Aufbegehren ist ansteckend

Javier Mamani/EPA/picture alliance
Sie lassen sich nicht mundtot machen: Mitglieder ziviler Organi­sationen verlangen Anfang 2023 in Bolivien, den Oppositionsführer Luis Fernando Camacho aus der Vorbeugehaft zu entlassen.
Oppositionsbewegungen
Dass Protestbewegungen oft in Form weltweiter „Wellen“ auftreten, ist kein Zufall: Protestierende reagieren von jeher auf Entwicklungen in anderen Staaten – heute weniger organisiert als früher. 

Schon die haitische Revolution 1791 beflügelte Sklavereigegner weltweit und beeinflusste Revolutionäre wie den venezolanischen Freiheitskämpfer Simon Bolivar. Das lag auch daran, dass revolutionäre Republiken wie Haiti und kurze Zeit später Frankreich ähnlich gesinnte Bewegungen beispielsweise finanziell oder durch Asyl für verfolgte Oppositionelle unterstützten. Aber auch ohne direkte staatliche Förderung verständigten und inspirierten sich Arbeitende, Nationalisten und Feministinnen über Ländergrenzen hinweg.

So provozierend wie inspirierend: Die irische Vorkämpferin der Suffragetten Charlotte Despard hält 1935 im Alter von 89 Jahren eine Rede auf dem Trafalgar Square in London.
Die Suffragetten etwa, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Großbritannien ebenso wie in den USA für ein Frauenwahlrecht einsetzten, und die Arbeiterbewegung, die sich von Anfang an international organisierte, lernten von Erfolgen in anderen Ländern. Einen Höhepunkt im 19. Jahrhundert stellten die europäischen Revolutionen 1848 dar, die in den deutschen Staaten, im geteilten Polen und Italien für weitreichende Reformen und Umwälzungen sorgten. 

In anderen Teilen der Welt richteten sich Protestbewegungen gegen europäische Herrschaft. Dekoloniale Bewegungen im 20. Jahrhundert waren von Anfang an global ausgerichtet, weil sie sich gegen weltumspannende Kolonialreiche richteten. Mahatma Gandhis Aktivismus für die indische Unabhängigkeit war geprägt von seiner Zeit in Südafrika, wo er sich gegen die Diskriminierung von Indern engagierte. Später ließ sich wiederum der südafrikanische Anti-Apartheid-Aktivist Nelson Mandela von Gandhis Erfolg in Indien inspirieren. Die friedlichen Revolutionen in der ehemaligen Sowjetunion zeigten wiederum in den 1990ern, dass selbst vermeintlich stabile Autokratien innerhalb kurzer Zeit zusammenbrechen können und dass Zivilgesellschaften trotz umfassender Überwachungs- und Repressionsapparate in der Lage sind, den Staat herauszufordern. Sie haben damit weltweit Demokratiebewegungen inspiriert.

Die damals 15-jährige Klimaschutz-Aktivistin Greta Thunberg im Jahr 2018 in Schweden. Die von ihr angestoßenen „Schulstreiks für das Klima“ (so das Schild) haben weltweit Nachahmung gefunden.

Kein Wunder also, dass autoritäre Machthaber damals wie heute vor allem auf die Zivilgesellschaft und die mit ihr assoziierte Mittelschicht schauten. Ihre Repressionsapparate richteten sich besonders gegen solche landesweit aktiven Organisationen und deren Organisationsstrukturen. So ist beispielsweise die Anti-NGO-Gesetzgebung in Ungarn, Ägypten oder Israel zu verstehen, die gezielt Kritik aus der Zivilgesellschaft unterdrücken und deren Ausbreitung durch Zensur im Internet verhindern will. Längst sind digitale Räume nicht mehr freie Räume wie zu Beginn der Digitalisierung. Stattdessen sind sie oft Überwachung und Zensur unterworfen und von der Strafverfolgung dissidenter Meinungen geprägt – so momentan in Russland und erst recht in China, wo das Regime das Internet nahezu vollständig vom Rest der Welt entkoppelt hat. 

Vermeintlich private Räume werden zum politischen Raum

Wo Unmut nicht in realen oder digitalen Räumen geäußert werden kann, wandert er in andere Bereiche der Gesellschaft ab. Vermeintlich private Räume übernehmen die Funktion der „klassischen“ Zivilgesellschaft – nach der Schließung von Parteien wird der Kegelverein zum politischen Raum. Dissidenten tauschen sich in privateren Räumen aus, je restriktiver öffentliche Räume werden – Protestbewegungen entstehen so aus Vereinen heraus im ländlichen Raum, also dort, wo der Staat und seine Sicherheitsbehörden weniger präsent sind.

