Was könnte das werden? Wir sehen die Wut Zehntausender junger Menschen und ein Nein zum islamistischen, vergreisten Regime, das alle Teile der Gesellschaft erfasst. Jeder kann andocken, geht wegen seines eigenen Leides, seiner eigenen Wut, seinem eigenen Frust auf die Straße. Die Frauen, die federführend sind, aber auch die ethnischen, sprachlichen und religiösen Minderheiten, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten: die Studierenden, Arbeiter, Lehrer, Professoren.
Was sicherlich für einen neuen, einen besseren Iran spricht: Frauen sind in diesem System der Islamischen Republik, das Gender-Apartheid institutionalisiert hat, rechtlich zu Bürgern zweiter Klasse degradiert worden. Und doch haben sie die Bildungsinstitutionen erobert. 65 Prozent der Studierenden sind Frauen. Der Professorinnenanteil beträgt dreißig Prozent. Das birgt Potential für eine bessere Zukunft. Man könnte formulieren, das Regime habe sich sein eigenes Grab geschaufelt, als es Frauen zwar für dumm verkauft hat – rechtlich gesehen. Sie aber hat studieren lassen.
Die Frauenfrage wird jetzt als Teil der Demokratiefrage begriffen
Vor allem hat sich etwas Grundlegendes geändert in den letzten Jahren: Die Frauenfrage wird überhaupt als Teil der Demokratiefrage wahrgenommen. Das ist eine neue Entwicklung; sehr lange galt die rechtliche Benachteiligung von Frauen ausschließlich als ein Problem, das nur Frauen angeht. Bisher gab es kein breites gesellschaftliches Bewusstsein dafür, dass die Unterdrückung der Frauen Teil eines allgemeineren Problems ist. Erst seit einiger Zeit, besonders sichtbar durch die Kampagne im Dezember 2009 „Men in Hijabs“, beginnen Intellektuelle, ihr früheres Verhalten selbstkritisch zu beleuchten. So erklärte Hamid Dabashi, Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University und vermutlich einer der wichtigsten zeitgenössischen iranischen Intellektuellen, erst vor einigen Jahren: „Wir sind ziemlich spät damit, Solidarität zu zeigen. Wenn wir damals Solidarität gezeigt hätten, als man unseren Schwestern den Hijab nach der Islamischen Revolution aufzwang, wären wir nicht da, wo wir heute sind.“
Obschon auch von iranischen Frauenrechtlerinnen immer und sicher zu Recht betont wurde, die Frauen hätten wichtigere Probleme als das Kopftuch, wohnt dem Kopftuch wegen seiner Geschichte eben doch ein nicht zu unterschätzender Symbolgehalt inne. Das Kopftuch ist ein wesentlicher Teil der Geschichte des Iran von Unterdrückung und Missachtung der Bürgerrechte durch die Staatsgewalt.
Im iranischen Diskurs war dieser Zusammenhang jedoch quasi unbeachtet. Betrachtet man die Schriften derjenigen Reformer, die sich in den letzten Jahren an vorderster Front für die Demokratie engagiert haben, ist diese Leerstelle augenfällig. Die meisten Reformdenker, egal ob religiös oder säkular orientiert, hielten sich bei diesem Thema zurück.
Auch liberale Männer wollen, dass Frauen sich zu Hause unterordnen
Zwar haben Frauen durchaus gegen diese Haltung protestiert: Es könne keine Prioritätenskala geben, auf der sich dann die Frauenrechte womöglich unterhalb der Demokratiefrage einsortiert fänden. Ungeachtet dieser Kritik blieb es trotzdem lange in diesem männlich dominierten Diskurs gang und gäbe, Gender-Fragen ausschließlich dem Bereich der Rechtswissenschaft, feqh, zuzuweisen. Feqh jedoch wurde von Reformdenkern nicht als das Feld angesehen, in dem Neuauslegung vorangetrieben werden müsse. So wurde Gender nicht nur als ein Bereich betrachtet, der nicht so wichtig ist, dass er behandelt werden müsse, sondern man nahm zudem an, Gender-Fragen würden sich – im durchaus positiven Sinne – in Luft auflösen, wenn die reformerische Agenda erst einmal in die Praxis umgesetzt würde.
