Chemie ist überall. Wir putzen uns morgens die Zähne mit Produkten der Chemieindustrie, unsere Kleidung ist synthetisch hergestellt oder mit Chemie gefärbt, einen Großteil unserer Lebensmittel gäbe es nicht ohne künstlichen Dünger und Pflanzenschutzmittel, in unseren Elektronikgeräten stecken chemisch hergestellte Flammschutzmittel. Ohne Chemie gäbe es keine modernen Farben, keine Treibstoffe, keinen Kunststoff.
Laut dem UN-Umweltprogramm UNEP und dem Internationalen Verband der Chemischen Industrie (ICCA) werden global zwischen 40.000 und 60.000 Chemieprodukte gehandelt, wobei auf rund 6000 davon 99 Prozent des gesamten Handelsvolumens entfallen. Gut ein Viertel der Produkte der chemischen Industrie in Deutschland geht nach Angaben des Wirtschaftsministeriums an Endverbraucher. Dazu zählen etwa Lacke und Farben, Klebstoffe, Düngemittel sowie Körperpflegemittel. Etwa 70 Prozent werden in anderen Branchen weiterverarbeitet, der Bauindustrie, dem Maschinenbau, von Kunststoffherstellern, der Verpackungswirtschaft oder der Autoindustrie.
Die chemische Industrie beansprucht für sich, zu einer nachhaltigen Entwicklung weltweit beizutragen, etwa dadurch, dass ihre Produkte die Landwirtschaft produktiver machen. Ohne Chemie gäbe es keine LED-Lampen und keine Dämmstoffe für Häuser, die helfen, vor allem in den Industrieländern den Energieverbrauch und damit die Treibhausgasemissionen zu senken. Mit Chlorpulver wird überall auf der Welt Wasser desinfiziert und genießbar gemacht. Und nicht zuletzt wäre unsere moderne Medizin ohne Chemie nicht denkbar.
Die Kehrseite der Chemie
Das ist die eine Seite. Die Kehrseite ist: Chemie ist auch überall da, wo sie nicht sein sollte. In der Muttermilch zum Beispiel: Laut dem UNEP-Bericht „Global Chemicals Outlook II“ wurden in reicheren Ländern Spuren von Flammschutzmitteln, in ärmeren Ländern Konzentrationen von Pestiziden in Proben von Muttermilch gefunden. Der übermäßige Gebrauch von Pflanzenschutzmitteln und synthetischem Dünger in der industrialisierten Landwirtschaft ist eine Hauptursache für Wasserverschmutzung in vielen Ländern. Von den Feldern sickern die Chemikalien ins Grundwasser und werden in Bäche, Flüsse und schließlich die Ozeane gespült. In vielen ärmeren Ländern wie Ghana oder Peru nutzen kleine Goldminen Quecksilber, um das Edelmetall aus Erde und Gestein zu lösen. Der Stoff vergiftet Minenarbeiter, das Wasser und die Umwelt. In Indien wurden im Jahr 2018 in einer Studie Spuren des Schmerzmittels Diclofenac in Geiern gefunden – zehn Jahre nachdem das Medikament dort verboten wurde.
Die Allgegenwart von Chemie hat einen hohen Preis. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass im Jahr 2016 mindestens 1,6 Millionen Menschen infolge der Vergiftung mit chemischen Stoffen gestorben sind, die meisten an Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder an Krebs. Fachleute gehen davon aus, dass die Todeszahlen tatsächlich deutlich größer sind. Laut einer in der medizinischen Fachzeitschrift „Lancet“ veröffentlichten Studie sind im Jahr 2015 allein an Bleivergiftungen etwa eine halbe Million Menschen weltweit gestorben. Hochgiftige Bleidämpfe entstehen unter anderem beim unsachgemäßen Recycling von Elektronikschrott und Batterien – ein Problem vor allem in Entwicklungsländern, das dort in den kommenden Jahren deutlich größer werden dürfte: Seit Jahren wächst in vielen Ländern in Afrika der Markt für kleine Solaranlagen, die Strom für den Hausgebrauch liefern. Die Entsorgung der dafür benötigten Batterien ist völlig ungeklärt.
Seit den späten 1980er Jahren sind eine Reihe internationaler Abkommen in Kraft getreten, die die Produktion gefährlicher Chemikalien, den Handel damit und die Entsorgung regulieren und Gefahren entschärfen sollen (siehe Kasten unten).
Wirken internationale Abkommen zum Schutz vor gefährlichen Chemikalien?
Die Spannbreite internationaler Verträge und Initiativen zur Regulierung von Chemikalien ist groß. So verbietet das Montreal-Protokoll von 1989 die ...
