Sie wollen den Bürgerkrieg in Äthiopien beenden, Somalier vor dem Hungertod bewahren oder chinesische Enthüllungsreporter aus dem Gefängnis holen. Dabei sitzen sie Tausende Kilometer entfernt, in komfortablen Büros in Paris, Brüssel oder New York. Etliche Organisationen leisten wichtige Arbeit, jedoch aus weiter Entfernung zu den Brennpunkten und damit zuweilen weniger glaubwürdig. Der Verein CIVICUS hat deshalb seine Zentrale schon vor zwanzig Jahren nach Südafrika verlegt.
Das Netzwerk mit Sitz in Johannesburg vereint mehr als 13.000 Vertreterinnen und Vertreter der globalen Zivilgesellschaft. Seine Mitglieder reichen von Umweltaktivisten über Hilfsorganisationen und Protestbewegungen bis hin zu Arbeiterverbänden. Bei CIVICUS könne „jeder auf der Welt“ Mitglied werden, sagt CIVICUS-Generalsekretärin Lysa John Berna in Johannesburg. Zuvor prüfe man aber, ob das potenzielle Mitglied dieselben Werte vertrete und sich für zivile Freiheiten einsetze. „Unser zehntausendstes Mitglied war die Nationale Straßenhändlervereinigung Indiens“, sagt sie. Da es sich um keine traditionelle NGO handle, sondern um ein Netzwerk aus informell Arbeitenden, seien die Streiter aus Indien das perfekte Beispiel für die „nächste Generation der Zivilgesellschaft“, die man bei CIVICUS vertrete.
Die Hälfte der CIVICUS-Mitglieder, ob Einzelkämpfer oder Vertreter einer Organisation, ist unter 30. „Unsere Forschung hat gezeigt, dass bei unter 18-Jährigen heutzutage ihr erster Akt von Bürgerbeteiligung mit höherer Wahrscheinlichkeit ist, an einer Demonstration teilzunehmen als zur Wahl zu gehen. Sie protestieren, noch ehe sie wählen dürfen“, erzählt John Berna.
Berichte zur Lage der Zivilgesellschaft
Warum es so wichtig ist, sie zu unterstützen, verrate ein Blick auf den CIVICUS-Monitor: Das Online-Tool greift auf Berichte und eigene Forschungspartner vor Ort zurück, um den Stand der zivilgesellschaftlichen Freiheit zu bewerten. Erfasst werden 197 Länder. Ihr Status, fünfstufig von „frei“ bis „unterdrückt“, bemisst sich mitunter an Vorfällen von Protestauflösungen und Gewalt, Inhaftierung von Bürgerrechtlern und Angriffen auf Journalisten. „Fakt ist, dass 96 Prozent unserer Mitglieder in Staaten leben, in denen der zivile Raum als nicht offen gilt.“ Vielerorts hätten Repression, Zensur und willkürliche Verhaftungen in den vergangenen Jahren zugenommen, meint John Berna. Allerdings sei nicht nur weltweit die Autokratie erstarkt, betont die aus Indien stammende CIVICUS-Chefin. Zugleich hätten Covid-19, die wachsende Ungleichheit oder die MeToo-Bewegung die Zivilgesellschaft weltweit aufleben lassen: Menschen hätten heute ein „besseres Verständnis“ dafür, dass sich globale Probleme nur durch kollektiven Einsatz und Solidarität anpacken lassen.
Autor
Markus Schönherr
ist freier Korrespondent in Kapstadt und berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Magazine aus dem südlichen Afrika.Daneben setzt CIVICUS auf Anwaltschaft. Etwa mit der Kampagne „Stand As My Witness“, mit der die Organisation durch Kampagnen in sozialen Medien und Petitionen die Freilassung politischer Gefangener fordert. Mitglieder, deren Arbeit durch Notstandsgesetze oder staatliche Repression akut bedroht ist, erhalten eine einmalige finanzielle Unterstützung aus dem CIVICUS Krisenbewältigungsfonds. 2017 etwa half CIVICUS einer Organisation in Sambia aus, als die Regierenden des afrikanischen Landes nach Brandanschlägen den Ausnahmezustand verhängten. Auf diese Weise konnten die Bürgerrechtler zusätzlich Polizeieinsätze überwachen und gegen politische Einmischung bei der Staatsanwaltschaft vorgehen.