Hinzu kommt: Frauen haben im Iran eben nicht nur mit dem Rechtssystem zu kämpfen, sondern genauso zu Hause. Von außen kommend, ist man immer wieder erstaunt zu sehen, dass längst nicht nur konservative Männer ihren Frauen die elementarsten Rechte verweigern, beispielsweise das Recht auf Scheidung oder das Recht, das Land zu verlassen. Theoretisch könnte man das iranische Gesetz, das es Frauen fast unmöglich macht, sich scheiden zu lassen, durchaus umgehen. Der Ehemann kann seiner zukünftigen Frau vor der Ehe ein Scheidungsrecht einräumen und dieses im Ehevertrag, der ohnehin immer abgeschlossen wird, festschreiben. Aber das geschieht äußerst selten. Auch Männer, die aus liberalen, aufgeklärten Familien kommen, keine besondere Empfänglichkeit für den konservativen Islam zeigen und immer wieder die Reformdenker des Iran zitieren, wenn es um das Thema Demokratie im Islam geht, bestehen hier auf den Rechten, die ihnen das Rechtssystem gibt. Es fragt sich, was von einem Arbeiter aus dem Teheraner Süden zu erwarten ist, wenn nicht einmal der Philosophieprofessor, Arzt oder Anwalt sich aus den angestammten patriarchalischen Strukturen lösen kann. Fast genau so sehr wie ein rechtliches oder ein religiöses Problem ist der Mangel an Frauenrechten im Iran immer ein kulturelles gewesen. Vielleicht hat sich da ja jetzt etwas getan.
Es geht auch um die Entkriminalisierung von Homosexualität
Viele fragen sich natürlich, was dort gerade genau passiert. Wir sind Zeuge wovon? Einer Revolution? Eines Aufstands? Einem feministischen? Einem anti-islamischen? Ich würde sagen: Was wir beobachten, hat inzwischen mindestens das Stadium eines revolutionären Prozesses erreicht. Was wir im Iran sehen, ist zudem feministisch und nicht grundsätzlich anti-islamisch, aber post-islamistisch. Schließlich geht es ja beim Feminismus nicht darum, Frauen statt Männer an die Macht zu bringen. Es geht um Selbstbestimmung für alle. Und im Kopftuchzwang sehen die heute Demonstrierenden symbolisch die staatliche Verweigerung, ihnen Selbstbestimmung zuzugestehen.
Diese Selbstbestimmung bezieht sich aber auf viel mehr als „nur“ auf das Recht, sich zu kleiden, wie man möchte: Es geht für die fünfzig Prozent der Iraner, deren Muttersprache nicht Persisch ist, darum, ihre Muttersprache in der Schule lernen zu dürfen. Es geht für Lesben und Schwule darum, ihre sexuelle Orientierung frei zeigen zu können, und die Entkriminalisierung der Homosexualität im Hinblick auf die Gesetze. Es geht für die Bahais darum, ihre Religion überhaupt ausüben zu können. Es geht für Juden und Christen darum, als Angehörige einer religiösen Minderheit vollkommen gleichberechtigt zu sein – und so weiter.
Das Kopftuch steht dabei symbolhaft für all dies und deshalb reißen sich jetzt die jungen Mädchen ihre Kopftücher vom Kopf. Paradoxerweise ist das Kopftuch schon einmal das Symbol schlechthin für einen Systemwechsel gewesen, nämlich für den, der 1978/79 in Iran stattfand. Und das könnte es auch jetzt wieder sein.
Das Kopftuch zu tragen, war das Symbol der Revolte gegen den Schah
Das Kopftuch ist ganz eng verwoben mit der Geschichte der Emanzipation im Iran, im Sinne einer Befreiung von Bevormundung – und zwar nicht erst seit 1978, dem Jahr der letzten iranischen Revolution im 20. Jahrhundert. Denn 1936 verbot Reza Schah das Kopftuch. Dieser Schah wollte sein Land mit allen Mitteln modernisieren, auch äußerlich. Deshalb wurde den Frauen untersagt, ein Kopftuch zu tragen.