Angesichts der Geschwindigkeit, in der die chemische Industrie weltweit wächst, ist fraglich, ob die internationale Regulierung überhaupt Schritt halten kann. Nach Angaben von UNEP haben sich die Produktionskapazitäten der Industrie weltweit in den Jahren 2000 bis 2017 von 1,2 Milliarden auf 2,3 Milliarden Tonnen fast verdoppelt – und das ohne Pharmaindustrie, die in Statistiken meistens gesondert aufgeführt wird. Im Jahr 2020 wurden auf der ganzen Welt Chemikalien im Wert von knapp 3,5 Billionen Euro verkauft (ohne pharmazeutische Produkte); in nur zehn Jahren wird der Verkauf bei 6,6 Billionen Euro liegen, prognostiziert der European Chemical Industry Council. Laut ihrem internationalen Verband trägt die chemische Industrie direkt und indirekt rund sieben Prozent zum globalen Bruttoinlandsprodukt bei und zeichnet für 120 Millionen Arbeitsplätze weltweit verantwortlich.
Wachstum vor allem in Asien und anderen Regionen des globalen Südens
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In Lateinamerika dominiert Brasilien die chemische Industrie, gemessen am Umsatz stand das Land im Jahr 2020 auf Platz 9 hinter Indien und Taiwan und noch vor Russland. In Asien steht die Chemie vor allem im Zeichen der Textilindustrie und der Landwirtschaft: Synthetische Fasern und Agrarchemikalien sind wichtige Produkte der chemischen Industrie. Deutliches Wachstum verzeichnet in dieser Region aber vor allem die Produktion von Reinigungs- und Körperpflegemitteln sowie Kosmetik für die schnell wachsenden Mittelschichten in vielen asiatischen Ländern.
NGOs fordern ein nachhaltiges Chemiekalienmanagement
Mit der Produktion und dem Konsum werden sich auch die Gefahren der chemischen Industrie in den kommenden Jahrzehnten zunehmend in den globalen Süden verlagern. Umso wichtiger ist es, dass die Staaten auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene Regeln zum Umgang mit Chemikalien beschließen, um Gefahren einzudämmen. Das UNEP nennt in seinem Bericht „Global Chemicals Outlook“ Beispiele für neuere nationale Regelwerke in Honduras, Ecuador, Kenia und Brasilien. So haben die meisten Länder mittlerweile Gesetze zur Verwendung von Mitteln zur Schädlingsbekämpfung in der Landwirtschaft.
An anderer Stelle hingegen gibt es laut UNEP noch große Lücken. So haben bislang nur sehr wenige Staaten Afrikas das globale System zur Klassifizierung von Chemikalien (GHS) ganz oder teilweise übernommen. Das GHS stuft Produkte der chemischen Industrie nach ihrer Gefährlichkeit ein und empfiehlt eine einheitliche Kennzeichnung sowie standardisiertes Informationsmaterial zu den Stoffen. Ähnlich sieht es bei der Einführung von Datenbanken aus, die – in der Regel jährlich aktualisiert – Auskunft geben, welche Chemikalien von wem und wo im Land freigesetzt werden. Die große Mehrzahl der Industrieländer verfügt über solche sogenannten Pollutant Release and Transfer Registers, in vielen Ländern Lateinamerikas und Südostasien entstehen sie seit einigen Jahren, während kaum ein Land in Afrika darüber verfügt.
Eine Evaluierung der ersten zehn Jahre des 2006 geschaffenen Strategischen Ansatzes zur internationalen Regulierung von Chemikalien (Strategic Approach to International Chemicals Management, SAICM) beschreibt zwar Fortschritte auch in Entwicklungs- und Schwellenländern. Der Bericht sieht aber die Gefahr, dass sich die Kluft zwischen wohlhabenderen und ärmeren Ländern beim Management gefährlicher Chemikalien weiter vergrößert, statt sich zu verkleinern. Zudem bestehe das Risiko, dass in einzelnen Ländern ärmere Bevölkerungsgruppen zunehmend überproportional von der Freisetzung giftiger Stoffe geschädigt werden. Als Beispiele nennt der Bericht Kinder und schwangere Frauen, die in der Landwirtschaft arbeiten, in der gefährliche Pestizide eingesetzt werden.
Derzeit hat Deutschland die SAICM-Präsidentschaft; die für den vergangenen Juli in Bonn geplante fünfte internationale SAICM-Konferenz wurde wegen Corona auf das Jahr 2023 verschoben. In einem Positionspapier fordern deutsche Umwelt- und Entwicklungsorganisationen, nach Ablauf des ersten Zieldatums 2020 müsse SAICM jetzt gestärkt und perspektivisch in ein rechtsverbindliches Abkommen für ein nachhaltiges Chemikalienmanagement ausgebaut werden. Ziel eines solchen Abkommens müsse etwa das Verbot von hochgefährlichen Pestiziden sein. Die NGOs schlagen außerdem die Einführung einer globalen Steuer für die chemische Industrie vor. Mit dem Geld könnte das Chemikalien- und Abfallmanagement in Ländern des globalen Südens gestärkt werden.
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