Auch deswegen überraschen die Protestbewegungen des sogenannten Arabischen Frühlings viele: Dass es keine lautstark artikulierte Oppositionsbewegung gab, lag eher daran, dass formell organisierte Massenbewegungen verboten waren, und nicht daran, dass der Unmut verschwunden war. Wie groß dieser war, zeigte sich dann in den 2010er Jahren eindrucksvoll: Zahlreiche Machthaber wie Mubarak, Gaddafi und Ben Ali wurden aus dem Amt gedrängt, obwohl sie zuvor jahrzehntelang an der Macht waren. 

Autor

Tareq Sydiq

ist Politikwissenschaftler und Protestforscher am Zentrum für Konfliktforschung in Marburg. Er arbeitet zu Protestbewegungen in autoritären Kontexten mit einem Schwerpunkt auf Protest in Asien und im globalen Süden.

Diese Proteste kehrten auch nach ihrer Niederschlagung durch die neuen Regierungen zurück und gipfelten 2019, als die Menschen in so unterschiedlichen Ländern wie Chile, Algerien und Indien auf die Straße gingen. Bemerkenswert ist dabei, dass sich die Protestbewegungen vor allem im globalen Süden und in Autokratien mehr und mehr dezentral und ohne Führungskräfte formierten – um gezielt Repressionen zu unterlaufen. Sie reagieren damit auf die sich weiterentwickelnde Repression des jeweiligen Staates, in einer Art gegenseitigem Wettlauf. Gerade deswegen brechen Proteste häufig eben dort aus, wo man es wegen der starken Repressionen nicht vermutet hätte. Denn Protestierende sind darauf angewiesen, sich unerwartete und damit schlechter unterdrückbare Taktiken anzueignen.

Nach der Pandemie flammten Proteste schnell wieder auf

Diese allgemeine Protestwelle ließ während der Covid-Pandemie nur kurzzeitig nach. Dann flammten die Proteste in vielen Ländern schnell wieder auf und halten teils bis heute an – wie etwa im Sudan, wo sich die Revolution von 2019 weiter fortsetzt und sich der Druck auf der Straße stetig erneuert. Selbst während der Pandemie organisierten sich Protestbewegungen vor Ort weiter, teilweise in der Nachbarschaftshilfe gegen die Pandemiepolitik der jeweiligen Regierungen. 

Dies setzte sich 2022 fort. Zudem verschlechtert der russische Angriffskrieg auf die Ukraine die wirtschaftliche Lage – und mit den Preisen für Lebensmittel und Benzin steigt auch das Potenzial für Proteste. Vor allem dort, wo sie auf durch die Pandemie geschwächte Regierungen und Wirtschaften treffen, die die Folgen kaum abfedern können. 

Für einen weltweiten Blick auf die Entwicklung von Protestbewegungen ist zunächst eine Begriffsschärfung erforderlich. Das ist keine rein akademische Präzision, vielmehr versperren manche Definitionen den Blick auf Protestbewegungen, welche insbesondere im globalen Süden vorherrschend sind und schnell „wegdefiniert“ werden können. Was wir unter Protestbewegungen verstehen, ist nämlich stark von europäischer Politik und europäischen Verständnissen geprägt. So kommt etwa in Deutschland kaum eine Debatte um Proteste ohne Vergleiche mit den „1968ern“ und auch den Demokratiebewegungen in der Sowjetunion und der DDR aus. Das prägt, denn bei diesen Beispielen liegt es nahe, soziale Bewegungen sprachlich mit Zivilgesellschaften und diese wiederum mit Protestbewegungen gleichzusetzen. Das versperrt aber den Blick auf Protestbewegungen außerhalb Europas.

Martin Luther King während seiner Rede „Ich habe einen Traum“ im August 1963 in Washington D.C. Die Bewegung gegen Rassismus hat ein weiteres Vorbild für gewaltfreien Widerstand geliefert.

