Wie sind Sie zur Demokratiebewegung in Syrien gekommen?
Ich habe im Frühjahr 2011 bei den Demonstrationen mitgemacht, Graffitis an Wände gesprüht und solche Sachen gemacht. Wir hatten jeden Freitag ein Motto, etwa „Freitag des Zorns“ oder „Freitag der Freiheit“. Meine Heimatstadt Moadamiyeh nahe Damaskus war von Anfang an ziemlich aktiv in der Revolution. Traurige Berühmtheit erlangte sie im August 2013, als sie mit Giftgas angegriffen wurde.
Gibt es die Demokratiebewegung noch?
Die Lage hat sich völlig verändert. 2012 begann die Bewegung, sich besser zu organisieren. Die „Lokalen Räte“ begannen in den Regionen, die nicht von der Regierung kontrolliert wurden, Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheitsversorgung anzubieten. Die meisten Aktivisten waren gegen den bewaffneten Kampf, aber 2012 verübte das Regime in meiner Heimatstadt zwei Massaker – und das war der Moment, in dem die Revolution sich militarisiert hat. Das wurde nie bewusst entschieden, es ist einfach so gekommen.
Wer hat die Bewaffnung vorangetrieben?
Anfangs war das eine säkulare Bewegung, aber das änderte sich bald. Als die Revolution losging, hat die Regierung alle religiösen Extremisten freigelassen und gleichzeitig Journalisten, Politiker und Menschenrechtler ins Gefängnis gesteckt und gefoltert. Es gibt aber noch eine zivile Bewegung. Nehmen Sie die Stadt Maarrat al-Nu’man in der Region Idlib als Beispiel: Dort haben die Einwohner im vergangenen Jahr gegen die al-Nusra-Front demonstriert und sie aufgefordert Gefangene freizulassen und aus der Gegend zu verschwinden.
Welche Rollen spielen die „Lokalen Räte“ heute?
Das ist von Region zu Region unterschiedlich. In Idlib und einigen anderen Regionen konnten sie in den vergangenen Jahren sogar Wahlen durchführen. Einige der Räte sind finanziell unabhängig und betreiben etwa Anlagen zur Wasserversorgung, für die die Bürger eine kleine Gebühr zahlen. Aber die meisten Mitglieder der Räte arbeiten ehrenamtlich. In manchen Gegenden werden sie von internationalen Hilfsorganisationen unterstützt.
Könnten die Räte bei der Suche nach einer Lösung des Konflikts eine Rolle spielen?
Die Räte machen keine politische Arbeit. Nach meinem Verständnis sind sie an Entscheidungen oberhalb der lokalen Ebene nicht beteiligt. Sie arbeiten auf der Graswurzelebene und sind sehr nah dran an den Leuten. Wenn sie auf höherer Ebene an Verhandlungen teilnähmen, dann würden sie diese Rolle verlieren. Ihre Arbeit ist sehr wichtig und dafür brauchen sie die Legitimität vor Ort. Sie könnten eventuell Druck auf Entscheidungsträger ausüben, indem sie zum Beispiel mit Kommunen oder anderen Graswurzelinitiativen im Ausland kooperieren, die ihrerseits Druck machen könnten auf Entscheidungsträger und Geldgeber.
Gibt es eine Zukunft für Syrien mit Assad an der Macht?
Für mich, für viele meiner Freunde und für alle, die ihre Häuser, ihre Kinder und ihre Familien verloren haben, verheißt der Gedanke, dass Assad an der Macht bleibt, eine finstere Zukunft. Denn das Assad-Regime ist verantwortlich für all das. Ich versuche gar nicht so viel über mögliche Entwicklungen nachzudenken. Stattdessen versuche ich, durch meine Arbeit, mehr Druck auszuüben auf die internationale Gemeinschaft und insbesondere Europa, dass sie den Schutz von Zivilisten an die erste Stelle setzen und die Leute zur Verantwortung ziehen, die in Syrien Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt haben. Erst dann kann es Gespräche über eine politische Lösung in Syrien geben.
Was erwarten Sie außerdem von Europa?
Um ehrlich zu sein: Ich bin ziemlich enttäuscht von der europäischen Syrienpolitik. Selbst der Giftgasangriff auf Ost-Ghuta im März hatte keine Folgen. Es ist deprimierend, dass nicht einmal Angriffe mit Chemiewaffen internationale Aufmerksamkeit erregen. Die Europäische Union tut nicht viel, um irgendwelche Erwartungen an sie zu haben.
Und was denken Sie in dieser Hinsicht über die europäische Zivilgesellschaft?
Die Menschen begegnen mir mit Sympathie und Empathie, aber wir brauchen Taten. Ich denke, die meisten wissen nichts über die Lage in Syrien. In Berlin lebe ich mit Menschen aus verschiedenen Ländern zusammen, aber wenn ich diese Blase verlasse, bin ich schockiert. Ich kann nicht erkennen, dass den Deutschen wirklich klar ist, was in Syrien los ist. Mein Eindruck ist, dass sie denken: Okay, Assad ist wirklich übel, aber der IS und andere Terroristen sind auch wirklich übel. Also halten wir uns lieber raus. Wir sind in Sicherheit, uns geht es gut. Syrien ist weit weg, wir haben nichts damit zu tun.
Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.
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