Johannesburg statt Washington
CIVICUS wurde 1993 in Washington D.C. gegründet. 2002 verlegte die Organisation ihre Zentrale nach Johannesburg. „Verantwortlich dafür war die Erkenntnis, dass CIVICUS vom globalen Süden aus gesteuert und auf dessen Bedürfnisse eingehen musste, um echten Wandel anzustoßen“, sagt Generalsekretärin John Berna. Kurz darauf zog auch die Organisation ActionAid von London nach Johannesburg. Oxfam verlegte sein Hauptquartier 2018 in Kenias Hauptstadt Nairobi. Die Tatsache, dass CIVICUS keine Büros mehr in Washington besitze, habe dem Netzwerk Glaubwürdigkeit unter seinen Mitgliedern verliehen. Diese stammen überwiegend selbst aus Afrika, Lateinamerika und dem asiatisch-pazifischen Raum. Nur knapp über 1000 der 13.000 Mitglieder sind europäisch.
Als Standort bietet Johannesburg einige Vorteile wie schnelles Internet, moderne Autobahnen und öffentlichen Personennahverkehr. Die Stadt ist der brummende Wirtschaftsmotor eines aufstrebenden Schwellenlandes – mit all seinen Problemen. Etwa den häufigen Stromausfällen oder der hohen Kriminalität: „Vor kurzem wurden zwei unserer Kollegen in ihrer Nachbarschaft überfallen. Auf dem Weg zur Arbeit muss man besondere Vorsicht walten lassen“, so John Berna. Darauf reagiere man bei CIVICUS durch flexiblere Arbeitszeiten und vermehrtes Arbeiten von zu Hause aus.
Apropos Homeoffice: 2019 war die frühere UN-Angestellte John Berna die letzte Mitarbeiterin von CIVICUS, die für ihre neue Stelle nach Johannesburg übersiedelte. Heute arbeitet rund die Hälfte der 83 Vollzeit-Angestellten in Homeoffices rund um die Welt. „Einige unserer Kollegen sitzen in Mexiko, Kolumbien, Malaysia, Indonesien oder Uganda“, so John Berna. Das in Johannesburg stationierte Team setze sich aus Südafrikanerinnen und Südafrikanern und einer Handvoll Ausländer zusammen. Bislang habe man mit der globalen und regionalen Zusammenarbeit gute Erfahrungen gemacht.
Das Vermächtnis der Anti-Apartheid-Bewegung
John Berna empfiehlt Südafrika jeder Organisation als Sitz, die sich für globale Gerechtigkeit einsetzen will. Selbst der Sozialarbeiterin mit 30 Jahren Berufserfahrung habe die Arbeit am afrikanischen Südkap „die Augen geöffnet“. Armut, Arbeitslosigkeit, die wirtschaftlichen Folgen der Apartheid – kaum irgendwo auf der Welt seien die Probleme so komplex wie in Südafrika. Zugleich herrsche aber ein grundlegendes Verständnis für Menschenrechte. „Einer der Gründe, weshalb wir hier sind, ist das Vermächtnis von Nelson Mandela und der Anti-Apartheid-Bewegung. In vielen anderen Ländern spricht man heute nicht mehr über Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit, höchstens wenn die Zivilgesellschaft das Thema aufbringt. Aber hier in Südafrika ist es immer noch ein tägliches Gesprächsthema.“
Anders als in Südafrika stößt die Arbeit von CIVICUS an vielen anderen Orten auf Widerstand. Nach Indien dürfe das Netzwerk etwa kein Geld mehr schicken. „Weil wir hartnäckig den Schwund von Bürgerfreiheit kritisieren“, sagt John Berna. In anderen Regionen wie China oder dem Nahen Osten sei es wiederum schwierig, als Organisation Fuß zu fassen oder lokales Personal anzustellen. Dort sei man „unter ständiger Beobachtung“. Umso wichtiger sind für CIVICUS seine beiden Zweigstellen in Genf und New York: „Viele unserer Mitglieder profitieren direkt von dieser Vertretung bei den UN, vor allem, wenn in Genf der Menschenrechtsrat tagt“, so John Berna. Auf diese Weise konnten in der Vergangenheit Mitglieder, die in ihren jeweiligen Ländern von Einschränkungen betroffen sind, etwa Menschenrechtler von den Philippinen, die CIVICUS-Plattform nutzen und ihre Argumente erstmals bei den UN vorbringen.
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