Denn gerade in autoritär regierten Gesellschaften können Protestbewegungen nicht auf bestehende Organisationen und zivilgesellschaftliche Strukturen zurückgreifen. Da jeder Versuch einer Organisation früher oder später von Repressionen betroffen ist, sind Protestbewegungen hier häufig unabhängig von zivilgesellschaftlicher Organisation und flüchtiger – aber sicherlich nicht weniger wirkmächtig: Ihre Organisationen entstehen oftmals aus Protesten heraus und formieren sich erst später. So werden aus Protestbewegungen, die sich koordinieren, soziale Bewegungen, aus denen heraus wiederum eine Zivilgesellschaft mit festen Organisationen entstehen kann.

Dritte Welle der Demokratisierung ab Ende der 1970er

Dass Zivilgesellschaften für die Artikulation von Widerstand gegen autoritäre Herrschaft eine besondere Rolle spielen, hat dabei einen wahren Kern, der in den Demokratiebewegungen Ende der 1970er bis Anfang der 1990er Jahre deutlich wurde. Diese teils als Dritte Welle der Demokratisierung – nach denen des 19. Jahrhunderts und nach dem Zweiten Weltkrieg – bekannt gewordene Periode umfasste weltweite Transformationen. Dazu zählen der Übergang zur Demokratie in Spanien und Portugal ebenso wie die friedlichen Revolutionen in Osteuropa, das Ende der Apartheid in Südafrika und der Militärdiktatur in Südkorea sowie Demokratiebewegungen in Lateinamerika. Häufig stützte gerade die verfasste Zivilgesellschaft in Form von Gewerkschaften, Kirchen oder Menschenrechtsorganisationen die Protestbewegungen und kämpfte teilweise erfolgreich für politischen Wandel.

Bekanntestes Beispiel ist die polnische Gewerkschaft Solidarność, die wesentlich zum Sturz der kommunistischen Regierung 1989 beitrug. Eine ähnlich zentrale Rolle spielte die tunesische Gewerkschaft UGTT bei der Jasminrevolution 2011, als sie gemeinsam mit drei anderen Organisationen im Quartett für nationalen Dialog den Übergang zur Demokratie begleitete. Solche zivilgesellschaftlichen Organisationen erfordern aber auch Ressourcen wie Mitgliedsbeiträge, Büros und teils professionalisierte Arbeit – Ressourcen, die insbesondere die Mittelschicht aufbringen kann. Denn wer von der Hand in den Mund lebt, kann auch nichts beiseitelegen für politische Projekte. Hunger und Armut können zwar Proteste erzeugen, sie erschweren aber die Entwicklung politischer Strukturen, die für eine koordinierte Zivilgesellschaft notwendig sind.

Obwohl diese Erkenntnis grundsätzlich weiter gilt, wird sie relativiert durch Protestbewegungen, die auch ohne zivilgesellschaftliche Strukturen und Organisationen operieren. Der Fokus auf Zivilgesellschaften, der in den 1990ern das Verständnis von Protestbewegungen prägte, lässt sich angesichts prekärer Protestbewegungen so nicht halten. Das Protestpotenzial der Peripherie, des Prekariats, wird schnell unterschätzt, wenn man von Europa aus darauf blickt. Wer aus der Erfahrung mit der oben geschilderten Demokratiebewegung heraus nach Protestpotenzialen sucht, blickt schnell auf die Mittelschicht – und auf die Privatwirtschaft, aus der diese ihre Kraft bezieht. Wer aus linker Sicht danach sucht, schaut vermutlich vor allem auf Gewerkschaften und Betriebe, wo Arbeitskräfte sich organisieren und politisieren können. Gerade in den ärmsten Ländern gehört ein bedeutender Teil der Bevölkerung aber weder zur Mittelschicht, noch arbeitet er in Betrieben. Ein Großteil der Bevölkerung lebt vielmehr von Subsistenzlandwirtschaft sowie als mittelloses Prekariat. Die Politisierung dieser Menschen findet an anderen Orten statt, oft fern jeder öffentlichen Aufmerksamkeit, nämlich im Privaten und der politischen Peripherie.

