Einheimische Forschung wenig gefragt

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Alexis Huguet/AFP via Getty Images
Im Nordosten des Kongo werden 2022 Proben auf Erreger der Flussblindheit untersucht. Das Labor arbeitet in einem sehr unsicheren Umfeld.
Wissenschaftslandschaft
Wissenschaftliche Arbeiten aus dem globalen Süden sind in der westlich dominierten Fachwelt stark unterrepräsentiert. Um wichtige Lücken zu schließen, muss die Forschung inklusiver und diverser werden. 

Ökologie und Naturschutz sind Forschungsgebiete, deren Bedeutung für die Wissenschaft in den letzten Jahren gestiegen ist. Wenn es um den Klimawandel geht, sind neue Erkenntnisse vor allem für die Weltregionen wichtig, die davon besonders hart betroffen sind – beispielsweise der von Trockenheit und Bodenerosion bedrohte Sahel oder Südostasien, wo große Gebiete immer häufiger schwer überflutet werden.

Im wissenschaftlichen Diskurs spiegelt sich das allerdings ganz und gar nicht wider: Die allermeisten Veröffentlichungen in führenden Fachzeitschriften stammen aus dem englischsprachigen globalen Norden. Die Biologin Bea Maas hat in einer 2021 veröffentlichten Studie untersucht, woher die Beiträge der 13 weltweit führenden Wissenschaftsmagazine im Bereich Ökologie, Evolution und Umweltschutz kommen. Das Ergebnis: Drei Viertel der Artikel kamen aus den USA (40 Prozent), Großbritannien (18 Prozent), Australien (9 Prozent), Deutschland (4 Prozent) oder Kanada (4 Prozent). Die anderen 32 Staaten, aus denen noch Beiträge veröffentlicht wurden, unter ihnen China, Indien, Japan und Brasilien, stellten jeweils maximal ein Prozent der Autorinnen und Autoren. Von den übrigen 151 Staaten, darunter auch Russland, schaffte es kein einziger wissenschaftlicher Name auf die Liste der 1051 führenden Autorinnen und Autoren. Nur elf Prozent von ihnen waren Frauen.

Dieses große Ungleichgewicht in der wissenschaftlichen Autorenschaft findet Maas äußerst bedenklich, „besonders im Bereich Ökologie und Naturschutz, wo vielfältige Perspektiven zur Lösung globaler Klima- und Umweltherausforderungen gebraucht werden“. So berücksichtigten die wenigsten Klimaforscher aus dem globalen Norden die Wechselwirkungen zwischen Armut, Ungleichheit oder Informalität und dem Klimawandel. 

Forschung auf rauer See: Der ­Chilene Maximo Frangópulos von der Universität Magallanes sammelt Proben von Phytoplankton vor der Küste seines Heimatlandes. 

Selbst Wissenschaftler aus Südostasien stark unterrepräsentiert

Die Wirtschaftswissenschaften bieten ein ähnliches Bild. Laut einer Untersuchung vom Juli 2021 werden 63 Prozent der führenden internationalen wirtschaftswissenschaftlichen Fachzeitschriften in den USA herausgegeben, 3 Prozent in Kanada, 27 Prozent in Europa und lediglich 7 Prozent in der gesamten übrigen Welt. Dani Rodrik, Wirtschaftsprofessor an der John F. Kennedy School of Government in Harvard, berichtet, dass 90 Prozent derjenigen, die für die acht wichtigsten wirtschaftswissenschaftlichen Journale schreiben, dies von den USA oder von Europa aus tun. Dafür können nicht allein fehlende Ressourcen in anderen Regionen der Welt verantwortlich sein, mutmaßt Rodrik, denn so wirtschaftsstark seien Europa und die USA auch wieder nicht. Aus der Region Südostasien etwa, deren Wirtschaften in den vergangenen Jahrzehnten enorm gewachsen sind, kämen nur fünf Prozent der Artikel in wichtigen wirtschaftswissenschaftlichen Journalen – ganz zu schweigen von Regionen wie Südasien oder Afrika südlich der Sahara, deren Volkswirtschaften zwar schwach seien, aber immer noch stärker als die internationale Präsenz ihrer Wissenschaftler. 

