Wenn sich zivilgesellschaftliche Organisationen und Protestbewegungen transnational vernetzen, halten die meisten das erst einmal für etwas Gutes: Protest bedeutet, dass Bürgerinnen und Bürger aktiv und kritisch sind; Zusammenarbeit über konfessionelle, religiöse, sprachliche, nationale und kulturelle Grenzen hinweg beweist, dass Werte und Inhalte mehr zählen als Herkunft und nationale Interessen. Transnationale Vernetzung und Zusammenarbeit wird oft mit universalen Werten und Menschenrechten in Verbindung gebracht. Aber die Gegner dieser Werte vernetzen sich ebenfalls transnational, und auch unter ihnen sind nichtstaatliche Organisationen.
Die Bewegung für LGBTQI-Rechte steht beispielhaft dafür, wie Mobilisierung über Ländergrenzen hinweg helfen kann, hartnäckige Vorurteile und Diskriminierungen in verschiedenen politischen Kontexten abzubauen und die Lage von benachteiligten Menschen zu verbessern. Organisationen, die gegen die Diskriminierung aufgrund von Geschlecht und sexueller Orientierung kämpfen, haben seit Beginn der 1990er Jahre weltweit große Erfolge gefeiert. Eine einstmals als radikal geltende Idee – die Ehe für gleichgeschlechtliche Partnerinnen und Partner – war vor 2000 in keinem Land der Welt rechtlich verankert. Heute hingegen können homosexuelle Menschen in über zwei Dutzend Ländern der Welt heiraten; noch mehr Länder erkennen gleichgeschlechtliche eingetragene Partnerschaften an.
Wie war dieser rasche Wandel möglich? In liberalen Demokratien liegt die Gesetzgebung weitgehend in der Hand von demokratisch gewählten Parlamenten und von Verfassungsgerichten, die darüber wachen, dass Gesetze internationalen Menschenrechtsstandards genügen. Auf diese Instanzen wirken drei Faktoren ein, die in der Forschung als „samtenes Dreieck“ bezeichnet werden: erstens die transnationale Mobilisierung der LGBTI-Bewegung, zweitens die Entscheidungen progressiver Regierungen in einigen Pionierländern und drittens Fortschritte bei Menschenrechtsdefinitionen in internationalen Organisationen. Das Zusammenspiel zwischen diesen Kräften erklärt die raschen Änderungen etwa bei der „Ehe für alle“.
Verstoß gegen „traditionelle Werte“
Doch mit dem wachsenden Erfolg der LGBTQI-Bewegung ist auch der Widerstand dagegen gewachsen. Er kommt in erster Linie von konservativen religiösen Kräften, die in Gender-Gleichberechtigung einen Verstoß gegen die „natürliche Ordnung“ und gegen „traditionelle Werte“ sehen. Ihre Kritik richtet sich gegen die LGBTQI-Bewegung selbst, die als eine Lobby dargestellt wird. Zugleich richtet sie sich gegen den weltanschaulich neutralen, säkularen und liberalen demokratischen Staat, der Gesetzesänderungen in gesellschaftspolitisch sensiblen Bereichen überhaupt erst möglich macht. In Ländern des globalen Südens sowie in Osteuropa und Russland bringen rechte Politiker und Aktivisten gerne das Argument vor, Gleichberechtigung in Fragen der sexuellen Orientierung und Gender-Identität seien eine westliche Ideologie, die traditionelle Gesellschaftsstrukturen zerstören solle. In Russland werden Menschen und NGOs, die sich für liberale Werte, Demokratie und Menschenrechte einsetzen, sogar als „ausländische Agenten“ verfolgt.
Rechtsorientierte und moralkonservative Gruppen vernetzen sich zunehmend auf die gleiche Art und Weise transnational, wie sie das der von ihnen kritisierten „Gender-Lobby“ vorwerfen. Sie organisieren sich über Kultur-, Länder- und Konfessionsgrenzen hinweg mit dem Ziel, internationale Organisationen sowie nationale Parlamente, Regierungen und andere Institutionen in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Die Grundlage der rechten transnationalen Netzwerke ist ein geteilter Wertekanon rund um konservative Familienwerte, Ablehnung von Homosexualität und Gender-Identität und die Einschränkung der sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmung von Frauen und Mädchen. Religion spielt eine zentrale Rolle für die Definition „traditioneller Werte“, denn Moralkonservative fühlen sich allerorts von liberalen und demokratischen Werten in ihrer Religionsfreiheit bedroht. In diesen Netzwerken spielen konservative evangelikale, protestantische, katholische und orthodoxe Gruppen und Kirchen eine zentrale Rolle und kooperieren dabei häufig mit jüdischen Aktivisten und Partnerorganisationen in islamischen Ländern.