Protestbewegungen mobilisieren auch ohne Führungsfiguren

Für diese neuen Protestbewegungen gibt es aber nicht nur strukturelle Gründe wie die staatliche Repression und ihre sozio-ökonomische Situation. Längst haben Protestierende neue Organisationsformen gefunden und aus gescheiterten Protesten 2010/11 gelernt. In Algerien und Sudan beispielsweise gaben sich Protestierende nicht mit dem Rücktritt des Regierungschefs zufrieden, sondern mobilisierten über Monate weiter, teils bis heute – um nicht mit oberflächlichen personellen Veränderungen abgespeist zu werden. Und immer häufiger schaffen es dezentrale Protestbewegungen auch, ohne Führungsfiguren Massen zu mobilisieren. Vorreiter hierbei ist die Demokratiebewegung in Hongkong, die sich über ein Online-Handbuch im Internet organisierte und beispielsweise verbreitete, welche Ausrüstung Demonstrierende mitbringen müssten. Über eine App konnten Protestierende wiederum Bewegungen der Polizeieinheiten melden – Aufgaben, die üblicherweise Organisationen und Führungspersonen übernehmen.

Polizisten stellen sich Anfang 2011 in Tunesiens Hauptstadt Tunis einer Demonstration entgegen, die echte Demokratie verlangt.
Protestierende reagieren damit auf weltweit zunehmende Repressionskapazitäten. Auch infolge der weltweiten Protestwellen 2010/11, insbesondere während des sogenannten Arabischen Frühlings, suchten Staaten nach Wegen, Oppositionelle stärker zu kontrollieren. Es entstanden Überwachungsapparate, die zuvor undenkbar gewesen waren. So operiert das chinesische Internet weitgehend getrennt vom weltweiten Netz und wird von der Regierung scharf zensiert. Ebenso gingen Regierungen gegen Universitäten, nichtstaatliche Organisationen und die freie Presse vor, häufig unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung und der nationalen Sicherheit. Ein prominentes Beispiel hierfür ist das russische Gesetz über „ausländische Agenten“, welches seit 2012 NGOs und seit 2020 auch Privatpersonen mit Kontakten ins Ausland unter Druck setzt. Auch die ungarische Gesetzgebung gegen die Central European University, welche Ungarn 2017 verlassen musste, geht in diese Richtung. 

Wer heute Opposition sucht, findet sie immer seltener in der klassischen Zivilgesellschaft – denn diese wird in vielen Teilen der Welt massiv bekämpft und überwacht. Opposition gegen autoritäre Staaten findet sich stattdessen immer häufiger im Privaten, in der Peripherie, im ländlichen Raum und bei den Ärmsten der Armen. Wo Sicherheits- und Wohlstandsversprechen der Machthaber scheitern, bricht diese Unzufriedenheit immer häufiger aus dem Privaten in das Öffentliche durch. Denn auch wenn das Internet immer stärker zensiert wird, ist es dennoch weltweit präsent und erzeugt einen früher ungekannten globalen Austausch. Was gegen den einen autoritären Repressionsapparat funktioniert, könnte schließlich auch gegen andere, ähnliche Behörden funktionieren.

Vielfältige Organisationsformen und neue Taktiken

Das heißt gleichzeitig: Wenn Protestbewegungen nicht auf nationaler und globaler Ebene sichtbar sind, bedeutete das noch nicht, dass es keinen Unmut und keinen Protest gibt. Dieser findet nur häufig im Kleinen statt und gärt über Jahre, bis sich viele solcher dezentralen Bewegungen in einem Moment kollektiver Unzufriedenheit zusammenschließen. Die Vorstellung einer Zivilgesellschaft, die sich ausschließlich über Vereine und Mittelschichten organisiert, ist ebenso veraltet wie die von unpolitischen Gesellschaften im globalen Süden. Es ist vielmehr die Pluralität von Organisationsformen, die charakteristisch ist für Protestbewegungen und deren stetige Innovation.

Es heißt aber auf der anderen Seite auch: Staaten lernen ebenso wie Protestbewegungen. Die Vorstellung, dass von der Mittelschicht getragene Zivilgesellschaften Demokratiebewegungen hervorbringen, hat zu Repressionen gegen ebendiese geführt und dezentral organisierte Bewegungen aus dem Prekariat hervorgebracht. Die staatliche Reaktion auf diese Form von Protestbewegungen wird unweigerlich existierende Taktiken einschränken, wie etwa technologische Innovationen bei der Überwachung des Internets die Organisation von Protesten in sozialen Medien erschwert hat. Dies bringt allerdings neue Taktiken hervor, etwa wenn Protestierende auf verschlüsselte Botschaften umsteigen. Denn wo es Unzufriedenheit gibt, da gibt es auch Protest. Kaum ein Sicherheitsapparat vermag es, dies dauerhaft zu verhindern.

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erschienen in Ausgabe 1 / 2023: Im Protest vereint
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