Scheinheiligkeit im Indischen Ozean

Nathacha Appanah: Das grüne Auge. Lenos, Basel 2021, 213 Seiten, 22 Euro

Nathacha Appanahs Roman, der in dem französischen Übersee-Département Mayotte spielt, zeichnet ein berührendes Bild von Menschen, die Opfer einer auf Abschottung und Ausschluss zielenden Migrationspolitik werden. 

Mayotte ist eine kleine Insel zwischen Mosambik und Madagaskar – ein Paradies mit grünen Palmen und weißen Stränden. Als französisches Übersee-Département ist Mayotte auch Teil der Europäischen Union. Für Menschen auf den umliegenden Inseln des Komoren-Archipels ist es ein Ort trügerischer Hoffnung auf eine bessere Zukunft – wenn nicht für sich selbst, so doch wenigstens für die eigenen Kinder. Viele riskieren ihr Leben auf der gefährlichen Überfahrt dorthin: Nacht für Nacht landen Flüchtlingsboote an den Stränden Mayottes. Manchmal spült die See die Leichen Ertrunkener an Land. Mayotte – das Lampedusa des Indischen Ozeans. 

Nathacha Appanah gibt mit ihrem Roman den Kindern und Jugendlichen auf Mayotte eine Stimme. Am Schicksal des 14-jährigen  Moïse zeigt sie, wie brutal und hoffnungslos das Leben für die ist, die nicht als EU-Bürgerin oder -Bürger geboren werden. Dabei gehört  Moïse noch zu den Glücklichen. Er hat einen französischen Pass und spricht akzentfrei Französisch. Seine leibliche Mutter war mit ihm als Baby von einer der Nachbarinseln nach Mayotte geflohen und hatte ihn der französischen Krankenschwester Marie anvertraut. Der Junge ist mit einem schwarzen und einem grünen Auge auf die Welt gekommen. Für Marie ist  Moïse ein Geschenk des Himmels. Weil sie keine Kinder bekommen kann, will sich ihr aus Mayotte stammender Mann schon seit langem von ihr trennen. Marie willigt in die Scheidung ein unter der Bedingung, dass ihr Mann vorher das Kind anerkennt. Sie zieht Moïse allein, aber wohlbehütet auf. 

Mit der Pubertät beginnt sich der Junge nach seiner eigentlichen Herkunft zu fragen. Als dunkelhäutiger Sohn einer weißen Mutter weiß er nicht, wohin er wirklich gehört. Als Marie plötzlich stirbt, ist er auf sich allein gestellt und sucht Zuflucht bei einer Straßengang in Gaza, dem Elendsviertel der Insel-Hauptstadt Mamoudzou. Aber auch doch gehört er nicht wirklich dazu. 

Auch die Sozialprojekte in den Elendsvierteln von Mayotte helfen nicht

Appanah schildert die Brutalität und Grausamkeit im Alltag der Menschen, die illegal auf EU-Boden leben und keinerlei Aussicht haben, an deren sozioökonomischen Errungenschaften und Chancen teilzuhaben. Auch die Sozialprojekte in den Elendsvierteln von Mayotte, für die Paris Geld locker macht, helfen da nicht. Die Figur des Sozialarbeiters Stéphane, der in Gaza ein Jugendzentrum aufbauen soll und dem sich Moïse zaghaft annähert, illustriert  die Scheinheiligkeit dieser Politik, die die strukturelle Gewalt keineswegs beenden kann. Auch Stéphane sitzt zwischen den Stühlen und scheitert am Ende. 

Die Autorin ist auf Mauritius geboren, hat indische Wurzeln und lebt seit vielen Jahren in Frankreich. Von 2008 bis 2010 lebte sie auf Mayotte. In ihrem Roman wirft sie Fragen zu Migration und Integration, Identität und Zugehörigkeit auf – nicht nur am Beispiel von  Moïse. Auch die hellhäutigen Marie, Stéphane und der Polizist Olivier, der Moïse nach dem Mord an dem Bandenchef Bruce in seiner Gefängniszelle trifft, wirken angesichts der ungleichen Verteilung von Chancen und Rechten verloren, hilflos und zweifelnd. Glücklich sind sie alle nicht.

Appanahs Roman berührt und stellt hochaktuelle Fragen, die nicht nur an den EU-Außengrenzen im Mittelmeer, auf dem Balkan oder an der polnisch-belarussischen Grenze auf Antworten warten. Das deckt einmal mehr die Scheinheiligkeit einer Migrationspolitik auf, die nichts anderes als Abschottung und Ausschluss kennt. Appanahs poetische, an Bildern reiche Sprache hilft, sich auf die entwürdigenden Abgründe dieser Seite von Europa einzulassen. Ein großer Roman!

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