Aus dem Grauen von Bhopal nichts gelernt?

STR/ AFP via Getty Images
Der Mann und die beiden Frauen sind 1984 infolge des Unfalls in der Pestizidfabrik in Bhopal erblindet. Das freigesetzte Zyanid hat rund 20.000 Menschen getötet und 300.000 weitere geschädigt.
Indien
Die chemische Industrie ist ein wichtiger Wirtschaftszweig in Indien. Das hat allerdings seinen Preis: Immer wieder passieren schwere Unfälle mit Toten und Verletzten. Konzerne und Behörden tun zu wenig, um das zu verhindern.

Mitten in der Nacht, um kurz vor vier, wurden die Bewohner des Dorfes Gopalapatnam im Süden Indiens von Hilferufen aus dem Schlaf gerissen. Ein stechender Geruch lag in der Luft. In Panik liefen die Menschen aus ihren Häusern, trugen Kinder und einige Habseligkeiten mit sich und rannten in alle Himmelsrichtungen davon. Viele verloren das Bewusstsein und brachen auf der Straße zusammen. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis Polizisten und Rettungssanitäter eintrafen und die verzweifelten Menschen in Sicherheit brachten. Viele Opfer klagten über Atembeschwerden, brennende Augen und Übelkeit.

Die Ursache der Katastrophe im Mai 2020 war eine Wolke giftigen Gases, die aus einem Chemiewerk inmitten der Siedlung entwichen war und sich rasch ausbreitete. Zwölf Menschen starben, rund einhundert mussten in Krankenhäusern behandelt und küstlich beatmet werden. Seither ist die Fabrik aufgrund eines Gerichtsbeschlusses geschlossen.

Die Fabrik, die Rohstoffe für den Kunststoff Polystyrol hergestellt hat, war 1961 außerhalb der südindischen Hafen- und Industriestadt Vishakapatam gebaut worden. Heute steht sie inmitten von Dörfern und Slumsiedlungen, die seitdem entstanden sind. Ursprünglich war die Fabrik Teil eines staatlichen Chemiekonglomerats, heute gehört sie zum südkoreanischen Multi LG. Wenige Tage nach dem Unglück demonstrierten Dorfbewohner vor dem Fabriktor, legten die sterblichen Überreste ihrer Nachbarn und Familienangehörigen auf die Straße und forderten, die Fabrik zu schließen. Später ordnete ein Gericht auf Antrag von Bügerklagen die Beschlagnahme der Fabrik an, um die Unglücksursache untersuchen zu können. Den leitenden Managern wurde untersagt, das Land zu verlassen, damit sie sich einer eventuellen Strafverfolgung nicht entziehen konnten. Das Unglück rief Erinnerungen an die verheerende Giftgaskatastrophe 1984 in der Stadt Bhopal mit Tausenden von Toten wach.

Chemieindustrie in Indien auf Wachstumskurs

Die Chemieindustrie ist einer der wichtigsten Wirtschaftszweige Indiens. Ihr Marktumsatz wird auf rund 180 Milliarden US-Dollar jährlich geschätzt. Damit trägt sie etwa ein Fünftel zur Wertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes bei. Indien ist nach Angaben der Bundesagentur Germany Trade and Invest (GTAI) der sechstgrößte Chemiemarkt der Welt und der viertgrößte in Asien.

„Indien verfügt über eine sehr große Bevölkerung und sieht sich daher mit großen Herausforderungen bei der Bereitstellung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und adäquaten Behausungen konfrontiert“, heißt es im Geschäftsbericht für 2020 des Ministeriums für Chemikalien und Dünger. Die chemische Industrie liefere „entscheidende Rohstoffe“ wie Mineraldünger und Pestizide, um die Nahrungsmittelproduktion zu unterstützen, heißt es auf der Webseite des Ministeriums. Laut der Regierung ist Indien nach den USA, China und Japan der viertgrößte Produzent von Agrarchemikalien. Die „erstaunliche Zunahme der Lebenserwartung unserer Bürger“ könne zumindest in Teilen der Chemieindustrie zugutegehalten werden, die Medikamente und andere Stoffe für das Gesundheitssystem produziere. Auch für die Schaffung von Wohnraum spiele sie eine entscheidende Rolle.

Autor

Rainer Hörig

war dreißig Jahre lang als freier Korrespondent für deutsche Medien in der indischen Industriestadt Pune tätig und dann Redakteur der deutsch-indischen Zeitschrift „Meine Welt“. Rainer Hörig ist im Mai 2024 verstorben.
Die Regierung rechnet damit, dass die Chemieindustrie in den kommenden Jahren weiter wächst. Die treibenden Kräfte dafür seien die große Bevölkerung und ein riesiger Binnenmarkt, die hohe Abhängigkeit von der Landwirtschaft und ein starker Export. Sorge bereitet der Regierung dagegen, dass Indien im Chemiesektor eine negative Handelsbilanz aufweist, dass also die Importe den Wert der Exporte übersteigen. China liefert gegenwärtig rund 25 Prozent aller indischen Chemieeinfuhren. Damit ist der große Nachbar im Norden der wichtigste Lieferant von Chemikalien. Mithilfe von Subventionen versucht die Regierung, einheimische Produktionskapazitäten auszubauen, um die Abhängigkeit von Importen zu reduzieren, heißt es in einem Bericht der GTAI.

