Mohamed Abdullah muss irgendwann im vergangenen Jahr nach Europa gekommen sein. Ein Foto zeigt den 31-jährigen Syrer lächelnd auf einem Parkplatz in Stockholm. Es soll damals auf seiner Facebook-Seite gestanden haben, ist inzwischen aber gelöscht. Zuordnen ließ sich das Bild mit Hilfe einer im Hintergrund aufgenommenen Telefonnummer. Ein harmloses Foto wie tausend andere, die Flüchtlinge nach ihrer Ankunft in Europa hochladen – eine Nachricht, dass sie es geschafft haben, der Beginn eines neuen Lebens.
Es gab aber auch andere Aufnahmen: Sie stammen aus Abdullahs Vergangenheit und wurden im vergangenen November von Aktivisten und Syrien-Flüchtlingen in Umlauf gebracht. Auf einer steht er mit seinem Stiefel auf einem Toten in Zivilkleidung, der von weiteren Leichen umgeben ist. Abdullah schaut direkt in die Kamera, sein Gesicht ist zu einem grausigen Grinsen verzerrt.
Ein weiteres Bild zeigt an Abdullahs linkem Arm das Abzeichen einer Sondereinheit, die ihn als Mitglied der Division 14 ausweist, wie syrische Aktivisten sagen. Diese Einheit soll 2012 bei der Belagerung der Stadt Homs Gräueltaten verübt haben. Ins Netz gestellt hat die Bilder die von Syrern betriebene Webseite Mujremon. Ammar*, ein palästinensischer Flüchtling aus Syrien, der heute in Schweden lebt, hat sie über Twitter verbreitet – mit der Bitte an andere Syrer im Land, dabei zu helfen, Abdullah zu finden und bei den schwedischen Behörden anzuzeigen.
„Es war ein Riesenschock für mich“, begründet Ammar seine Entscheidung. „Der Typ postete ein Foto, das ganz klar zeigte, dass er in Schweden war. Und auf dem anderen Bild posierte er ganz offensichtlich vor Leichen, und schien stolz darauf. Jetzt ist dieser Kerl in Schweden, fährt wie alle anderen mit der U-Bahn und beantragt wie sie Asyl. Dabei haben Menschen wie er diese Krise verursacht.“ Ein anderer in Schweden lebender Syrer nahm wegen Abdullah Kontakt zur dortigen Staatsanwaltschaft auf. Drei oder vier Monate nachdem er das Bild erstmals gepostet hatte, bekam Ammar einen Anruf von der Polizei. Sie habe ihn gebeten, Zeugen zu finden, berichtet er.
Abdullah wurde aufgespürt und im Februar in Stockholm vor Gericht gestellt – wegen Kriegsverbrechen, die er zwischen 2012 und 2015 begangen haben soll. Laut Berichten gab er zu, für das syrische Regime gearbeitet zu haben. Aber er leugnete, jemals ein Kämpfer gewesen zu sein. Schließlich wurde das Verfahren wegen Mangels an Beweisen eingestellt. Im März kam Abdullah frei; wo er sich jetzt aufhält, ist nicht bekannt.
Abdullah ist kein Einzelfall. Der britische Journalist, Aktivist und Filmemacher Ben Davies begann vor einem halben Jahr, Fälle angeblicher syrischer Kriegsverbrecher zu dokumentieren, die es nach Europa geschafft haben. Sein Blog zeigt Dutzende von ihnen, doch er schätzt, insgesamt könnten es bis zu 2000 sein. Auf einem der Bilder des Blogs ist ein Soldat der syrischen Armee zu sehen. Als Frontkämpfer war er bei einem Fototermin mit Präsident Baschar al-Assad gefilmt worden. Ein anderes Foto zeigt einen Kämpfer der armenisch-christlichen Miliz aus Aleppo, der stolz seine Maschinenpistole in die Kamera hält. Beide Männer sind inzwischen vermutlich in Deutschland.
