Die WTO ist tot – na und?

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Der Multilateralismus und seine Institutionen sind in der Krise und müssen gerettet werden, heißt es derzeit allenthalben. Gilt das auch für die Welthandelsorganisation WTO? Nein, denn die hatte vor allem ein Ziel: in den Entwicklungsländern wirtschaftlichen Fortschritt verhindern.

Bedaure ich, dass die Welthandelsorganisation WTO im Niedergang ist – jetzt, da Donald Trump mit einseitigen Handelsmaßnahmen wütet? Keineswegs. Für mich haben die multilaterale WTO und unilaterale Handelspolitik immer derselben Sache gedient: der Machtausübung der USA gegen Länder, die die Welthandelsordnung gerechter machen wollen.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren Multilateralismus und Unilateralismus alternative Strategien der USA für globale Vorherrschaft – bevorzugt von jeweils einer Fraktion der US-Eliten. Die Demokraten waren für Multilateralismus. Sie glaubten, er werde die Dominanz der USA in der Welthandelsordnung institutionalisieren und sie gleichzeitig besser legitimieren. Die Republikaner hingegen waren der Ansicht, dass die USA ihre Machtausübung so wenig wie möglich von globalen Regeln und Institutionen beschränken lassen sollten.

Zum Konflikt zwischen beiden Linien kam es 1948 in der Debatte über die Havanna-Charta, mit der die Internationale Handelsorganisation gegründet werden sollte. Die von den Demokraten gestellte US-Regierung unter Präsident Harry S. Truman handelte die Charta mit aus, legte sie dann aber nicht dem Senat zur Ratifizierung vor aus Sorge, die Republikaner würden sie dort blockieren. Diese erklärten eine Ratifizierung für verfassungswidrig, weil die Charta Vorrang vor der US-Verfassung beanspruchen würde.

Regeln als Hindernis für den Aufstieg der eigenen transnationalen Konzerne

Beide Parteien einigten sich dann auf einen Kompromiss: das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT). Es war deutlich schwächer als die Havanna-Charta, schränkte die Handelspraktiken der USA kaum ein und regelte nicht den Agrarhandel, in dem US-Unternehmen dominierten. Der Außenhandel trug damals nur wenig zum Sozialprodukt der USA bei. Daher war Washington nicht besorgt über das Fehlen starker Regeln für den Welthandel, sondern betrachtete solche Regeln als Hindernis für den Aufstieg der eigenen transnationalen Konzerne.

Autor

Walden Bello

ist Co-Vorsitzender des Vorstands von Focus on the Global South, einer aktivistischen Denkfabrik mit Sitz in Thailand. Er forscht zurzeit am Center of Southeast Asian Studies der Universität Kyoto und lehrt Soziologie an der State University of New York. Seine jüngsten Bücher sind „Revisiting and Reclaiming Deglobalization“ (2019) und „Counterrevolution: The Global Rise of the Far Right“ (2019).
Paradoxerweise ließ das GATT zu, was unter einem harten Freihandelsregime nicht möglich gewesen wäre: Einige Länder stiegen von kaum bedeutenden zu sehr wichtigen Teilnehmern am Welthandel auf. Das gelang vor allem ostasiatischen Ländern wie Malaysia, Südkorea und Taiwan – und zwar, indem sie aggressiv Exporte förderten und zugleich Industriezweige aufbauten, die sie mit hohen Zöllen und mit Quoten vor Importkonkurrenz schützten. Währenddessen wuchs der Anteil des Außenhandels am Sozialprodukt der USA; in den 1970er und 1980er Jahren wollten US-Konzerne den Abbau von Handelsschranken, um in Auslandsmärkte vordringen zu können.

Deshalb änderte Washington seine Haltung: Sowohl Demokraten als auch Republikaner drängten nun auf ein stärkeres globales Handelsregime. Sie waren zuversichtlich, dass dies vor allem US-Konzernen nutzen würde, die als die weltweit wettbewerbsfähigsten galten. Die Europäische Union schloss sich dem Drängen an, weil sie – ebenso wie die USA – ihre hohen Agrarüberschüsse zu Dumpingpreisen in Entwicklungsländern absetzen wollte. Zudem hatten führende Industriezweige in den USA, der EU und Japan – darunter die Auto- und Informationsindustrie – das gemeinsame Interesse, den Aufstieg neuer Wettbewerber in Ost- und Südostasien zu verhindern, indem die freie Aneignung von komplexer Technologie mit Handelsregeln verboten wurde.