Autorin
Katajun Amirpur
ist Professorin für Islamwissenschaft an der Universität zu Köln. Sie forscht zum Iran und iranisch geprägten Kulturen und Gesellschaften und will Grundlagen und Argumente für die kritische Bewertung aktueller Entwicklungen zur Verfügung stellen. Regelmäßig schreibt sie für große Zeitungen und Zeitschriften.Frauen spielten somit eine entscheidende Rolle beim Sturz des Schah-Regimes. Die Frauenrechtlerin Parvaneh Eskandari, die 1998 von Schergen des islamistischen Regimes ermordet wurde, sagte einmal diese Sätze, die verwundern mögen angesichts der rechtlichen Situation von Frauen unter dem jetzigen Regime: „Die Frauen haben die gleiche Rolle gespielt wie die Männer. Aber man darf nicht vergessen, dass die Frauen in der Schah-Zeit größere Einschränkungen hatten. In der Religion sahen sie einen Weg, ihre Einschränkungen zu überwinden.“
Islamisten werden an dem Stückchen Stoff festhalten
Revolutionsführer Khomeini hatte Freiheit in allen Bereichen versprochen. Doch was folgte, war eine Wiederholung der Geschichte. Unter umgekehrten Vorzeichen allerdings. Das Kopftuch wurde Pflicht. Drei Herrscher, eine Maxime: Wir schreiben den Frauen vor, wie sie sich kleiden müssen, verwehren ihnen Selbstbestimmung.
Doch anhand des Kopftuches lässt sich nicht nur iranische Geschichte schreiben. Es ist auch das Symbol schlechthin für das heutige System. Es gibt wohl nur drei ideologische Pfeiler, die Iran zur Islamischen Republik machen. Zwei von ihnen, die iranische Staatsdoktrin und der Anti-Amerikanismus, wurden seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre immer stärker hinterfragt. Und dann gibt es noch das Kopftuch. Nicht zu Unrecht assoziiert der Westen mit dem Iran immer zuerst das Kopftuch. Aber deshalb werden die Islamisten auch so lange wie irgend möglich an dem Stückchen Stoff festhalten. Die Frauenrechtlerin Mehrangiz Kar nannte einmal eine naheliegende Begründung dafür, als sie sagte, dass islamische Herrschaftssysteme mit der Unterdrückung der Frau begännen: „Sie wählen damit die schwächsten Opfer, um eine Atmosphäre der Furcht zu schaffen. Wenn Angst herrscht, dann fürchten sich alle und die Herrschenden können ihre Macht stabilisieren. Es ist doch nicht vorstellbar, dass die Hälfte der Menschen in Angst lebt und zugleich die Bevölkerung als Ganze sich selbstbewusst mit den politischen Problemen auseinandersetzt.“
Der Iran ist bereits eine post-islamistische Gesellschaft
Diese Angst ist inzwischen bei vielen weg. Diese ganz junge Generation hat es so satt, gegängelt, gemaßregelt, kontrolliert zu werden, dass sie jetzt hingeht und zurückschlägt, wenn die Schergen des Regimes auf sie einprügeln. Das sieht man derzeit auf vielen Videos, die über die sozialen Medien verbreitet werden, und es ist neu. Es ist ein bisher so nicht gesehener Mut und Zusammenhalt, der sich in diesem Kampf für Selbstbestimmung zeigt. Deshalb ist das, was wir jetzt sehen, feministisch.
Und es ist nicht grundsätzlich anti-islamisch. Aber es ist anti-islamisch in dem Sinne, als es das islamistische System des Iran zurückweist, also den Islam, den sich die iranischen Machthaber zusammengebastelt haben, um das iranische Volk zu drangsalieren. Diese nennen das, was sie dort praktizieren, den „reinen mohammedanischen Islam“. Wenn sie das tun, ist es ja nicht verwunderlich, dass Proteste, die sich dagegen richten, in diesem Sinne natürlich auch anti-islamisch sind, aber nicht in einem grundsätzlichen Sinne. Was wir hier vielmehr sehen, ist eine post-islamistische Bewegung.
Schon lange ist die heutige iranische Gesellschaft post-islamistisch. Eben weil im Iran das erste islamistische Experiment in der Region praktiziert worden ist. Die zentrale Aussage aller Islamisten weltweit ist: „Al-Islam huwa al-hall“, der Islam ist die Lösung. Islamismus meint in diesem Sinne die Ideologisierung des Islam, die Ineinssetzung von Staat und Islam. Iraner gehen heute auf die Straße, um dem eine Absage zu erteilen. Nach über vierzig Jahren real erlebtem Islamismus sagen sie heute: der Islam ist nicht die Lösung, er ist Teil des Problems. Das meine ich mit Post-Islamismus.
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