Lob und Kritik für die neue Nachhaltigkeitsstrategie

picture alliance/dpa/Arne Dedert
Die Corona-Krise hat im Januar den Flughafen in Frankfurt am Main weitgehend lahmgelegt. Ob nach der Krise das übliche Geschäft zurückkehrt, ist offen.
Bundesregierung
Die Bundesregierung hat ihre Nachhaltigkeitspolitik auf eine neue Grundlage gestellt. Fachleute sehen Fortschritte, beklagen aber ein altes Problem: den Mangel an politischer Führung. 

Seit ihrer Erstauflage im Jahr 2002 wurde die Strategie schon mehrfach aktualisiert, vor allem seit der Verabschiedung der UN-Nachhaltigkeitsziele (SDG) im Jahr 2015. Doch drängen Wissenschaftler und Fachleute darauf, die Anstrengungen weniger auf einzelne Ziele, sondern auf umfassendere Politikbereiche zu konzentrieren – sogenannte Transformationsbereiche –, um besser Wechselwirkungen und Zielkonflikte berücksichtigen zu können, etwa in der Energie- und Klimapolitik. 

Der Bund hat sich das zu eigen gemacht und in der neuen Strategie sechs Handlungsbereiche umrissen. Der erste, „Menschliches Wohlbefinden und Fähigkeiten, soziale Gerechtigkeit“, verknüpft gleich sieben SDGs auf einmal. Um weltweit Wohlergehen zu ermöglichen, heißt es, „müssen Menschenrechte geachtet, Arbeit angemessen entlohnt, soziale Sicherung geschaffen, geschlechtsspezifische Ungleichheiten bekämpft und gesellschaftliche Strukturen, die marginalisierte Bevölkerungsgruppen und Minderheiten daran hindern, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, verändert werden“. 

"Stärkere Kohärenz im politischen Handeln"

Im zweiten Bereich geht es um die Energiewende und den Klimaschutz, im Bereich Kreislaufwirtschaft darum, Wachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln mit dem Ziel, dass Konsum und Produktion den Planeten weniger belasten. Im Bereich Infrastruktur geht es um nachhaltiges Bauen und die Verkehrswende. Der fünfte Bereich widmet sich einer Politik für nachhaltige Agrar- und Ernährungssysteme und betrachtet die Zusammenhänge zwischen der Produktion von Rohstoffen, ihrer Verarbeitung, dem Transport, Konsum und Umgang mit Lebensmitteln. In der Praxis bedeute das, „die nationale, europäische und internationale Agrar-, Ernährungs-, Gesundheits- sowie Umwelt- und Klimapolitik gemeinsam zu denken“, heißt es dazu in der Strategie. Eine schadstofffreie Umwelt ist der sechste und letzte Transformationsbereich. 

Die Strategie verlangt nicht zuletzt eine „stärkere Kohärenz im politischen Handeln“. Genau das war nach Ansicht zivilgesellschaftlicher Organisationen bislang eine zentrale Schwäche deutscher Nachhaltigkeitspolitik. Unaufgelöste Zielkonflikte hätten Fortschritte behindert – wenn etwa Agrar- und Umweltressort unvereinbare Interessen vertreten. Für Mark Lawrence von der Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit gehört die schwache Führung zu den wesentlichen Mängeln. Im federführenden Bundeskanzleramt und den Ministerien müssten deshalb Ressourcen und Leitungskompetenz für Nachhaltigkeit dringend gestärkt werden.

Zielkonflikte ausfechten statt ignorieren

Der deutsche Zweig des Sustainable Development Solutions Network (SDSN) begrüßt zwar den Fokus auf Transformationsbereiche in der neuen Strategie. Doch auch die SDSN-Covorsitzenden Gesine Schwan und Anna-Katharina Hornidge werten die Regierungsführung (Governance) zur Umsetzung der Strategie als unzureichend. Sie plädieren dafür, dass der Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung noch in dieser Legislaturperiode eine politische Erklärung verabschiedet und Weichen stellt für einen „Grundsatzbeschluss“ nach den Bundestagswahlen. Zudem sollen die Ministerien bilanzieren und der Staatssekretärsausschuss veröffentlichen, in welchen Politikbereichen sie nicht auf Kurs sind.

Mehr Handlungsdruck fordert Imme Scholz, die Vizevorsitzende des Rates für Nachhaltige Entwicklung. Zielkonflikte müssten ausgefochten, Kooperationsansätze beschlossen werden – und nach den Bundestagswahlen im Herbst müssten etwa in Koalitionsverhandlungen ambitionierte Wegmarken gesetzt werden. Scholz hält zudem die globale Dimension in der Strategie für unterbelichtet. Sofern es darin um die internationale Zusammenarbeit geht, zielt das zwar grundsätzlich auch auf die Außen- und Handelspolitik. Schon der Kampf gegen die Corona-Krise weltweit sollte laut Scholz aber viel stärker mit der Nachhaltigkeitsstrategie verknüpft werden. 

Ausgestaltung an vielen Stellen schwach

Anna-Katharina Hornidge vom SDSN fordert, die Europäische Union müsse ihren Green Deal stärker zum Instrument für die Umsetzung der 2030-Agenda machen. Hornidge bemängelt außerdem, dass der milliardenschwere Aufbau- und Resilienzplan (DARP) der Bundesregierung zur Bewältigung der Corona-Krise keinen Bezug auf die Nachhaltigkeitsstrategie nimmt. Als Fortschritt hingegen bewertet sie einen neuen Indikator, um Konsum umwelt- und sozialverträglich zu gestalten. Damit werde in den Blick genommen, wie sich Konsummuster in Deutschland weltweit auswirken – allerdings ohne quantifizierte Ziele.

Wolfgang Lucht vom Umweltrat urteilt, die Nachhaltigkeitsstrategie werde insgesamt der historischen Dimension der Aufgabe nicht gerecht. Zwar habe die Bundesregierung die Strategie sinnvoll weiterentwickelt, aber die Ausgestaltung sei an vielen Stellen schwach. Man müsse eher von einer „Architekturskizze“ als von einem „Bauplan für Transformationen“ sprechen. Dabei geht es nach Ansicht von Lucht um Aufgaben vergleichbar der deutschen Einheit oder dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Zerstörung des Planeten schreite ungebremst voran, die Strategie behandele das aber nicht als globale Umweltkrise von historischem Ausmaß.

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