Wie soll es mit Indiens Entwicklung weitergehen? Über diese Frage wird viel diskutiert. In den kommenden zweieinhalb Jahrzehnten wird das Bevölkerungswachstum seinen höchsten Stand erreicht haben. Sollte das Land dann das Rad des Fortschritts zurückdrehen? Oder sollte es versuchen, weiter aufzuholen?
In knapp einem Drittel der indischen Dörfer und Städte haben die Menschen bereits den Weg eingeschlagen, der sich als erfolgreich erwiesen hat, um die Lebensqualität zu verbessern. Sie sind nun im zweiten Schritt dabei, ihn sozial und umweltverträglich gestalten. Doch der großen Mehrheit der Inder fehlt noch immer Strom zum Kochen, Licht, sauberes Trinkwasser und medizinische Versorgung. Sie haben keine schützenden Unterkünfte bei Naturkatastrophen und zu wenig Wissen, um sich an öffentlichen Debatten zu beteiligen.
Die Menschheit hat in den vergangenen Jahrhunderten große Fortschritte in ihren Fähigkeiten erzielt, die Hygiene und Gesundheit zu verbessern und das soziale Umfeld und die Natur zu schützen. Harte Arbeit und die Anstrengungen der Wissenschaft haben uns dorthin geführt. Auch Indien ist bereits auf diesem Weg. Es gibt keinen Grund, warum Menschen in den Armensiedlungen nicht die bewährten Kenntnisse nutzen sollten, die neue Technologien, eine angemessene Infrastruktur und eine moderne Energieversorgung ermöglichen. Aus Gründen der Gleichheit und Gerechtigkeit darf der großen Mehrheit von Indiens Bevölkerung der Fortschritt nicht verweigert werden. Je schneller wir die soziale Lücke schließen, desto schneller werden Frieden und Harmonie in der Gesellschaft einkehren, die auch der Umwelt zugutekommen.
Politik und Wissenschaft starren manchmal auf eher simple Zusammenhänge – etwa dass Armut zur Zerstörung der Umwelt führt oder die verschmutzte Luft beim Kochen in Innenräumen die Gesundheit von Frauen gefährdet. Das hat uns in den vergangenen vier bis fünf Jahrzehnten nicht wirklich weiter gebracht. Es hat Subventionsprogramme für moderne Brennstoffe gegeben, Initiativen zur Verteilung von sauberen Herden und Solarlampen sowie einige Pilotprojekte für die dezentrale Versorgung mit Solarenergie, die Hilfsorganisationen mit Unterstützung der Regierung durchgeführt haben. Ein tiefgreifender Wandel ist dadurch aber nicht eingetreten.
Fragwürdige Suche nach einem alternativen Weg
Es ist an der Zeit, die wirre Suche nach einem alternativen Wachstumsweg zu hinterfragen. Sie ist im Blick auf Effizienz und Gerechtigkeit höchst fragwürdig. Warum sollte sich Indien dem Wissen um die effiziente Flächennutzung beim Städtebau verweigern, nach dem auf einem kleinen Straßenabschnitt sämtliche Infrastruktur untergebracht werden kann: Rohre für die Wasserversorgung, Abwasserkanäle, Leitungen für Strom und Telekommunikation, Straßenbeleuchtung, darüber begrünte Alleen?
Es ist bekannt, wie man sauberes Trinkwasser gewinnen kann. Dennoch sterben in der großen Mehrzahl der indischen Dörfer und Städte noch immer Menschen an Krankheiten, die von verschmutztem Wasser verursacht wurden. Hauptursache für den Mangel an Trinkwasser ist das Fehlen eines Stromnetzes. Wie kann man da überhaupt diskutieren, ob man alle Dörfer ans Stromnetz anschließen soll? Der Traum von einem alternativen Entwicklungspfad handelt von Solarlampen in allen Haushalten und dezentraler Stromversorgung. Solche Versuche mögen ein paar Philanthropen zufriedengestellt und die Forschung zur Solartechnologie um einige Ergebnisse bereichert haben. Doch sie haben die Lebensqualität der meisten Inder nicht verbessert, sondern die Entwicklung um zwei bis drei Jahrzehnte verzögert.
Es ist absolut falsch, dass Inder nur drei Glühbirnen brauchen, um ihr Haus zu beleuchten, und damit zufrieden sind, weil ihre Ansprüche gering sind. Müssen denn die Nachzügler der Entwicklung weniger konsumieren, während in den reichen Ländern die Verschwendung von Lebensmitteln zum Lebensstil gehört? Dies sind Fragen der Gerechtigkeit.