Deutschland ist Abnehmer und auch Lieferland

Zu den sechs wichtigsten Kunden indischer Chemie-Exporte zählte im Jahr 2020 laut Weltbank Deutschland mit einem Anteil von drei Prozent. Aus deutscher Sicht machen chemische Erzeugnisse rund 25 Prozent aller Einfuhren aus Indien aus. Umgekehrt lieferte Deutschland 3,3 Prozent der indischen Einfuhren von Chemikalien und ist damit das siebtwichtigste Lieferland. Die indischen Tochterunternehmen der deutschen Chemieriesen BASF und Bayer gehören zu den zehn größten börsennotierten Chemieunternehmen Indiens.

Viele Regionen Indiens sind stark von der Landwirtschaft geprägt, vor allem von kleinbäuerlichen Betrieben. Rund 60 Prozent der Bevölkerung arbeiten in der Landwirtschaft. Für die soliden Umsätze der indischen Chemieindustrie ist in erster Linie die sogenannte Grüne Revolution verantwortlich, mit der in den 1960er Jahren industriell gestützte Anbaumethoden eingeführt wurden. Der vermehrte Einsatz von Mineraldünger und Pestiziden führte dazu, dass Indien im Laufe der 1960er und 1970er Jahre von Nahrungsmittelimporten weitgehend unabhängig werden konnte. Große Staudämme wurden gebaut, um Elektrizität zu gewinnen und Felder zu bewässern. Internationale Hilfsorganisationen führten neue, ertragreichere Getreidesorten ein. Ausländische Chemiekonzerne, vor allem US-amerikanische und deutsche Firmen, errichteten Fabriken in Indien. Heute sind industriell gestützte Anbaumethoden Standard auf dem Subkontinent. Die traditionelle, auf biologisch-organischen Verfahren basierende Landwirtschaft wurde nahezu vollständig verdrängt. Sie erlebt allerdings unter dem Bio-Label ein Comeback.

Sirenen heulten durch die Nacht, doch niemand rettete die Menschen

Indien musste jedoch erfahren, dass die Herstellung von Agrarchemikalien mit großen Risiken verbunden ist. Bhopal am 3. Dezember 1984: Sirenen heulen durch die Nacht, Menschen schreien verzweifelt um Hilfe, auf den Straßen der Stadt herrscht Chaos. „Wir rannten einfach los, instinktiv, irgendwohin“, berichtet die Slumbewohnerin Rambai. „Es blieb keine Zeit zum Überlegen, und Rettung war nirgends in Sicht. Viele Menschen mussten sich übergeben und verloren die Kontrolle über ihren Darm. Meine Augen waren stark geschwollen, ich konnte kaum noch etwas erkennen. Irgendwann, als wir zusammengekrümmt auf der Straße lagen, kamen Helfer und reichten uns Wasser zum Trinken.“

In dieser Nacht vor fast 40 Jahren trieben nach einer Explosion im Werk des amerikanischen Chemiemultis Union Carbide 30 Tonnen hochgiftiger Gase über die schlafende Stadt Bhopal hinweg. Bäume verloren ihre Blätter. Kühe, Ziegen, Hunde fielen tot um. Mehr als eine halbe Million Menschen wurden von den ätzenden Gasen verletzt, mehrere Tausend starben noch in derselben Nacht. Krishnabai, eine der Betroffenen, klagt Jahre nach der Katastrophe: „Meine Augen sind fast blind, ständig quälen mich Schmerzen in der Brust und im Kopf. Ich fühle das Giftgas immer noch in meinem Körper. Ich wünschte, ich wäre noch in dieser Nacht gestorben.“ Erst Jahre später zahlte die Regierung fast 4000 Familien, die Todesopfer zu beklagen hatten, eine magere Entschädigung, mehr als eine halbe Million Langzeitkranke erhielten finanzielle Unterstützung. Der Name Bhopal steht für den folgenschwersten Chemieunfall der Geschichte.

Über die Ursache der Katastrophe wurde jahrelang vor Gerichten in Indien und den USA gestritten. Die amerikanische Betreiberfirma Union Carbide, die später vom Chemiemulti Dow Chemicals übernommen wurde, stritt zunächst jede Verantwortung ab und beschuldigte nicht näher genannte Angestellte, sie hätten den Unfall durch Sabotage ausgelöst. Ehemalige Bedienstete hingegen sagten aus, die Anlagen zur Produktion von giftigen Pestiziden seien veraltet und vernachlässigt, Sicherheitssysteme defekt oder gar abgeschaltet gewesen.

