„Sie können uns nicht die Luft zum Atmen nehmen“

Frente Polisario
Die Menschenrechtsaktivistin Sultana Khaya auf dem Dach ihres Hauses, wo sie täglich die sahrauische Flagge schwenkt.
Westsahara
Sultana Khaya zählt zu den bekanntesten Aktivistinnen der Westsahara. Seit vielen Jahren kämpft die 41-Jährige friedlich für die Selbstbestimmung des sahrauischen Volkes – und wurde deshalb von marokkanischen Sicherheitskräften misshandelt und vergewaltigt. Doch ans Aufgeben denkt sie nicht.

Das Flachdach ihres Hauses ist für Sultana Khaya zur Bühne geworden. Jeden Tag um die Mittagszeit schwenkt sie dort oben mit ihrer Schwester eine Viertelstunde lang die sahrauische Flagge – „egal ob es regnet oder die Sonne scheint“. Das filmen sie und senden es über die sozialen Medien in die Welt hinaus. „Wir wollen damit zeigen, dass der friedliche sahrauische Widerstand weitergeht“, erklärt Khaya.

Die Aktion ist in den Augen der Marokkaner eine Provokation, denn das Haus, in dem die Aktivistin lebt, steht in der Küstenstadt Boujdour. Die liegt im Gebiet der Westsahara, das Marokko als sein Territorium betrachtet. Nachdem Spanien sich 1976 als Kolonialmacht aus der Region zurückgezogen hatte, hält Marokko Westsahara völkerrechtswidrig besetzt. Häufig wird das Gebiet deshalb als die letzte Kolonie Afrikas bezeichnet.

Vom Dach des Hauses aus kann Khaya den Atlantik sehen. Aber sie war seit einem Jahr und vier Monaten nicht mehr am Meer. Denn die 41-Jährige steht unter Hausarrest. Eine Begründung dafür hat sie von den marokkanischen Behörden nie bekommen. Wenn sie versucht, das Haus zu verlassen, wird sie von den Polizisten in Zivil, die es bewachen, gewaltsam daran gehindert. Auch Besuch empfangen darf sie nicht. „Heute ist Tag 443, an dem ich hier eingesperrt bin“, sagt sie während unseres Zoom-Telefonats.

Khaya ist Präsidentin der Sahrauischen Liga für die Verteidigung der Menschenrechte und den Schutz der natürlichen Ressourcen der Westsahara. Sie zählt gemeinsam mit Aminatou Haidar, die 2019 den Alternativen Nobelpreis erhalten hat, zu den bekanntesten Menschenrechtlerinnen der Westsahara. Unermüdlich setzt sie sich für die Selbstbestimmung ihres Volkes ein und dafür, dass endlich ein Referendum über die Unabhängigkeit der Westsahara abgehalten wird, wie es die Vereinten Nationen den Sahrauis 1991 versprochen haben.

Wenn marokkanische Sicherheitsleute die Tür einschlagen

Der Preis, den sie dafür zahlt, ist hoch. Sie wurde vergewaltigt, inhaftiert und einmal bei einer friedlichen Demonstration so brutal zusammengeschlagen, dass sie ihr linkes Auge verlor. „Ich will nicht davon reden, wie oft mir die Rippen gebrochen wurden“, sagt sie. Dann schiebt sie den Ärmel ihrer Bluse nach oben und zeigt ihren mit Blutergüssen übersäten Arm. „Sie kommen früh morgens oder spät nachts“, sagt sie über die Männer, die um das Haus herum postiert sind, in dem sie mit ihrer Schwester und ihrer Mutter eingesperrt ist. „Dann schlagen sie die Tür ein, um ihre Stärke zu demonstrieren, fesseln uns, begrapschen uns. Im Dezember haben sie mir einen getränkten Wattebausch aufs Gesicht gehalten und ich habe das Bewusstsein verloren. Und das letzte Mal haben sie mir etwas gespritzt, ich weiß nicht, was das war“, erzählt sie. Und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: „Das Schlimmste ist der Moment kurz bevor sie da sind: Die Angst, wenn ich höre, dass sie die Tür einschlagen.“

Sultana Khaya fühlt sich und ihr Volk von der Welt alleingelassen. Das Schicksal der Sahrauis beschäftigt nur wenige Politiker. Viel interessanter ist in der Weltpolitik etwas Anderes: Das umkämpfte Stück Land ist reich an Rohstoffen, vor allem Phosphat, das für die Herstellung von Düngemitteln benötigt wird. Zudem liegen vor der Küste reiche Fischereigründe; auch die EU importiert im Rahmen von Handelsabkommen mit Marokko Fisch von hier. Zusätzlich werden in Gebieten, die zur Westsahara gehören, Öl- und Gasvorkommen vermutet.