Das Streben, etwas zu erreichen, und höhere Ansprüche fallen vielmehr dem Fehlen der Infrastruktur zum Opfer. In vielen Dörfern verderben Kartoffeln, Tomaten, Knoblauch, Zwiebeln, Gemüse und Obst, weil es keine Kühlhäuser gibt. Die Lebensmittelindustrie produziert dort nichts, weil es keine Stromanschlüsse gibt. So kommt niemand über ein Existenzminimum hinaus und der Tag endet bei Sonnenuntergang. Das hat nichts mit niedrigen Ansprüchen zu tun. Heiße Sommertage mit 40 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von 98 Prozent fordern Opfer an Leben und Leistungsfähigkeit. Nicht dass sich Inder keine klimatisierten Räume wünschten. Und es gibt keine ethische Begründung für die Ansicht, Inder, die es sich leisten können, dürften keine Klimaanlagen nutzen, weil das die globale Erwärmung verstärke. Und das ist nur die mindeste Voraussetzung für ein gutes Leben und für produktives Denken.
Nahrungsmittelsicherheit dank Forschung und Technik
Indien hat vor 50 Jahren bewiesen, wie mit Hilfe von Forschung und Technik Nahrungsmittelsicherheit erreicht werden kann. Dank verbesserter Bewässerungssysteme und moderner landwirtschaftlicher Geräte produziert das Land heute Dutzende hochwertige Sorten Reis, Getreide oder Mangos. Mit der richtigen politischen und wirtschaftlichen Strategie könnten damit nicht nur die eigene Bevölkerung, sondern auch große Teile vom Rest der Welt ernährt werden.
Es wird viel über die fatalen Folgen für die Qualität von Boden und Trinkwasser geredet. Doch das ist eine falsche Darstellung der Umweltprobleme: Sie rühren daher, dass zu wenig in das Management dieser Ressourcen investiert wird. Es lässt hoffen, dass Obstplantagen in einigen der übernutzten Flächen des Punjab den Nassreisanbau ersetzen, dass Tröpfchen-Bewässerung gegenüber dem Überfluten der Felder beliebter wird und dass der Gemüse- und Gartenbau mehr Geld einbringt und die Ernährung auf eine breitere Basis stellt.
Indiens Hunger nach Energie wird in den nächsten 20 Jahren steigen. Die Verbrennung von Kohle wird deshalb noch mindestens eine Dekade weiter ansteigen und, wenn sie dann sinkt, auch 2050 noch auf dem Niveau von 2012 sein. Wenn bis dahin die Freisetzung von Kohlendioxid gesenkt werden muss, muss man ernsthaft über Techniken zur seiner Abscheidung und Speicherung nachdenken. In 25 Jahren werden vermutlich fast 40 Prozent des gesamten Stroms aus Solar- und Windkraft gewonnen. Trotzdem würde es schwierig, den Weg zu mehr Atom- und Wasserkraft zu versperren, denn es wird sechs Mal mehr Strom erzeugt werden müssen als heute. Und diese Wachstumsrate ist nötig, nur um ein menschenwürdiges Leben für alle zu ermöglichen. Das ist noch weit entfernt von einem Lebensstil, bei dem etwa mehr Fleisch oder verarbeitete Produkte verzehrt werden; Inder essen heute rund fünf Kilo Fleisch pro Kopf und Jahr, in Deutschland sind es 80 und in den USA 120 Kilo.
Leistungsfähigkeit plus Gerechtigkeit
Die energieintensivsten Industrien Indiens sind fast gleichauf mit den technologischen Spitzenreitern. Der technische Fortschritt verspricht Leistungsfähigkeit und zugleich Gerechtigkeit. Energieeffiziente Haushaltsgeräte können Millionen von Menschen zusätzlich Dienste wie Kühlung zugänglich machen, ohne dass sich der Gesamtenergieverbrauch erhöht. Es gibt keinen Grund, warum die breite Masse in Indien nicht denselben Pfad der Entwicklung beschreiten sollte wie die Bevölkerung in den Industrieländern. Die Errungenschaften für das menschliche Wohl wie bessere Häuser, Arbeitsplätze und Gesundheitssysteme sollten nicht nur erhalten, sondern mit großem Nachdruck weiterverbreitet werden: Jetzt oder nie.
Wo steht Indien heute? Seine gesamte Stromerzeugung ist so hoch wie die Russlands und entspricht der Chinas im Jahr 1994. Weniger als zehn Prozent aller städtischen Haushalte besitzen ein Auto, Car-Sharing gehört zur Lebensart. 42 Prozent der Bevölkerung fahren noch immer Fahrrad, fast 35 Prozent der städtischen Haushalte besitzen einen Motorroller. Der Kohlendioxid-Ausstoß pro Kopf beträgt weniger als zwei Tonnen im Jahr, in den USA sind es siebzehn, in China fast sieben.
Autorin
Joyashree Roy
lehrt Wirtschaftswissenschaften an der Jadavpur Universität in Kalkutta.Aus dem Englischen von Hanna Pütz.
Joyashree Roy zählt zu den Unterzeichnern des „Ökomodernistischen Manifestes“, in dem 18 Wissenschaftler vornehmlich aus dem Norden den Einsatz moderner Technologien zur Lösung von Umwelt- und Ernährungskrisen fordern.
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