Die Rolle der US-amerikanischen religiösen Rechten
Diese „Ökumene der Schützengräben“ ist ein Kind der US-amerikanischen „Kulturkriege“ der 1980er Jahre. In den Vereinigten Staaten bezeichnen beide Begriffe Konflikte zwischen progressiven und konservativen Positionen, mitunter innerhalb ein und derselben Konfession. Die US-amerikanische religiöse Rechte, zu der evangelikale und protestantische Kirchen, Pfingstkirchen sowie katholische Gruppierungen ebenso gehören wie Mormonen, hat sich immer schon als konfessionsübergreifend verstanden und bezeichnet sich deshalb als „ökumenisch“. Dabei verbindet die Partner nicht so sehr die Suche nach christlicher Einheit, sondern vielmehr der gemeinsame Feind: die modernisierte, säkulare Gesellschaft mit ihren pluralistischen Werten.
Die konservativen Werteallianzen nach dem Vorbild der US-amerikanischen christlichen Rechten haben sich von den USA in den globalen Süden, nach Europa und nach Russland ausgebreitet. Eine zentrale Rolle für ihre Vernetzung spielen persönliche Kontakte ebenso wie das Internet. So fördert die International Organisation for the Family mit Sitz in den USA persönliche Kontakte zwischen moralkonservativen Gruppen und Aktivistinnen und Aktivisten. Seit mehr als zwanzig Jahren veranstaltet sie den World Congress of Families, 1997 etwa in Prag, 2004 in Mexico City, 2013 in Sydney und 2017 in Budapest, um nur einige Orte zu nennen. Die Organisation bringt konservative Aktivisten aus aller Welt zusammen und versucht, die Unterstützung von Staaten und politischen Kräften zu gewinnen und auszubauen. Zudem fördert sie lokale Partnerorganisationen in Europa, Russland, Afrika und Lateinamerika.
Wir haben im Rahmen unserer Forschung an einigen dieser Treffen teilgenommen und festgestellt, dass die persönliche Vernetzung der Aktivistinnen und Aktivisten mittels internationaler Kongresse eine wichtige Funktion für die Verbreitung der moralkonservativen Agenda hat. Die Teilnehmenden werden aufgefordert, im eigenen Land die Basis für ihre Forderungen zu erweitern, religiöse Menschen aller Konfessionen anzusprechen und sich um die Unterstützung prominenter Persönlichkeiten aus Politik, Religion und Medien zu bemühen. Indem lokale Partner ermuntert werden, neue Mitglieder zu rekrutieren und Aktivisten und Führungskräfte auszubilden, trägt die International Organisation for the Family zum Ausbau eines transnationalen konservativen Netzwerks bei und beschleunigt die Gründung neuer Organisationen. In Russland etwa hat sie die Gründung von mindestens vier lokalen Organisationen inspiriert, die sich für traditionelle Familienwerte und gegen Abtreibung einsetzen.
Transnationale Mobilisierung rund um moralkonservative Themen
Autoren
Phillip Ayoub
ist Professor für Politikwissenschaft am University College London. Er ist Autor von „Das Coming-out der Staaten. Europas sexuelle Minderheiten und die Politik der Sichtbarkeit“ (Transcript 2017).Kristina Stoeckl
ist Professorin für Soziologie an der Universität Innsbruck und LUISS Rom. Zusammen mit Dmitry Uzlaner hat sie das Buch „Moralist International. Russia in the Global Culture Wars“ verfasst. Von ihr und Phillip Ayoub erscheint 2024 das Buch „Global Resistances against LGBTI Rights“ (New York University Press).Neben persönlichen Kontakten spielt die digitale Vernetzung eine wichtige Rolle für die transnationale Mobilisierung rund um moralkonservative Themen. Die internationale Kampagnenplattform CitizenGo, 2013 von einem spanischen Anti-Abtreibungsaktivisten gegründet, zeigt, wie das funktioniert. CitizenGo gibt es in Englisch, Spanisch, Französisch, Portugiesisch, Italienisch, Deutsch, Polnisch, Kroatisch, Ungarisch, Niederländisch und Slowakisch (die russischsprachige Website wurde im Frühjahr 2022 abgeschaltet, vermutlich um angesichts des russischen Kriegs gegen die Ukraine die Verbindung der Gruppe mit russischen Partnern zu verschleiern). Auf der Plattform finden sich zwei Arten von Artikeln und Petitionen: solche, die übersetzt und auf allen Websites gleichzeitig veröffentlicht werden, und solche, die nur in einer Sprache auf einen bestimmten nationalen Kontext ausgerichtet sind.
