Der Aufstand in Syrien begann im März 2011, relativ spät in der Serie der Erhebungen des Arabischen Frühlings seit Dezember 2010. Proteste brachen hier gleichzeitig in zwei Städten aus: In Daraa schoss die Polizei in eine Menschenmenge, in der sich auch Eltern befanden, deren Kinder wegen regimekritischer Graffiti verhaftet worden waren. In Baniyas kam es zu Protesten, als die säkulare Regierung gegen Lehrerinnen vorging, die den Niqab trugen, die syrische Version des Schleiers. In beiden Städten prangerten die Demonstranten bald auch die Brutalität des Regimes, den Mangel an Demokratie und die Korruption an. Als Sicherheitskräfte die Proteste eilig einzudämmen versuchten, sprangen sie von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf über.
Am Anfang verließ sich das Regime – so wie andere Staaten der Region – stark auf Polizeikräfte, um den Aufstand zu ersticken. Die Polizei löste Demonstrationen auf und verhaftete Teilnehmer. Das konnte aber die Ausbreitung der Proteste nicht verhindern. Doch als klar wurde, dass der Widerstand nicht gebrochen werden konnte, indem leicht bewaffnete Sicherheitskräfte Widerstandsnester isolierten und bestraften, fuhr das Regime Anfang 2012 schwere Geschütze auf – und zwar wörtlich: Es übertrug die Aufstandsbekämpfung den Streitkräften. Die setzten Panzer, Kampfhubschrauber, Artillerie, Mörser, schwere Maschinengewehre und Scharfschützen ein, um ganze Städte und Stadtviertel von der Außenwelt abzuschneiden. Viele legten sie in Schutt und Asche, bevor sie sie stürmten.
Das zwang auch den Aufstand, sich zu militarisieren. Belagerte und bombardierte Gemeinden bildeten lokale Milizen – hauptsächlich aus Deserteuren –, um friedliche Demonstranten zu schützen. Die Trupps sahen sich jedoch oft gezwungen, sich aus ihren Vierteln zurückzuziehen, umzugruppieren und zu kämpfen, wo immer das Regime eine Schwachstelle zeigte. Damit löste sich die enge Verbindung zwischen lokalen Milizen und Zivilisten; die Kampfeinheiten, die aus den Milizen entstanden, beschränkten ihre Kriegführung nicht mehr. So verloren die Zivilisten die Kontrolle über den Aufstand, und in der Opposition gewannen die Kämpfer die Oberhand.
Die Strategie des Regimes ging auf
Das Regime verfolgte zusätzlich die Strategie, die Bevölkerung nach Religionsgruppen zu spalten. Es wurde zwar mit der Minderheit der Alewiten identifiziert, aus der die Führungskräfte in Regierung und Militär stammten, aber religiöse Spannungen hatten für den Aufstand zu Beginn keine Rolle gespielt. Die Demonstranten, mehrheitlich Sunniten, wollten vor allem das brutale und korrupte Regime loswerden.
Doch dieses spaltete nun bewusst die syrische Gesellschaft und den Aufstand in rivalisierende Gruppen. Dazu brandmarkte es Regimegegner als Islamisten, Terroristen, Dschihadisten und Agenten Saudi-Arabiens. Es entließ seinerseits Islamisten und Dschihadisten – auch solche mit Verbindungen zu al-Qaida – aus den Gefängnissen, so dass sie sich der Opposition anschließen konnten. Es organisierte und bewaffnete regimetreue Bürgerwehren, die unbewaffnete Demonstranten sowie Stadtviertel der Sunniten und ihre Moscheen angriffen. Und es ließ die gefürchteten Schabiha-Milizen los – im Ninja-Stil gekleidete alewitische Schlägertruppen, die sich aus Assads Heimatstadt Damaskus und deren Umgebung rekrutieren –, um Racheakte von Sunniten zu provozieren. Der Plan der Regierung ging auf: Teile der Minderheiten schlugen sich aus Angst auf die Seite des Regimes, während ausländische Islamisten und Dschihadisten eingriffen, um die Regierung zu stürzen.
Als weitere Komplikation kam hinzu, dass auf Seiten der Regierung wie der Opposition Mächte von außen in den Bürgerkrieg eingriffen. Russland, der Iran und die libanesische Islamistengruppe Hisbollah schalteten sich auf der Seite des Regimes ein. Alle drei haben ein Interesse daran, dass es überlebt. Für Russland und den Iran ist Syrien ein alter, verlässlicher Verbündeter in der arabischen Welt. Über das Land kann Russland auf den Nahen Osten einwirken und der Iran auf die arabische Welt. Syrien bietet dem Iran außerdem eine Landbrücke, über die Teheran die Hisbollah als Unruhestifter gegen Israel unterstützen und so sein Image als Kämpfer gegen den Imperialismus pflegen kann.