Zehn Liter Wasser täglich zum Waschen, Kochen und Putzen

Sultana Khaya hat davon nichts. Seit April 2021 haben die drei Frauen keine oder nur sehr eingeschränkt Elektrizität. Sie nutzen einen Campingkocher, Gas und ein Ladegerät fürs Handy, das eine Weile ohne Strom auskommt. „Dass sie uns den Strom abgedreht haben, bedeutet auch, dass der Kühlschrank nicht funktioniert. Deshalb muss meine 86-jährige Mutter, die als einzige von uns Dreien einmal am Tag das Haus verlassen darf, täglich einkaufen gehen“, erzählt Khaya. „Sie bringt dann auch zehn Liter Wasser mit. Für uns drei Frauen ist das nicht viel zum Kochen und Waschen. Aber mehr könnte sie ohnehin nicht tragen.“ An Medikamente zu kommen sei besonders schwierig. „Bei Kontrollen durch die Marokkaner darf das nicht auffallen. Sie nehmen uns auch die letzte Paracetamol weg.“

Doch Khaya unterscheidet zwischen der marokkanischen Politik und den Menschen. Sie hat selbst an einer marokkanischen Universität Französisch studiert und weiß: „Es gibt auch Marokkaner, die auf unserer Seite sind.“ Die meisten Marokkaner interessiere das Thema jedoch nicht oder sie hätten Angst vor ihrer eigenen Regierung, so ihre Einschätzung. Aber sie denke an die zwei marokkanischen Studenten, mit denen sie gemeinsam für die Freiheit der Westsahara demonstriert hat und die dabei getötet worden seien.

Trotz der jahrzehntelangen Unterdrückung „lohnt es sich, weiter friedlich für das Land zu kämpfen“, meint sie. Die Befreiungsfront Polisario, die im algerischen Exil lebt, sieht das mittlerweile anders. Im November 2020 hat sie den seit 1991 geltenden Waffenstillstand beendet, nachdem sahrauische Zivilisten von marokkanischen Sicherheitskräften getötet worden waren. „Die Vereinten Nationen müssen dafür sorgen, dass die Menschenrechte hier beachtet werden – die werden tagtäglich mit Füßen getreten. Wenn die internationale Gemeinschaft dem weiterhin tatenlos zusieht, weiß ich nicht, wie lange es noch friedlich weitergehen wird“, sagt Khaya. „Was wir brauchen, ist internationale Aufmerksamkeit!“

Spanien stellt sich auf die Seite Marokkos

Nun hat jedoch Spanien in seiner Außenpolitik eine Kehrtwende vollzogen: Hatte sich die ehemalige Kolonialmacht bislang für die Unabhängigkeit der Westsahara ausgesprochen, so verkündete die spanische Regierung am 18. März überraschend, die Westsahara könne eine autonome Provinz unter marokkanischer Souveränität werden – ganz so, wie es Marokko fordert. Algerien, ein Unterstützer der sahrauischen Befreiungsfront Polisario, zog aus Protest seinen Botschafter aus Madrid ab. In spanischen Medien sorgte die Entscheidung von Ministerpräsident Sánchez für Empörung: „Die Westsahara verdient Lösungen, die sich nicht in bloßem Pragmatismus ohne Prinzipien erschöpfen und den Status des Gebiets zementieren“, schrieb El País. Spanien „opfert die Unabhängigkeitsbemühungen der Sahrauis auf dem Altar der Realpolitik“, kommentieren andere.

Die Realpolitik, das sind die Flüchtlinge aus afrikanischen Ländern, für deren Abwehr Marokko als Türsteher bereitsteht. Zur Realpolitik gehört aber auch, dass Algerien ein wichtiger Gaslieferant Spaniens ist. Dass Spanien einen algerischen Dissidenten, der Asyl sucht, nach Algerien ausliefern will, ist in diesen Kontext einzuordnen – gänzlich verärgern will die Regierung in Madrid die in Algiers wohl nicht. Unter diesen politischen Ränkespielen leiden Menschenrechtler, ob algerischer, marokkanischer oder sahrauischer Herkunft.

Sultana Khaya feiert derweil kleine persönliche Erfolge. US-amerikanischen Menschenrechtlerinnen ist es am 16. März gelungen, die Blockade zu durchbrechen und in ihr Haus zu gelangen. Durch ihre Präsenz, so die Hoffnung, werden die marokkanischen Polizisten sie wenigstens für eine Zeitlang in Ruhe lassen – und ihre Unterdrückung, die sie mit so vielen sahrauischen Frauen verbindet, wie Khaya immer wieder betont, wird so womöglich mehr Aufmerksamkeit erfahren.

Und dann ist da noch die Geschichte mit dem Stein: Triumphierend hält Sultana Khaya einen schwarzen, faustgroßen Stein in die Kamera. Anfang Dezember hätten die marokkanischen Sicherheitskräfte die Tür zum Dach zugeschweißt, damit den beiden Schwestern der Weg aufs Dach und somit das tägliche Flaggezeigen verwehrt wird. „Jetzt ist es vorbei mit dem Dach“, zitiert Khaya die Männer. Aber die Frauen haben mit Steinen wie dem, den sie in die Kamera hält, ein kleines Loch in die Wand geschlagen, durch das sie nach draußen klettern. „Nein, es ist nicht vorbei. Wir lassen uns nicht die Luft zum Atmen nehmen“, sagt Khaya. Dann lächelt sie und sagt: „Ich bin der festen Überzeugung, dass die Westsahara eines Tages frei sein wird.“

Dieser Beitrag ist Teil unserer Serie "Vergessene Krisen im globalen Süden", in der wir in loser Folge die Konflikte in Ländern darstellen, die im Schatten des Krieges in der Ukraine in der medialen Brichterstattung untergehen.

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Tapfer, diese Frauen, die sich feiger Gewalt nicht beugen und auch von zynischer Politik nicht entmutigen lassen!

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