Verhindert, dass USA und Europa den staatlichen Schutz für Kleinbauern über die WTO beseitigten

Das Ergebnis war die Gründung der WTO im Jahr 1995. Aus Sicht Washingtons war sie ein System von Regeln und Institutionen, das jene Strukturen des Welthandels fördern, stärken und legitimieren sollte, welche die Vorherrschaft der US-Interessen sicherten.

Die WTO predigte den Freihandel. Doch das wahre Ziel der drei wichtigsten neuen Abkommen unter dem Dach der WTO war es, Monopole zu errichten: Das Übereinkommen  über die Landwirtschaft zwang Entwicklungsländer, Einfuhrzölle zu senken und Einfuhrquoten abzuschaffen und sicherte so das Dumping der Überschüsse aus den USA und der EU im Süden. Das Übereinkommen über Geistiges Eigentum (TRIPs) sollte das Monopol der US-Konzerne auf Hochtechnologie sichern: Es verbietet Nachbau und andere von Entwicklungsländern genutzte Methoden, Zugang zu Wissen zu erhalten. Und das Übereinkommen über Handelsbezogene Investitionsmaßnahmen (TRIMs) sollte verhindern, dass weitere Länder dem Beispiel von Japan, Malaysia und Südkorea folgten und international wettbewerbsfähige Industrien aufbauten – zum Beispiel mit Vorschriften, dass ausländische Firmen mehr einheimische Vorprodukte nutzen.

Dann aber konnten die Entwicklungsländer dank des Gewichts von Indien, Brasilien und China im Jahr 2003 verhindern, dass die USA und Europa den staatlichen Schutz für Kleinbauern über die WTO beseitigten. Sie vereitelten auch Versuche, das bereits restriktive TRIPs-Abkommen weiter zu verschärfen und die Zuständigkeit der WTO auf Regeln für Investitionsschutz, öffentliche Beschaffung und Wettbewerbspolitik auszuweiten.

Das derzeitige handelspolitische Mischmasch ist vielleicht für den Süden der am wenigsten schlechte Zustand

Daraufhin verabschiedeten sich die USA vom multilateralen Weg. Als die Ministerrunde der WTO in Cancún 2003 gescheitert war, warnte der Vertreter für Handelsfragen der Regierung des republikanischen Präsidenten George W. Bush, Robert Zoellick: „Die USA werden nicht abwarten, während die WTO-Mitglieder sich Gedanken über die Zukunft machen: Wir werden mit Freihandelsabkommen mit Ländern vorangehen, die dazu fähig sind.“

n den folgenden fünf Jahren richteten die USA und die EU ihr Bestreben darauf, bilaterale Handelsabkommen oder begrenzte multilaterale wie die Trans-Pazifische Partnerschaft (TPP, ein nun gescheitertes Abkommen zwischen Pazifik­anrainern mit den USA und ohne China) zu schmieden, die Präsident Barack Obama favorisierte. Donald Trump hat also die Wendung zurück zum Unilateralismus nicht begonnen: Sie hat bereits unter Präsident George W. Bush begonnen, und Trump hat sie mit seinem Handelskrieg mit China nur zum Höhepunkt geführt.

Das Ergebnis: Das globale Handelsregime ist ein Mischmasch aus einer geschwächten WTO, gescheiterten Abkommen wie dem TPP, stockenden Verhandlungen über andere wie die Umfassende Regionale Wirtschaftspartnerschaft in Asien (daran beteiligt sich China, aber nicht die USA), Arrangements unter Entwicklungsländern wie Mercosur in Südamerika, bilateralen Abkommen wie dem Freihandelsvertrag zwischen den USA und Südkorea sowie informellen Initiativen.

Und das ist vielleicht das am wenigsten schlechte Ergebnis. In der Zeit des schwachen GATT-Regimes von 1948 bis 1995 hatten viele Entwicklungsländer großen politischen Spielraum für Entwicklung: Sie standen nicht unter dem Druck, ihre Agrar- und Industriemärkte zu öffnen, und es gab keine entwicklungsfeindlichen Regeln wie das TRIPs. Neoliberale Ideologen warnen, die heutigen Verhältnisse führten zu Chaos. Doch sie könnten sich stattdessen in Richtung auf ein hybrides, dem GATT ähnliches System entwickeln, das dem globalen Süden mehr Raum lässt als bisher, Anstrengungen für echte nachhaltige Entwicklung zu unternehmen.

Aus dem Englischen von Bernd Ludermann.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2019: Aufbruch am Horn von Afrika
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