Die Bewohner weiden auf dem verseuchten Gelände Vieh

Seit dem Unfall steht die Fabrik still. Ratten und Krähen haben das Gelände in Besitz genommen, eine Handvoll Polizisten sind zur Bewachung abgestellt. Üppiges Buschwerk wächst über zerborstene Scheiben, rostige Rohre sowie Müllhalden und Tümpel, in denen sich weitere Giftlasten verbergen. Rund um die Ruine wuchern Slumquartiere. Die Bewohner nutzen das verseuchte Gelände als Viehweide, ihre Kinder spielen zwischen den Ruinen und pflücken essbare Früchte von den Bäumen. Das Grundwasser ist hochgradig verseucht, seit Jahren müssen die Anwohner mit Trinkwasser aus Lastwagen versorgt werden. Trotz jahrelanger Proteste und internationaler Kampagnen hat sich ihre Lage nicht grundsätzlich gebessert. „Die indische Regierung hat nach dem Desaster die Verantwortlichen keiner angemessenen Strafe unterzogen“, sagt der indische Umweltjournalist Atul Deulgaonkar. „Solange die großen Firmen keine strengen Strafen befürchten müssen, werden sie sich kaum um die Sicherheit der Beschäftigten oder der Bevölkerung kümmern.“

Die Fabrik in Bhopal steht still und ist sich selbst überlassen – Sicherheitsleute spielen 2009 auf einem ihrer Dächer Karten. Keiner der für den Unfall Verantwortlichen wurde angemessen bestraft.

Erst Jahre nach der Katastrophe begann die indische Regierung, gefährliche Industriezweige systematisch zu kontrollieren. Das Gesetz zum Schutz der Umwelt wurde um Regeln zur strafrechtlichen Verantwortung bei Unfällen erweitert, neue Gesetze regeln den Umgang mit Gefahrenstoffen. „Große und mittelgroße Industriebetriebe sind nun verpflichtet, besondere Abteilungen einzurichten, die die Arbeitssicherheit beaufsichtigen und Orientierungskurse für Mitarbeiter durchführen“, sagt Atul Deulgaonkar.  „Diese Bestimmungen werden weitgehend befolgt, um dem Gesetz Genüge zu tun. Aber es gibt nur wenige Manager, die sich aktiv dafür einsetzen, die Sicherheit in ihren Betrieben zu verbessern.“

Erst 2006, mehr als 20 Jahre nach Bhopal, richtete die Regierung eine nationale Katastrophenschutzbehörde ein, die unter anderem die Sicherheit in Industriebetrieben regelmäßig überprüfen soll. Auch die Bundesstaaten verfügen heute über Verfahren, die Sicherheit in der Industrie zu kontrollieren. Darüber hinaus wurden in den Fabriken Abteilungen eingerichtet, um sensible Einrichtungen wie Dampferzeuger, Druckventile und Dichtungen zu überprüfen. „Aber wie gesagt, die meisten Entscheidungsträger in den Betrieben und auch in vielen Behörden messen der Sicherheit nicht viel Bedeutung bei“, sagt der Journalist Deulgaonkar.

Immer wieder tödliche Unfälle in Chemiebetrieben

Die Folge: Immer wieder ereignen sich in Indien verheerende Unfälle in Chemiebetrieben, bei denen zahlreiche Menschen zu Schaden kommen. Das Gasleck in Vishakapatam im Mai 2020 forderte zwölf Tote und mehr als eintausend Verletzte. Wenige Monate später explodierte ein Tank in einer Chemiefabrik in der Industriestadt Dahej im Staat Gujarat: fünf Tote und mehr als 50 Verletzte. Im November 2020 ereignete sich nur wenige hundert Kilometer entfernt in Ahmedabad, der Hauptstadt des Bundesstaates Gujarat, eine chemische Explosion, die 12 Menschenleben forderte.

Selten erregen solche „Unfälle“ die Aufmerksamkeit internationaler Medien. Nur in wenigen Fällen müssen die Verantwortlichen mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen, denn Lobbygruppen der Industrie machen ihren Einfluss in den Behörden geltend, viele Kontrolleure sind bestechlich. Nur eine von der Öffentlichkeit mitgetragene Kontrolle kann die Sicherheit in gefährlichen Industriezweigen wirksam erhöhen. Atul Deulgaonkar schlägt vor, bereits in den Schulen ein entsprechendes Bewusstsein zu vermitteln und die Öffentlichkeit mithilfe von regelmäßigen Katastrophenschutz-Übungen zu sensibilisieren. Gesellschaft und Politik müssten darauf bedacht sind, die Verfahren und Regeln zur Verhütung von Chemieunfällen stets zu hinterfragen und zu überwachen. So könnte man ein öffentliches Bewusstsein für die Sicherheit in Industriebetrieben aufbauen.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2022: Riskante Geschäfte mit der Chemie
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