Die USA und der übrige Westen, Saudi-Arabien und die Golfstaaten sowie die Türkei haben in unterschiedlichem Ausmaß die Opposition unterstützt. Alle wollen bei der Gestaltung der Zukunft Syriens ein Wörtchen mitreden können für den Fall, dass die Opposition den Sieg davonträgt. Aber sie haben ganz verschiedene Vorstellungen von dieser Zukunft. Die USA und der Westen zum Beispiel möchten das derzeitige syrische Regime durch ein prowestliches (und vielleicht auch demokratisches) ersetzt sehen. Saudi-Arabien und seine Verbündeten am Golf hingegen unterstützen die islamistische Opposition. Als Folge dieser Uneinigkeit ist das Bündnis hinter dem Regime, dessen Ziel klar ist – das Überleben des Regimes –, erfolgreicher als die Seite der Opposition.
Dass der syrische Bürgerkrieg ein Stellvertreterkrieg geworden ist, macht es schwierig, wenn nicht unmöglich, ihn am Verhandlungstisch beizulegen. Politikwissenschaftler erklären, dass Verhandlungen zwischen Bürgerkriegsparteien nur dann die Kämpfe beenden können, wenn alle Parteien einen Sieg auf dem Schlachtfeld für unmöglich halten und denken, dass die Fortsetzung des Krieges ihnen selbst ebenso schadet wie dem Gegner. Mit anderen Worten: Es muss eine für alle Konfliktparteien nachteilige Pattsituation eintreten.
Droht eine Seite zu verlieren, ruft sie ihre ausländischen Patrone zur Hilfe
Und die Einmischung ausländischer Kräfte in einen Bürgerkrieg erschwert das sehr. Droht eine Seite zu verlieren, dann wendet sie sich an ihre ausländischen Patrone, um das Blatt wieder zu wenden. Und die helfen in der Regel gern. Für sie geht es ja nicht nur um Sieg oder Niederlage ihres Stellvertreters, sondern um Interessen in einen größeren Kontext, wegen der sie überhaupt in den fremden Krieg eingegriffen haben. So ist für Saudi-Arabien und den Iran der Syrienkonflikt nur eine der Fronten im Kampf um Vorherrschaft in der Region. Wenn ihre Stellvertreter schwächeln, erhöhen sie die Unterstützung, worauf die Gegenseite nachzieht. Das macht den syrischen Bürgerkrieg nicht nur blutiger, es verlängert ihn auch.
Im Verlauf des Krieges schien mal die Regierung, mal die Opposition im Vorteil. Anfang 2015 herrschte ein Patt. Dann errichteten die USA und Saudi-Arabien das erste „militärische Operationszentrum“ im Süden Syriens, um die Unterstützung für diverse Milizen sowie deren Kämpfe zu koordinieren. Andere Milizen kopierten diese Operationszentren, und im Sommer 2015 warfen Oppositionskämpfer die Regierungstruppen auf eine schmale Verteidigungslinie zwischen Damaskus und Aleppo zurück.
In dieser Situation bat der syrische Präsident Baschar al-Assad den russischen Präsidenten Wladimir Putin um mehr Militärhilfe. Putin ordnete Luft- und Artillerieunterstützung für die syrische Regierung an. Die Russen starteten eine große, rücksichtslose Bombardierungsoffensive, die nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern unterschied und ganze Stadtblöcke in Schutt und Asche legte. Zusammen mit mehr iranischer Unterstützung konnte das Regime so wieder in die Offensive kommen. Die Opposition verlor mit Aleppo ihre größte Hochburg und wird sich davon wahrscheinlich nie mehr richtig erholen.
Dass auf dem Schlachtfeld nun das Regime und seine Unterstützer im Vorteil sind, macht eine Verhandlungslösung unwahrscheinlich. Daran dürften weder die Verhandlungen unter dem Dach der UN in Genf viel ändern, die bald fünf erfolglose Runden durchlaufen haben, noch der neuere Astana-Prozess: In Kasachstans Hauptstadt wollten Russland, der Iran, die Türkei und zuletzt auch die USA „Deeskalationszonen“ beschließen und so erste Schritte zu einer umfassenden Friedenslösung unternehmen.
Doch wenn eine Verhandlungslösung unwahrscheinlich ist, wozu wird der Bürgerkrieg dann wahrscheinlich führen? Da es ein Stellvertreterkrieg ist, dürfte weder die eine noch die andere Seite einen vollständigen Sieg davontragen. Eine Aufteilung Syriens wünschen nur wenige Syrer und nur wenige Beteiligte außerhalb. Sie könnten sich ohnehin nicht einigen, wie man die bewirken und wie die neue Landkarte aussehen sollte. Diese beiden Möglichkeiten kann man ausschließen. Das wahrscheinlichste Szenario für Syriens Zukunft ist daher, dass das Regime seine Position weiter festigen, aber nicht auf das gesamte Land ausweiten wird.