Die Kampagnen befassen sich mit Themen von Abtreibung über die gleichgeschlechtliche Ehe bis hin zu Transgender-Rechten, reproduktiven Rechten und Religionsfreiheit. Eine von besonders vielen Unterstützern unterzeichnete Petition wandte sich zum Beispiel gegen „LGBTQ-Indoktrination durch LEGO“, weil der beliebte Spielwarenhersteller ein Bausteine-Set in Regenbogenfarben auf den Markt gebracht hatte. Auf CitizenGo werden moralkonservative Anliegen über Grenzen und sprachliche Kontexte hinweg verbreitet.
Nationale Eigenständigkeit wird nur behauptet
Die transnationale Vernetzung von rechtsorientierten und moralkonservativen Gruppierungen und Aktivisten entlarvt das von diesen Gruppen selbst transportierte Bild, man stehe für Traditionalismus und nationale Eigenständigkeit, als eine Lüge. Diese Gruppen sind ähnlich global vernetzt wie liberale NGOs; ihre Programmatik nimmt Anleihen bei den klassischen Themen des protestantischen religiösen Konservatismus US-amerikanischer Prägung.
Das wird besonders im Fall der Russischen Orthodoxen Kirche sichtbar. Diese nutzt die Themen der globalen Kulturkriege, um sich als Bollwerk gegen den Westen zu präsentieren. Russische Konservative greifen zum Beispiel häufig auf sogenannte Verderbtheitsgeschichten – englisch „depravity-stories“ – zurück; geprägt hat diesen Begriff die US-amerikanische Soziologin Janice Irvine. Gemeint sind Berichte über angeblich katastrophale Auswirkungen der gesellschaftlichen Liberalisierung im Westen – über homosexuelle Paare etwa, die Jungen adoptieren und sie angeblich als Mädchen erziehen; über Regierungen in europäischen Ländern, die angeblich die Begriffe „Mutter“ und „Vater“ durch „Eltern 1“ und „Eltern 2“ ersetzen wollen; oder darüber, wie sexuelle Aufklärung Kinder korrumpiert und sie auf den Weg des zügellosen Sexualverhaltens bringt.
Einem breiteren Publikum im Westen ist erst durch die Kriegspredigten des Patriarchen Kyrill und die Ansprachen von Präsident Putin in den vergangenen Monaten ins Bewusstsein gerückt, wie in Russland solche Motive ausgeschlachtet werden. Dabei dominieren sie dort bereits seit Jahren die antiwestliche Propaganda. Auch in anderen Ländern sind solche Geschichten in konservativen Milieus im Umlauf, einige schon sehr lange.
Konservative Werteagenda über alle Grenzen hinweg
Das hat Folgen. Seit Jahren wird in Russland etwa kontrovers über häusliche Gewalt diskutiert. Dass Gewalt in den Familien ein reales Problem in der russischen Gesellschaft ist, bestreitet nicht einmal die Russische Orthodoxe Kirche, die in einigen Regionen sogar Schutzzentren für Frauen und Kinder betreibt. Doch die Kirchenobrigkeit und orthodoxe Aktivisten lehnen vehement den Begriff „häusliche Gewalt“ ab. Das Moskauer Patriarchat stemmte sich 2019 gegen einen Gesetzesentwurf zur Eindämmung häuslicher Gewalt, weil dieser Begriff Russland vom Westen aufgedrängt werde und ein Einfallstor für Gesetze werden könnte, die Familien zerstören. Bulgarien hat 2021 die Ratifizierung der Istanbul-Konvention des Europarats gegen häusliche Gewalt verweigert, weil sich diese Sichtweise in orthodoxen Milieus durchgesetzt hat. Ähnlich bedrohliche Folgen transnationaler moralkonservativer Mobilisierung lassen sich in Afrika beobachten, wo die Verfolgung Homosexueller aufgrund der Lobby-Arbeit von rechten christlichen Gruppierungen zugenommen hat.
Die transnationale Vernetzung von Zivilgesellschaft und Protestbewegungen ist kein Alleinstellungsmerkmal progressiver, demokratischer und liberaler Bewegungen. Auch rechtsorientierte und moralkonservative Gruppen arbeiten über konfessionelle, religiöse, sprachliche, nationale und kulturelle Grenzen hinweg zusammen. Sie schaffen damit eine transnationale konservative Werteagenda, die in vielen Ländern von politischen Kräften genutzt wird, um eine antiliberale und populistische Politik voranzutreiben.
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