine andere Welt aussehen soll, welche Probleme am dringendsten und welche Schritte zuerst nötig sind – dazu gibt es viele unterschiedliche Ideen.
Hat das auch mit Differenzen zwischen Nord- und Süd-NGOs zu tun?
Die spielen eine Rolle, besonders für die Frage, wie man im WSF trotz sehr unterschiedlicher Voraussetzungen eine Debatte auf Augenhöhe herstellt. Die Beteiligten aus dem globalen Norden sind ja meistens Geldgeber und haben allein dadurch eine stärkere Position in Kooperationen inne. Auch das Erbe der Kolonialzeit wird auf den Weltsozialforen immer wieder diskutiert. Dabei finden sehr wichtige Lernprozesse statt – eben weil man nicht unter Druck steht, zu einem verbindlichen Beschluss zu kommen.
Hat das WSF auf die Dauer globale Gremien wie die Weltbank beeinflusst, die ihr erstes Ziel waren?
Ich glaube schon. Natürlich hat das WSF da Änderungen nicht allein bewirkt. Aber die Vernetzung hat dazu beigetragen, dass die Weltbank und UN-Organisationen heute Gruppen der Zivilgesellschaft viel stärker in die Entscheidungsfindung einbeziehen. Das hat allerdings zwei Seiten. Denn so verschaffen sich globale Organisationen auch mehr Legitimität. Und nichtstaatliche Gruppen schließen bei der Mitwirkung Kompromisse. Da beobachte ich Spannungen zwischen solchen, die sich als Basisbewegungen verstehen, und großen internationalen NGOs, die viel mehr Mittel haben und mehr Kompromisse machen. Im WSF wird regelmäßig die Sorge geäußert, dass der Kontakt zu den Basisbewegungen verloren geht.
Das Gespräch führte Bernd Ludermann.
ZUM WEITERLESEN
Christian Schröder,
Das Weltsozialforum. Auf dem Weg zum globalen politischen Subjekt?
Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 3/2022;
online verfügbar unter:
https://bit.ly/3QfAuFH
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