„Manchmal spüre ich selbst jemanden auf, indem ich ihre Facebook-Seiten im Auge behalte und darauf achte, was sie tun. Oft aber haben Syrer diese Leute bereits ausfindig gemacht und bitten mich darum, sie bei der Verbreitung der Beweismittel zu unterstützen“, erklärt Davies. Syrische Flüchtlinge sollten sich in Europa sicher fühlen, betont er. „Aber wie können wir ihnen das Gefühl von Sicherheit geben, wenn wir uns nicht um die kümmern, die ihr Leid verursacht haben und ihnen jetzt folgen?“
Im Oktober 2013 traf sich eine Gruppe von Staatsanwälten, Ermittlern und Vertretern von nicht staatlichen Organisationen (NGO). Sie kamen aus der gesamten Europäischen Union (EU) zusammen, um sich mit der Lage in Syrien zu beschäftigen. Eingeladen hatte zu diesem Zweck das Netzwerk Völkermord, in dem Staatsanwälte und Fachleute aus EU-Mitgliedstaaten Informationen, Fälle und Best-Practice-Beispiele bei der Verfolgung internationaler Verbrechen austauschen. Eines der Hauptziele dieses 2004 gegründeten Netzwerks ist die Bildung spezialisierter nationaler Einheiten zur Ermittlung und zur strafrechtlichen Verfolgung von Verbrechen wie Völkermord auf Grundlage einer allgemein gültigen Rechtsprechung.
Zu dem Treffen, das inzwischen einmal im Jahr stattfindet, kamen auch internationale Teams, die sich speziell mit Kriegsverbrechen in Syrien beschäftigen: der frühere Sonderbotschafter für Kriegsverbrechen des US-Außenministeriums, Stephen Rapp, sowie Vertreter von Human Rights Watch und der Kommission für Internationale Justiz und Verantwortung, die in den vergangenen vier Jahren mehr als 600.000 Regierungsdokumente aus Syrien zusammengetragen hat – darunter viele, die Ermittler und Überläufer des Regimes außer Landes geschmuggelt haben.
Wir haben damit gerechnet, dass der Konflikt in Syrien Folgen für die Gerichtsbarkeit in der EU haben würde“, erklärt Matevž Pezdirc, der das Sekretariat des Netzwerkes Völkermord in Den Haag leitet. „Es war schon damals absehbar, dass sich für uns wegen unserer räumlichen Nähe Fälle ergeben könnten.“ Das Netzwerk bereitete sich darauf vor, dass unter den zahlreichen Syrien-Flüchtlingen auch Überläufer, frühere Kämpfer und sogar Kriegsverbrecher sein würden. Europäische Staaten, deren Justiz bestimmte schwere Verbrechen unabhängig vom Tatort und von der Nationalität des Täters verfolgt, könnten sie dann auf europäischem Boden strafrechtlich belangen.
Drei Jahre später zahlen sich die Vorbereitungen allmählich aus. Seit dem ersten Treffen unter der Regie des Netzwerkes Völkermord sind Staatsanwälte und Ermittler einigen Verdächtigen aus Syrien auf den Fersen. Im Januar sagte Sigurd Moe, Leiter der Abteilung für Kriegsverbrechen bei der norwegischen Kriminalpolizei, gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, die Polizei sei dabei, „etwa 20 Individuen genauer zu beobachten und … zu prüfen, ob es eine Grundlage für die Aufnahme von Ermittlungen gibt.“
2000 Hinweise auf mutmaßliche Kriegsverbrecher
Ein Sprecher des deutschen Bundeskriminalamts (BKA), das für internationale Verbrechen zuständig ist, erklärte, die Zahl der Hinweise auf mutmaßliche Kriegsverbrecher, die von Migrationsbehörden und Asylsuchenden eingegangen sind, sei seit der beispiellosen Ankunftswelle im vergangenen Jahr „signifikant gestiegen“. Bis April 2016 seien mehr als 2000 solcher Hinweise eingegangen, und es wurden 13 Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Am 6. April hat die deutsche Polizei einen syrischen Staatsbürger festgenommen, dem Kriegsverbrechen zur Last gelegt werden. Laut Staatsanwaltschaft soll der 41-jährige Ibrahim Al F. eine Miliz mit 150 Kämpfern geleitet haben, die der Gruppierung Ghoraba as-Sham (Die Fremden von Syrien) in Aleppo angegliedert war. Er steht im Verdacht, im Herbst 2012 Zivilisten „grausam und unmenschlich“ behandelt und Menschen gefoltert zu haben, „die versucht haben, ihre Nachbarschaft vor Plünderungen zu schützen“.