Über Ressourcen und Ausbildung hinaus, betont Rodrik, ist auch der Zugang zu Netzwerken entscheidend, und der fehlt Forscherinnen und Forschern aus dem globalen Süden oftmals: Wer die richtige Universität besucht hat, die richtigen Leute kennt, reist und Konferenzen besucht, dessen Publikationen werden in aller Regel ernster genommen. Ein gewisses Korrektiv ist zwar, dass inzwischen zahlreiche führende Wirtschaftswissenschaftler an westlichen Universitäten Wurzeln im globalen Süden haben – auch Dani Rodrik kam erst als 18-Jähriger aus der Türkei in die USA. Dennoch bleiben viele Phänomene aus nicht westlichen Weltregionen unbeleuchtet, oder es bleibt oftmals dem Zufall überlassen, ob Problemstellungen von dort und wissenschaftliche Lösungsansätze dafür den Weg in Mainstream-Publikationen der Wirtschaftswissenschaft schaffen. 

Autorin

Barbara Erbe

ist Redakteurin bei welt-sichten.
Und auch wenn sie es schaffen, ist noch lange nicht gewährleistet, dass die Richtigen dafür geehrt werden, wie ein allerdings schon älteres Beispiel aus der Medizin zeigt. Der kongolesische Mikrobiologe Jean-Jacques Muyembe Tamfum arbeitete 1973 in der Provinz Congo Central des damaligen Zaire, heute Demokratische Republik Kongo, als Epidemiologe. Dort starben viele Menschen an einer Krankheit, die ähnlich verlief wie Gelbfieber, Typhus oder Malaria, aber deutlich schwerer und mit mehr Todesfällen. Als er den Kranken Blut abnahm, stellte er fest, dass das Blut aus deren Einstichwunden heftig herausspritzte. Das schien ihm bemerkenswert und außergewöhnlich. Deshalb schickte er – unter großer Gefahr einer eigenen Ansteckung – die Blutprobe einer infizierten, im Sterben liegenden Patientin zur Laboranalyse nach Belgien, wo es im Gegensatz zur Demokratischen Republik Kongo Elektronenmikroskope gab. Die dortigen Wissenschaftler analysierten das neuartige Virus, das das „blutige Fieber“ auslöste, und nannten es „Ebola“ – nach einem Fluss nahe des Dorfes, aus dem die Patientin stammte.

Der Mann, der in den folgenden Jahren und Jahrzehnten für die Entdeckung des Ebola-Virus geehrt wurde, war dann der belgisch-britische Arzt und Mikrobiologe Pieter Piot, der zusammen mit anderen die eingeschickte Blutprobe analysiert hatte. Piot wurde 1994 bis 2008 auch geschäftsführender Direktor des UN-Hilfswerks UNAIDS.  

Späte Ehrung: Der kongolesische ­Mikrobiologe Jean-Jacques Muyembe-Tamfum erhält 2019 in Japan einen Preis. Muyembes Beitrag zur Entdeckung des Ebola-Virus 1973 wurde zunächst kaum gewürdigt.

Jean-Jacques Muyembe ist heute 80 Jahre alt, Generaldirektor des „Institut National pour la Recherche Biomedicale“ der Demokratischen Republik Kongo. Und er verfügt inzwischen über die nötigen Mikroskope, um Viren genauer zu untersuchen, erklärte er in einem Interview mit dem US-amerikanischen Nachrichtensender NPR. Sein größter Beitrag für die Wissenschaft sei deshalb auch nicht seine entscheidende Rolle bei der Entdeckung des Ebola-Virus. „Wichtiger ist: Wenn heute ein Forscher in der Demokratischen Republik Kongo auf eine interessante Blutprobe stößt, kann er sie hier bei uns analysieren.“ 

Einrichtungen des globalen Nordens dominieren

Trotz dieser und anderer Fortschritte ist das Feld der globalen Gesundheit aber noch immer von kolonialen Strukturen geprägt, bemerkt der indische Epidemiologe Madhukar Pal, Direktor und Professor an der McGill Universität in Montreal. „Die Forschung dazu wird nahezu komplett von Einrichtungen des globalen Nordens dominiert. Rund 90 Prozent der relevanten internationalen Organisationen und Einrichtungen zu Global Health haben ihren Hauptsitz in den USA oder in Europa.“

Selbst bei den wenigen gemeinsamen Nord-Süd-Forschungsprojekten und -publikationen gerate die Süd-Beteiligung oft in den Hintergrund. So belegt eine Analyse verschiedener US-amerikanischer Universitäten, unter ihnen die Harvard Medical School, dass zwar mehr als die Hälfte aller wissenschaftlichen Artikel über Gesundheitsthemen mit Bezug auf Afrika von Autoren oder Ko-Autoren aus den betreffenden Ländern stammen. Sobald allerdings Ko-Autoren aus den USA, Kanada oder Europa dazukämen, würden die afrikanischen Autoren an weniger prominenter Stelle oder auch gar nicht mehr genannt. 