Die Machthaber und ihre Verbündeten profitieren von der Kriegswirtschaft
Dafür gibt es vier Gründe. Erstens haben zu viele Oppositionsfraktionen zu viel zu verlieren, wenn sie die Waffen niederlegen. Regimegegner, die seit sieben Jahren die Brutalität des Regimes zu spüren bekommen, werden sich kaum jetzt seiner Gnade ausliefern. Schon früher hatten sie für Amnestieangebote der Regierung nur Verachtung übrig, und das wird so bleiben. Die Kurden, die im Norden und Osten Syriens große Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht haben, gehören formell nicht zur Opposition; aber auch sie werden wahrscheinlich das Erkämpfte nicht aufgeben, zumal sie jetzt auch von den türkischen Streitkräften angegriffen werden.
Zweitens ist die Regierung zu schwach. Die meisten Gebietsgewinne der Regierung haben in den vergangenen zwei Jahren die Hisbollah, iranische Einheiten, von den Iranern ausgebildete und kontrollierte Milizen sowie private Milizen erstritten – nicht die Regierungstruppen. Deren Reihen haben sich durch Desertion und Verluste stark gelichtet.
Drittens operiert die große Mehrzahl der Oppositionsgruppen in nur einer oder zwei Provinzen Syriens. Dies ist ein Zeichen, dass es sich um lokale Kräfte unter dem Befehl lokaler Machthaber handelt. Sie haben sechs Jahre lang unter verminderter Regierungskontrolle gelebt und werden wahrscheinlich ihre hart erstrittene Autonomie nicht kampflos aufgeben. Zudem genießen diese Machthaber und ihre Verbündeten jetzt die Vorteile einer Kriegswirtschaft. Die Arbeitslosigkeit in Syrien liegt bei rund 58 Prozent. Bis zu einem Drittel derer, die Arbeit haben, sind in der Kriegswirtschaft beschäftigt, die von den lokalen Potentaten kontrolliert wird. Sie erzielen ihr Einkommen, indem sie sich Milizen anschließen, Öl schmuggeln, sich am Handel mit Drogen und Antiquitäten beteiligen, Kämpfer für Schutzgelderpressungen zur Verfügung stellen und ähnliches. Für sie würde die Eingliederung in eine Friedenswirtschaft ein hohes Risiko bedeuten, zumal diese vor Beginn des Aufstands schon sehr schwach war.
Eine Regierung, die nur über einen Teil des Staatsgebiets herrscht.
Schließlich wird viertens die Hilfe von außen für die Opposition zwar wegen Ermüdung der Geber und logistischen Problemen sicher sinken; so haben die USA ihr geheimes Programm zur Versorgung der Opposition mit Waffen und Hilfsgütern im Juli 2017 beendet. Aber sie wird nicht ganz eingestellt werden. Schließlich können die Unterstützer der Regimegegner so mit geringen Kosten die syrische Regierung, die Russen, Iraner und die Hisbollah in endlose Aufstandsbekämpfung verstricken. Im Ergebnis wird die Opposition nicht aus reiner Erschöpfung aufgeben müssen.
Autor
James L. Gelvin
ist Professor für Geschichte an der University of California in Los Angeles (USA).So wird das Regime einen zweifelhaften Sieg erringen. Aber um welchen Preis? Syrien wird nicht so bald wieder aufgebaut werden, vielleicht nie mehr. Der Schaden ist zu groß: Über eine halbe Million Menschen sind im Krieg ums Leben gekommen, mehr als zwei Millionen verwundet worden. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist in andere Landesteile oder ins Ausland geflohen. Und fast 70 Prozent der Syrer leben jetzt in extremer Armut, das heißt sie können ihre Grundbedürfnisse nicht decken. Der Schaden an der Infrastruktur beträgt nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds zwischen 180 und 200 Milliarden US-Dollar. Den Wiederaufbau können Russland und der Iran nicht finanzieren und die USA, Europa, Saudi-Arabien und die Golfstaaten werden kaum bereit sein, dafür zu zahlen, dass die syrische Regierung der Opposition an Brutalität überlegen ist.
Schließlich wird auch die Krise um die syrischen Flüchtlinge ungelöst bleiben. Ein Jahr nachdem die Europäische Union und die Türkei 2016 ein Flüchtlingsabkommen ausgehandelt haben, sind nur 3500 syrische Flüchtlinge aus der Türkei nach Europa umgesiedelt worden. Und seit Unterzeichnung des Abkommens ist es für europäische Politiker noch schwieriger geworden, für die Aufnahme von Flüchtlingen einzutreten. Das Schicksal zahlreicher syrischer Flüchtlinge dürfte dem der palästinensischen ähneln, die nun schon seit siebzig Jahren in Lagern leben – und es ist kein Ende ihrer Leiden in Sicht.
Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.
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