Auch andere europäische Länder beginnen, syrische Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen. Im vergangenen Jahr verurteilte ein schwedisches Gericht Mohannad Droubi, einen früheren Kämpfer der freien syrischen Armee, zu fünf Jahren Haft, weil er 2012 einen Mann gefoltert hatte, der mutmaßlich den syrischen Regierungstruppen angehörte. Der Fall kam ins Rollen, nachdem ein Bekannter von Droubi von Syrien aus die Polizei auf ein Video des Foltervorgangs auf Facebook aufmerksam gemacht hatte. Die Stockholmer Staatsanwältin Reena Devgun erwartet, dass die Zahl der Hinweise auf mutmaßliche Kriegsverbrecher im kommenden Jahr zunimmt. „Wir glauben, es wird mehr Anzeigen geben – was aber nicht heißen muss, dass es zu mehr Verurteilungen kommt“, sagt sie.
Autor
Tom Rollins
ist freier Journalist in Kairo und schreibt vor allem über Flüchtlinge und Migration. Sein Beitrag ist im Original auf dem Internetportal www.irinnews.org erschienen. Die Verantwortung für die Übersetzung liegt bei welt-sichten.Nachrichten über die Anwesenheit mutmaßlicher syrischer Kriegsverbrecher auf europäischem Boden sind ein gefundenes Fressen für rechte und migrationsfeindliche Gruppen in ihrem Kampf gegen offene Grenzen für Asylsuchende. Tatsächlich aber sind die Anhaltspunkte gering, dass Leute wie Mohammed Abdullah ein Sicherheitsrisiko für Europa darstellen. Es ist nicht neu, dass eine – relativ kleine – Zahl mutmaßlicher Kriegsverbrecher aus dem Ausland nach Europa kommt. Doch die europäischen Behörden sind mittlerweile besser vorbereitet. „Es gibt inzwischen mehr Spezialeinheiten, größere Sensibilität, ein besseres Bewusstsein dafür“, sagt Pezdirc vom Netzwerk Völkermord. „Diese Strukturen fehlten in den 1990er Jahren. Wir haben jetzt günstigere Voraussetzungen für den Kampf gegen die Straflosigkeit.“
Staatsanwälte, Ermittler, Aktivisten und Flüchtlinge, die bei den Ermittlungen behilflich sind, haben nun zunehmend die internationale Gerechtigkeit im Blick und nicht mehr nur Sicherheitsprobleme oder Maßnahmen im Kampf gegen den Terror. Der palästinensische Syrer Ahmad aus dem Flüchtlingslager Yarmouk in Damaskus wartet in Nordeuropa auf seinen Asylbescheid. Er sagt, was ihm durch den Kopf geht, wenn er hört, dass frühere Kämpfer des Assad-Regimes in Europa Asyl beantragen: „Sie haben uns aus unseren Häusern vertrieben, haben die Leute bestohlen und getötet – und dann kommen sie hierher, um wie wir Asyl zu beantragen? Sie sind der Grund, warum wir geflohen sind.“
* Name geändert
Aus dem Englischen von Barbara Kochhan.
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