Seye Abimbola, Herausgeber der wissenschaftlichen Open-Access-Plattform „BMJ Global Health“, betont zudem, dass es nicht nur darum geht, Forscherinnen und Forscher aus dem globalen Süden zu Wort kommen und ihre Ergebnisse präsentieren zu lassen. Darüber hinaus dürfe die Fachwelt es nicht mehr tolerieren, dass „eingeflogene Experten“ aus dem Norden kurzfristig im globalen Süden recherchieren und ihre Ergebnisse anschließend anderen Experten aus dem Norden präsentieren, ohne die Expertise der örtlichen Wissenschaftler überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn anzuerkennen. 

So gut wie keine Stimmern aus Ruanda in den Publikationen über den Völkermord

Paradoxerweise macht das Problem auch nicht vor der Entwicklungsforschung halt. So dokumentiert das Research, Policy and Higher Education (RPHE) Programm des von britischen und schwedischen Geldgebern geförderten Aegis Trust in Kigali, Ruanda, dass nur an 13 von 398 Artikeln, die zwischen 1994 und 2019 in wissenschaftlichen Zeitschriften erschienen sind und die sich mit Ruanda befassen, das entspricht 3,3 Prozent, Autorinnen oder Autoren aus Ruanda mitgewirkt hatten. „Das heißt, 25 Jahre nach dem Völkermord kommt die internationale Literatur darüber nahezu völlig ohne Stimmen aus Ruanda aus“, erklärt Felix Mukwiza Ndahinda, Professor an der Universität von Ruanda und Mitwirkender an der Untersuchung. 

Inzwischen postet die Website des Aegis Trust  21 der wissenschaftlichen Artikel und Buchkapitel, die aus ihrem Programm hervorgegangen sind. Sie tragen wesentlich dazu bei, wissenschaftliche Forschung zu und Debatten über Themen wie Ethnizität, Migration oder Geschlechterbeziehungen, aber auch die Diskussion über die Verantwortung für den Völkermord an den Tutsi im Jahr 1994 auch in Ruanda selbst zu verankern. Ein Ergebnis fasst Mukwiza Ndahinda so zusammen: „Viele Artikel der RPHE- Forscher widmen sich einem Themenbereich, der von Forschern, die nicht aus Ruanda kommen, in der Regel ausgeklammert wird: der Häufigkeit innerfamiliärer Konflikte seit dem Völkermord 1994 und ebenso der Konflikte zwischen den Generationen.“

Um Perspektiven zu erweitern und Forschungslücken zu schließen, muss der Wissenschaftsbetrieb diverser und inklusiver werden. Das beginnt damit, dass Forschungsaufträge, wann immer die Möglichkeit besteht, bewusst an Forscherinnen und Forscher aus dem globalen Süden vergeben werden. Die Bereitschaft dazu sei momentan stärker als jemals zuvor, berichtet Bea Maas. „Das Thema ist in aller Munde, dieses Momentum gilt es zu nutzen.“ Wichtig sei aber, dass den Erklärungen der Gremien und Komitees, die Repräsentativität in der Wissenschaft fördern zu wollen, auch Taten folgten. „Beispielsweise müssen die Leute dann auch wirklich in wichtige Projekte eingebunden werden und ein Forum zum Publizieren bekommen.“ Oft würden Vertreterinnen und Vertreter unterrepräsentierter Gruppen zwar bewusst für ein Forschungsteam rekrutiert, bekämen dann aber weniger verantwortungsvolle Aufgaben zugeteilt oder hätten so hohe Lehrverpflichtungen, dass sie zum Forschen kaum noch kämen. 

Immerhin: „Noch vor zehn Jahren hätte ich das Manuskript zu meiner Studie nicht so sichtbar pub­lizieren können, jetzt ist es in den Conservation Letters veröffentlicht und damit in einer anerkannten Fachzeitschrift für Naturschutzbiologie“, sagt Maas. Zumindest, so scheint es, ist das Problem der Wissenschaftscommunity heute bewusster als früher.

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erschienen in Ausgabe 9 / 2022: Fragen, messen, publizieren
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